Freitag, 31. August 2018

Belästigungen 15/2018: Der neue Pazifismus: Tunnelbuddeln und Brezensalzen für den Weltfrieden!

Um Dinge zu veranschaulichen, braucht man manchmal Vergleiche aus dem lebensweltlichen Alltag. Was zum Beispiel der Mensch als ganzes insgesamt so ist – wer sollte das begreifen, wenn man es ihm nicht mit einem trefflichen Vergleichsbild vor Augen führt?
Ich würde heute mal sagen: Der Mensch ist das Brezensalz der Erde. Es gibt ungeheure Massen davon, die unter ungeheurem Aufwand hergestellt werden und nur einen Zweck verfolgen und zugleich verfehlen: Sie sollen dem, der die Breze genießt, den Genuß versalzen und ihn dazu bringen, zu jedem einzelnen Exemplar des Gebäcks mindestens vier Maß Bier zu konsumieren, damit er sich nicht in ein Mittelding zwischen getrockneter Tomate und Salzhering verwandelt.
Das haut aber (unwissende Touristen ausgenommen) selten hin, weil der Brezenesser weiß, wie er die Selbstversalzung verhindern kann: Man rubbelt und kratzt einfach so lange an dem braunen Teigling herum, bis das weiße Gift weg ist. Das bröselt dann auf dem Boden herum, verbindet sich seiner wasserfreundlichen Natur gemäß mit dem Erdreich und wird eines fernen Tages dafür sorgen, daß München und sein Umland sich in Salt Lake City umbenennen dürften. Aber das ist ein anderes Thema.
Der Beruf des Brezensalzers ist grundsätzlich ein ehrenwerter. Im hypermodernen Sinne ist er das sogar noch mehr als sowieso, schließlich tut er nicht nur etwas, sorgt dafür, daß etwas vorangeht, die Umwelt verändert, das Wachstum dynamisiert und der Bierausstoß bayerischer Brauereien angekurbelt wird: Zusätzlich schafft er mit seiner Arbeit weitere Arbeit – die Einrichtung eines Bachelor- und Master-Studiengangs „Brezenentsalzung“ an der Münchner Universität wird sicherlich längst diskutiert, entsprechende Praktikumsstellen werden die „Arbeitsagenturen“ vermutlich demnächst zwangsanbieten.
Und das ist ein großer Segen, schließlich wissen wir seit der industriellen Revolution: Ohne Arbeit wird der Mensch vom Brezensalz der Erde zur Pest seiner selbst – er lungert herum, ergeht sich in verantwortungsloser Muße, gibt sich Freuden und Vergnügungen hin, die über Brezen- und Bierverzehr weit hinausgehen (selbigen aber auch umfassen), beschäftigt sich mit Sinnsucherei, Kunst und Philosophie und wird am Ende noch mindestens so weise, wie das ein großer Teil der anderen Tiere längst ist (die Ameise mal ausgeklammert, beim Weps gibt es Verdachtsmomente).
Oder aber er widmet sich seiner zweitprominentesten Beschäftigung, deren Folgen denen der Arbeit nicht unähnlich sind, kurzfristig aber noch viel katastrophaler ausfallen: dem Krieg. Der allerdings ist in der Bevölkerung noch unbeliebter als die Schufterei, drum muß die Propaganda entsprechend flammender wirken. Und so sehen wir uns momentan mal wieder einem Grölchor entfesselt schäumender „West“-„Medien“ ausgesetzt, die angesichts des eigentlich erfreulich harmonischen Zusammensitzens zweier Großmachtchefs (nennen wir sie P. und T.) in Helsinki überhaupt nicht mehr an sich halten können.
„Bizarr“, „autokratisch“, „kein Wort der Kritik“, „Menschenrechte“, „Annexion der Krim“, „Wahleinmischung“, „Giftstoffeinsatz in Salisbury“, „Giftgasmörder“, „Flugzeugabschuß“, „Hackerattacken“, „Trollarmeen“, „Einflußzonen“, „Kumpanei“, „Deals“, „Erpressung“, „Völkerrecht“, „Verschwörungstheorien“, „Katastrophe“, „Ungeheuerlichkeiten“, „Horror-Show“, „zum Gruseln“, zusammenfassend: „Warum sich die Europäer wieder fürchten müssen“ – das übliche Arsenal der Kampfbegriffe hagelte nur so heraus aus den transatlantischen Hetzrohren.
Da ist es nur logisch, daß sämtlichen Defiziten, Schuldenkrisen und milliardenfachem Armutselend zum Trotz die Hauptbemühung der NATO-Staaten darauf zielt, noch mehr noch wüstere Waffen anzuschaffen, mit Dauermanövern und Probekriegen die Welt zu terrorisieren und noch den friedlichsten Faulenzerhippie, der seine Tage fröhlich am Isarstrand verdöst, auf Kriegsdisziplin zu trimmen.
Das hatten wir so ähnlich schon mehrmals, und damit meine ich heute mal nicht die naheliegende Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, als Presse und Rundfunk mit bombigem Erfolg der gleichen Tätigkeit nachgingen und die Militärmaschinisten nicht mal davor zurückschreckten, den Englischen Garten zu Kriegszwecken mit einer Straße zu durchschneiden, aus der später eines der brutalsten Schlachtfelder des Autokriegs wurde – beschönigend „Isarring“ getauft.
Nein, ich meine die Zeit um 1789, als das bayerische Heer nach Ansicht von Fachleuten in desolatem Zustand war und man aber offenbar wenig Neigung verspürte, die Soldaten zum Massakrieren loszuschicken, damit sie nicht in der Gegend herumgammelten, den Bauern ihr Vieh und den Brauern ihr Bier wegfraßen bzw. -soffen.
Statt dessen kam ein scheint‘s nicht unkluger bayerischer Herrscher (der in Mannheim residierte, was seinem Geisteszustand aber offenbar nicht allzu abträglich war) auf die Idee, das verwilderte Marschiervolk geistig und körperlich auf Vordermann zu bringen, indem er sie mit Hacke, Schaufel und Spaten in die verstruppten Auen vor den nordöstlichen Stadttoren schickte und eben jenen Englischen Garten anlegen ließ. Der, 1792 endlich eröffnet, wurde ein großer Erfolg: „Alle Stände müssen sich also da versammlen und in langen bunten Reihen bewegen und die frohe Jugend unter ihnen hüpfen“, berichtete der königliche Hofgärtner.
Dem Krieg entging das Kleinparadies nicht gänzlich: Neben dem Embryo des Isarrings, das uns die üble Schlachterei hinterließ, brannte auch der Chinesische Turm 1944 nieder, wurde aber in einer Art Wiederholung der kurfürstlichen Bemühungen von der Münchner Bürgerschaft mit Geld und Arbeit, die ansonsten in die Kassen und Mühlen des „Kalten Kriegs“ geflossen wären, wiederaufgebaut, um keinem anderen Zweck als der radikalpazifistischen Belustigung durch Musik und Bier zu dienen.
Hierin schlummert Potential: Wie wäre es denn, den Kriegsfanatikern in den Redaktionsfabriken Mikrophone, Tastaturen und Druckmaschinen wegzunehmen, sie statt dessen mit Hacke, Schaufel und Spaten auszustatten und loszuschicken, damit sie einen Tunnel graben, in dem der vermaledeite Isarring, wenn wir ihn schon nicht loswerden, fürderhin wenigstens unterirdisch toben mag?
Es wäre ein Segen, für München und den Rest der Welt. Und wenn dann in einigen Jahren auch der Autokrieg unweigerlich zu Ende geht und niemand mehr die ganzen Tunnels braucht (es sei denn zum Bierkühlen), dann finden wir, nachdem sie das Getunnel wieder eingerissen oder in Schwammerlplantagen verwandelt haben, sicherlich eine neue sinnvolle Betätigung, um die Burschen vor einem Rückfall in die Kriegshetzerei zu bewahren. Zum Beispiel als Brezensalzer oder notfalls -entsalzer.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 12. August 2018

Frisch gepreßt #415: Die Nerven "Fake"


Der Widersinn ist dem Leben des Menschen als Grundprinzip und -bedingung eingepflanzt. Zum Beispiel A und K: Zwei Jahre lang galten sie in ihrem Kreis als Vorzeige- und Idealpaar, schätzten und liebten und kümmerten sich umeinander, lächelten ein Lächeln und lebten ein Leben, mit ein paar zwistigen Entsöhnungen hier und da und dann, die stets zuverlässig in noch mehr Versöhnung mündeten. Dann beschloß A, sie fühle sich eingeengt und es müsse auf der Welt noch mehr geben als Zufriedenheit, intellektuell-emotionalen Einklang und perfekten Sex.
Gab es auch: Unrast, Leere, Ratlosigkeit, Hoffnung und eine Serie von Versuchen, das Aufgegebene mit anderen in genau gleicher Form wiederherzustellen und erneut zu kündigen, was zu Beliebigkeit und der Erkenntnis führte, daß man … es weiter versuchen muß. K ging nach einer angemessenen Phase von abwechselnd sich überlappenden Trotz-, Trink- und Trauerwellen ähnliche Wege, jammerte einer Reihe zufälliger Bettbesucherinnen so lange vor, wie gemein und dumm das Leben und aber eigentlich nicht das Leben, sondern A sei, bis diese zuverlässig das Weite suchten und aufgrund unergründlicher Dispositionen beim nächsten Jammerer landeten.
Hin und wieder gingen A und K einen Kaffee trinken, plauderten über die Zustände und fanden es schade, daß alles so enden mußte und nicht wiederherzustellen war. Fragte man sie, wieso das ihrer Meinung nach so sei und weshalb sie es nicht einfach versuchten, erntete man verwunderte Blicke: weil das halt nicht gehe und der Mensch nun mal grundsätzlich und überhaupt nach vorne blicken müsse. Irgendwann – jeder weiß es, keiner glaubt es – ist man dann im camembertschen Sinne reif genug, um sich in Beruf und Arbeit vergeblich zu verwirklichen, endlich die Sinnsuche auf sich selbst umzuleiten und mit esoterischen Heilslehren die Leere zur Fülle zu erklären.
Andererseits: Wäre nicht der Widersinn so alles durchdringend, zöge er sich nicht als Borte um und als Schußfaden durchs Gewebe des Dasein, dann gäbe es Schallplatten wie diese nicht. „Finde niemals zu dir selbst!“ zum Beispiel „denkt“ Max Rieger „laut“ („manchmal“) und bringt mit dem Fahrtenmesser der Bösironie auf den Punkt, wo der Haken begraben ist. Ächz! Uff! Metaphernsalat! Das kommt heraus, wenn man versucht, zu umschreiben, was nicht zu umschreiben, sondern halt am besten zu hören und intuitiv zu begreifen ist: Songtexte, die wie eine Spritztüte der Begrifflichkeiten das diffuse Gewöll im eigenen Herzhirn zu perfekten Sentenzen formen. Ja, gut, ich hör schon auf.
Das ist nicht immer leicht zu ertragen, am ehesten noch in der dräuenden Halbbeliebigkeit der (eben!) immer „Neuen Wellen“ des Openers, der als eine Art kratziger Läufer im Eingangsflur liegt. Schon ist man drin, und nach dem zitierten lauten Gedanken haut „Frei“ mit metallischen Magenschwingern in sämtliche Kerben des Irrens und Wirrens von A, K und allen anderen: „Laß alles los! Gib alles frei!“, und am Ende stolpert der zerhackte Beat des Lebens als Skelett davon.
Es wird dann traurig, es wird buntgrau, besinnlich und pathetisch und zornig; es klingt selbstverständlich an an die großen Pfeiler der deutschsprachigen Schmerzpopmusik (Herrenmagazin und Findus). Es wölben sich gewaltige Bögen von entstellten, verwundeten, zerkrüppelten Melodien, Einsichten, neuen Fragen. „Alles falsch“, „Explosionen“, „Kann‘s nicht gestern sein?“, und wenn man den abschließenden Titelsong erreicht hat und in seiner ebenso epochalen wie alltäglich-banalen Elegie versinkt („Her mit euren Lügen, her mit eurem Leid!“), weiß man im Prinzip alles. Und nichts, weil: Was hilft‘s?
Doch, kann sein, es hilft was: A und K haben ein neues gemeinsames Lieblingsalbum, und die Blicke, die sie sich in den letzten Tagen zuwerfen, lassen ahnen, wenn nicht hoffen, daß es doch nicht mehr gibt und daß sie das eingesehen haben.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 5. August 2018

Belästigungen 14/2018: Wie ich mal wieder begriffen habe, daß der Mensch auch bloß ein Viech ist

Selbstversuch: raus aus dem inneren Exil, hinein in die Welt und einen ganzen Tag lang „auf dem laufenden“ bleiben, hinsichtlich was so passiert an Wichtigem, Skandalösem und so weiter!
Das geht am besten mit Nachrichten. Zum Glück betreibt der Bayerische Rundfunk einen eigenen Nachrichtensender, der selbst mit modernen Digitalradios einigermaßen verständlich empfänglich ist. Einschalten, und los geht‘s: „Bayern möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an der Grenze zurückweisen.“ So lautet die erste Meldung, und schon beginnt das Denken: Schlaue Idee! Da Deutschland zwar der größte Fluchtverursacher innerhalb der EU, aber zugleich nahtlos von „anderen EU-Ländern“ umgeben ist, kommt auf diese Weise kein einziger Flüchtling mehr auf deutschen Boden, und der durchschnittliche AfD-Nazi (der offenbar auch der deutsche Durchschnittsbürger ist, weil sich an seinen ideologischen Blähungen der gesamte Politikbetrieb des Landes abarbeitet) grunzt zufrieden.
Es gibt aber ja noch andere Themen, nicht wahr? Offenbar nicht. „B5 aktuell“ wiederholt „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an der Grenze zurückweisen“ in der folgenden Stunde circa zwölf-, gefühlt hundertmal (und das, by the way, noch tagelang), wahlweise mit „Bayern“, (öfter) „die CSU“ bzw. (immer öfter) „Seehofer“ als Anfang, dazwischen ein bißchen Sprachschaum über „Beratungen“ oder so.
Ein Blick in die Statistik zeigt: Die Zahl der Flüchtlinge, die noch in Deutschland ankommen, ist unerheblich. Also denkt man: Was soll‘s? Die wichtigen (oder wenigstens andere) Sachen werden schon gleich kommen. Kommen aber nicht. Unermüdlich mahlt die Mühle weiter: „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an der Grenze zurückweisen“. Ja, was möchten die denn zurückweisen, wenn da eh nichts kommt? Das erläutert zwischendurch ein Kommentator oder Experte. Zusammengefaßt: „Bla.“ Skandale? Probleme? Ereignisse? Vorkommnisse? Nichts dergleichen.
Doch, ein bisserl schon: Börsengeplapper; irgendwelche „Werte“ stehen gut oder nicht gut da, die Anlieger „zeigen sich“ wegen irgendwas „verunsichert“, „abwartend“ oder so. Eine Autobahnraststätte, heißt es, sei „wegen Sprengstoffverdacht“ geräumt worden. Ein Sprengstoff wurde dann aber nicht gefunden. Passiert ist also: nichts. Das gilt so ähnlich auch für den Atomkrieg und die Flüchtlinge, und so keimt in mir ein Verdacht: Im Radio wird offenbar nur gemeldet, was nicht passiert. Aber wozu? Klar – der Bürger muß wissen, was alles passieren könnte! Sprengstoff! Terror! Flüchtlinge! Apropos: „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind“, tönt es aus dem Hintergrund.
Weshalb sich der Bayerische Rundfunk solche Mühe gibt und dutzende Korrespondenten und Reporter bezahlt, um ein ganzes Tagesprogramm mit Fake News zu füllen, ist mir dennoch ein Rätsel. Aber wie soll man darüber nachdenken, wenn man schon wieder hören muß: „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an der Grenze zurückweisen“?
Derweil: werden Familien aus ihren Wohnungen geworfen, Städte bombardiert, Stadtteile in Luxusburgen verwandelt, denkmalgeschützte Häuser abgerissen, Landschaften vergiftet, asphaltiert und zubetoniert, Schaufenster von Immobilienhändlern eingeschlagen, Baumaschinen angezündet, Menschen entlassen, vertrieben, mißhandelt, beleidigt, verelendet, krank gemacht, verurteilt, ausgebeutet, gedemütigt, auf Autobahnen zerquetscht und zerfetzt (das immerhin führt gelegentlich zu der gleichgültigen Mitteilung „Zwischen X und Y acht Kilometer stockend“), werden Lebensmittel vernichtet, Pflanzen verpestet, Tiere mißhandelt, getötet, zerwurstet, artenweise ausgerottet, Grundnahrungsmittel patentiert, Wasserquellen privatisiert, und all das, dieser größte Skandal der Weltgeschichte, den wir behelfsmäßig „Kapitalismus“ nennen, weil wir kein passendes Wort dafür finden, spielt sich ununterbrochen direkt vor unseren Augen ab. Und der Rundfunk meldet: „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem EU-Land registriert sind ...“
Da bleibt am Ende nur: die Flucht. Und zwar weg von Menschen und ihren Nachrichtenmaschinen, bevor das Gehirn in den Lähmungszustand verfällt, den wir von den Gesichtern namenloser Autoinsassen und Karrierearbeiter kennen. Es dauert eine Weile, bis sich der geistige Giftnebel lüftet und endlich verzieht. Dann hört man zwar noch das infernalische Röhren des Mittleren Rings, der den ganzen Skandal symbolisch verkörpert, aber nur noch aus der Ferne und wenigstens momentweise übertönt vom lieblichen Gezwitscher der Vögel, die zum Beispiel melden: „Tschilp! Tirili tröt brätirrri rilirirrrötilari!“
Was das heißt, können wir mangels Sprachkenntnis nur ahnen. Ist auch egal, weil vor allem idyllisch und schön. Allerdings fällt nach einiger Zeit etwas Merkwürdiges auf: „Tschilp! Tirili tröt brätirrri rilirirrrötilari!“ ertönt ohne große Variation immer wieder, im Fünfminutentakt; auch die Antworten der anderen gleichen sich: „Krah! Krah! Piep! Piep! Krah! Piep!“ Das wird irgendwann doch verdächtig: Kann es sein, daß sich der Vogel (als solcher) unbemerkt in einen Menschen verwandelt hat und „Tschilp! Tirili tröt brätirrri rilirirrrötilari!“ im wesentlichen nichts anderes heißt als „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden, an der Grenze zurückweisen“?
Oder ist der seltsame Vorgang nur mal wieder ein Beweis für die alte These, daß auch der Mensch nur ein Teil des Tierreichs ist und deswegen – so wie der Hund bellt, die Katze jault, die Kuh muht, das Pferd wiehert und der Hahn kräht – von Zeit zu Zeit seinen Signalruf ausstoßen muß, der eben zufällig so ähnlich klingt wie „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden, an der Grenze zurückweisen“?
Wir wissen es nicht. Und weil es in der ganzen Welt offensichtlich keinerlei Quelle für irgendwelche Informationen gibt, die über Signalrufe hinausgehen, werden wir es wohl auch nie erfahren.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.

Donnerstag, 2. August 2018

Frisch gepreßt #414: Manic Street Preachers "Resistance Is Futile"


Ein Vierteljahrhundert: Baby, die Zeit ist eine Hure! Damals war das so: hat jemand von unserem Label angerufen und gesagt, da kommt eine walisische Band auf Deutschlandtournee, die suchen grad noch eine Vorgruppe, weil der mächtige Sony-Konzern kein Geld lockermachen wollte, um irgendwen mitzuschicken von seinem hoffnungsvollen Nachwuchs (den es sowieso nicht gab: Es war die Zeit vor Britpop, high time for Grebo, man!). Es war auch die Zeit vor Mails und Internet, vor SMS und Files. Und vor unserem neuen Album, das wir also nicht per live „promoten“ hätten können (doch, das tat man damals so, nicht umgekehrt!).
Aber mal eine richtige Tour, mal nicht „morgen Gröbenzell, nächsten Samstag Berchtesgaden, dann mal schauen“, hey, das wär‘ schon was. Also schickten wir eine Kassette an eine Adresse in London, eine von tausenden, wie wir vermuteten, was soll‘s. Eine Woche später kam ein Fax: „The Manic Street Preachers are happy for you to join them.“ Das hieß: einen VW-Bus samt Fahrer/Techniker besorgen, Straßenkarten und Kalender studieren, kostenlose Übernachtungen an so exotischen Orten wie Essen, Hamburg, Köln, Hannover, Berlin, Halle (nein, da nicht, da fuhr man gleich wieder weg, d. h. dann gar nicht erst hin, wg. einstelligem Vorverkauf) organisieren.
Die Band immerhin kannte man ein bisserl, die hatte zwei Jahre zuvor mit ihrem ersten Album (tatsächlich meine erste gekaufte „Compact Disc“) Schlagzeilen und Titelseiten für eine ganze Jahrzehntkarriere abgeräumt und hingen jetzt mit dem zweiten ein bißchen überständig in der Luft herum. Erste Begegnung in Nürnberg: James, der coole Einzelgänger, der als Sex-Pistols-Fan in Hotels als „Steve Jones“ eincheckte; Nicky, der freundliche Zyniker, dessen Mund die schärfsten Beschimpfungen mit einem so charmanten Lächeln würzte, daß er nie ins Gefängnis mußte; Richey, ewiges Teenager-Model, der sich von Wodka ernährte und sich so gut mit unserem Gitarristen verstand, daß fast die Band zerbrochen wäre (nicht unsere), weil er nach dem dritten Joint die Treppe der KOMM-Garderobe (die heute noch so aussieht wie damals, morgen aber nicht mehr) hinunterpurzelte, und Sean, der nur etwas sagte, wenn ihm der Kragen platzte (was ich sieben Jahre später in Kuba ein einziges Mal erlebte), und sich seltsam ernährte.
So gondelten wir durch das deutsche Mistklima, drei Wochen lang, und plauderten: über Briten und den zweiten Weltkrieg, was unsere deutsche Generation so vom Holocaust wußte (jedenfalls weniger als Richey), wieso Liebeslieder tabu sind und in Songtiteln das Wort „Baby“ nicht vorkommen darf (ihrer hieß „Behave Yourself Baby“, nie veröffentlicht), tauschten T-Shirts und fuhren am Ende getrennter Wege (wir in ein Jugendzentrum in der Lerchenau, weil wir die Einladung zum Weitertouren in Japan aus, ähem, logistischen Gründen ablehnen mußten).
Ein gutes Jahr später trafen wir uns wieder; da waren die Manics mit ihrem Meisterwerk „The Holy Bible“ selbst nur noch Vorprogramm (für Suede) und Richey ein Schatten seiner selbst, der kurz darauf für immer verschwand. Und dann immer mal wieder, in einem Kölner Café, einem Münchner Hotel, einer Londoner Kneipe, endlich in Havanna, wo die Geschichte irgendwie zu Ende war. Es gab inzwischen SMS und Internet, aber die Wege verliefen nun doch sehr unterschiedlich. Ein Vierteljahrhundert, Baby; die Zeit ist eine Hure, und Liebeslieder sind längst nicht mehr tabu (nur noch blöd).
Was das alles mit dieser Platte zu tun hat? Ach, nichts. Es ist mal wieder ein Manics-Album, das sechste oder siebte hintereinander, das mich nicht mehr wirklich vom Hocker reißt und von dem sich in einer zukünftigen Best-of-Box nicht viel finden wird, mit Songtiteln, die so Manics-typisch sind, daß fast ein bißchen Bemühtheit durchscheint, wie auch in James‘ Gesang, der sich über die Jahrzehnte kaum oder nicht verändert hat. Aber es ist schön, daß sie irgendwie noch da sind, immer noch nichts als sie selbst sind und die vielleicht letzte klassische Rockband aus einer lange verwehten Zeit. Schön, mal wieder an die alten Geschichten und Gesichter zu denken, die allein dadurch immer lebendig bleiben, auch an Richey, der jetzt vielleicht irgendwo in Mittelamerika auf einer Veranda sitzt und doch noch Gitarre spielen zu lernen versucht.
Vielleicht hätten wir nach Japan mitfahren sollen. Ach nein, alles ist gut, wie es ist. Danke fürs Erinnern.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.