Sonntag, 30. August 2015

Belästigungen 15/2015: Haltet ein, ihr Gerechten! Blumen und Liebe für Wolfgang Schäuble!

Ich werde durchschnittlich zwei- bis viermal pro Woche von Wespen gestochen, die die fauligen Restkirschen unter meinem Baum zusammenlutschen und auf die ich mangels Augen an den Zehen zwangsläufig trete. Das ist (für mich) nicht weiter tragisch: Wespenstiche regen den Kreislauf an, eine Blutvergiftung ist angesichts der ausschließlichen Ernährung der Hautflüglerrabauken von Steinfrüchten kaum zu befürchten, und weitere Folgen wie Schwellungen und tagelanges Jucken lassen sich mit einer kurzen Wärmebehandlung verhindern.
Wahrscheinlich aber enthalten die vergorenen Kirschen doch einiges an Alkohol, der die Viecher übermütig macht, ihre Rachsucht anstachelt (!) und sie nach Vergeltung dürsten läßt. Gestern nämlich habe ich einen ihrer wieder mal ziemlich unkoordiniert in Bodennähe herumtorkelnden Kameraden höchstens (wenn überhaupt) leicht touchiert. Woraufhin er (oder sie) seinen Stachel noch vehementer als üblich in meinen Fuß rammte, und zwar – wie zum trotzigen Beweis meiner Unschuld – in dessen obere Seite. Ungefähr so: „Da hast du's, elende Menschensau! Wir stechen dich auch wenn du gar nichts getan hast! Weil wir es können, hä hä!“
Ich wiederum war zwar völlig nüchtern, aber nun erwachte angesichts der schmerzhaften Demütigung meine Rachsucht. Zum Glück weiß ich, wo die Bande haust (in einem Erdloch neben dem Mirabellenbaum). Also füllte ich eine Gießkanne mit kaltem Brunnenwasser und überflutete den unterirdischen Wohnsilo mit dem hämischen Kommentar: „Da habt ihr's, elende Wespenbrut! Ich schwemme auch denen von euch das Schlafzimmermobiliar weg, die gar nichts getan haben! Weil ich es kann, hä hä!“
Danach sah ich aus sicherer Entfernung (drei Meter) zu, wie die Bagage vergeblich ausschwärmte, um den Übeltäter dingfest zu machen, und vom unbeteiligten Nacktschneck bis zum abgelutschten Kirschkern alles stach, was in Reichweite war. Und bekam, während der Schmerz nachließ, ein schlechtes Gewissen; schließlich waren die Betroffenen ja wirklich unschuldig und ich nicht weiter geschädigt, während die sicherlich alle Hände voll zu tun hatten, um feuchte Wände neu zu verputzen und ihre Bettwäsche notdürftig zu trocknen. Indes ist es ziemlich aussichtslos, sich mit einer aufgebrachten Wespenmeute versöhnen zu wollen, und so blieb mir nur die Einsicht, daß man sich manchmal zügeln sollte, wenn der Jähzorn flammt.
Der kann sich ansonsten nämlich zu einem dauerhaften Generalgroll gegen alles und jeden verfestigen, und dann ist es mit dem Spaß vorbei. Da fiel mir umgehend Wolfgang Schäuble ein, der deutsche Finanzminister, der seit einiger Zeit einen geradezu amokartig erscheinenden Vernichtungsfeldzug gegen (vorläufig) die griechische Bevölkerung und ihre Regierung führt, und zwar mit einer gnadenlosen Verbissenheit, wie wir sie aus sehr dunklen Abschnitten der deutschen (aber interessanterweise kaum einer anderen) Geschichte kennen.
Was treibt den Mann? fragt man sich jedesmal, wenn er ein neues diabolisches Folterwerkzeug aus seiner Kiste zieht, einen neuen üblen Trumpf auf den Tisch knallt. Als Innenminister wollte er einst die Bundeswehr gegen Demonstranten einsetzen, unter Folter erzwungene Aussagen zu Ermittlungszwecken nutzen, Internierungslager für „Gefährder“ einrichten, entführte Passagierflugzeuge mit Raketen abschießen, das Grundgesetz ändern, um die durchgehende Überwachung aller Menschen zu jeder Zeit zu ermöglichen, und notfalls sämtliche Grund- und Menschenrechte zugunsten eines frei erfundenen „Grundrechts auf Sicherheit“ außer Kraft setzen. Heute ist er vor allem damit beschäftigt, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu restaurieren, wobei es ihm, wie der ehemalige griechische Finanzminister berichtet, durchaus denkbar erscheint, in „verschuldeten“ Staaten Wahlen zu verbieten (was in der Konsequenz gar nicht so schlimm wäre: Eine Demokratie gibt es in diesen Staaten sowieso nicht mehr, weil die dortigen Parlamente auf Befehl von Schäuble nur noch beschließen dürfen, was ihnen im vorhinein von der sog. „Eurogruppe“ diktiert worden ist).
Hinter einem derartig vehementen Vorgehen gegen alles, was auch nur entfernt an rudimentäre Überbleibsel von Demokratie und Freiheit erinnert, können unmöglich bloß wirtschaftspolitische Borniertheit und deutschnationale Großmannssucht stecken. Und tatsächlich zeigt ein Blick in Schäubles Lebensgeschichte eine solche Häufung von Wespenstichen, daß man sich kaum noch wundert: Für Helmut Kohl mußte er den nützlichen Deppen spielen, in der CDU-Spendenaffäre wegen einer wahrscheinlich eher lächerlichen Schuld und Lüge als oberste Schießbudenfigur zu Kreuze kriechen (während Kohl für sein himmelweit unverschämteres Verhalten bis heute von manchem als „Ehrenmann“ bewundert wird), immer wieder als scharfmachender Pappkamerad interessierter Kreise vorangehen, um sich hinterher sogar von Mitgliedern der eigenen Partei (und jenen, die ihn vorgeschickt hatten) beschimpfen zu lassen. Vom Bundeskanzler über den Präsidenten bis hin zum Berliner Bürgermeister und allen möglichen Europaführungen wurden ihm reihenweise Ämter in Aussicht gestellt und dann unter großem öffentlichem Spott verweigert. Und schließlich sollte man nicht außer acht lassen, daß er vor fünfundzwanzig Jahren von einem Irren ohne weiteres Motiv niedergeschossen wurde, seither gelähmt im Rollstuhl sitzt und übrigens behauptet, von dem Attentat ganz und gar nicht traumatisiert zu sein – spätestens hier sollten Psychologen Ohren vom Ausmaß einer Abhörantenne wachsen.
Daß in jemandem, der sich als dienstältester Bundestagsabgeordneter seit zweiundvierzig Jahren praktisch ununterbrochen demütigen, auslachen, beschimpfen und verspotten lassen muß, eine Rachsucht tobt, ein zum Dauergroll verfestigter Zorn, eine rasende Wut auf alles und jeden, dem es auch nur ein Düttelchen besser geht, der auch nur minimal glücklich oder fröhlich ist, versteht sich von selbst. Am liebsten täte er wahrscheinlich manchmal eine gigantische Gießkanne nehmen und den ganzen Laden ausschwemmen; am besten sollte man sich gar nicht vorstellen, was er in seinem Jähzorn noch so alles gerne täte, wenn wieder mal jemand öffentlich darlegt und womöglich nachweist, daß Wolfgang Schäuble von dem, was er tut, keine Ahnung hat, daß er sich irrt und verrennt und ein vernagelter Dummkopf sei.
In solchen Fällen hilft nur eines: Statt ihn zusätzlich zu provozieren und zu erzürnen, muß man so jemanden in den Arm nehmen, ihm Blumen schenken, ihn trösten, herzen, versöhnen, bis zur Entwaffnung lieben, auf daß er sich besinne und Frieden einkehre.
Wie das gehen soll, weiß ich so ganz konkret leider auch nicht, aber sicher ist es kaum schwieriger, als eine wütende Wespe zu streicheln und mit ihr Bruderschaft zu trinken (mit Kirschlikör).

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Montag, 24. August 2015

Aus dem Archiv (2004): Dynastiendämmerung - The Fall of the House of Strauß

Es ist von enormem Vorteil, daß die meisten Menschen in München, Wolfratshausen, Unterhaching, in ganz Bayern, überhaupt in den diversen Wertschöpfungseinheiten der je nach Gesichtskreis stotternden oder brummenden „Deutschland AG“ immer nur kurz verweilen dürfen, um sodann weiterverhartzt zu werden oder im extremen Durchmodernisierungsfall auch freiwillig von genormtem Ort zu genormtem Ort ziehen, um im Takt der Wirtschaft „weiterzukommen“ und für kurze Zeit „vorne“ zu sein. Von dem, was die wenigen, die dableiben und sich so fest im Beziehungsgeflecht der Macht- und Geldstrukturen einwurzeln, daß irgendwann „Seilschaften“, ja ganze „Dynastien“ aufquellen wie Riesenboviste im herbstlichen Wald, – von dem, was die so treiben, kriegt der moderne Wirtschaftsnomade solcherart nämlich immer nur kurze Episoden mit, die ihm bizarr und skandalös erscheinen, die er aber nicht weiter verfolgt, weil er weitermuß und deshalb die Systematik hinter dem scheinbar absurden Gestrüpp nicht erkennen kann.
Zum Beispiel die Christlich Soziale Union In Bayern, eine – oberflächlich betrachtet – politische Partei, mithin Repräsentantin angeblicher Bevölkerungsinteressen, hinter der sich in Wirklichkeit eine Art Mähdrescher verbirgt, der systematisch über Bayern hinwegbrummt, alles abrasiert, was ihm in den Weg kommt, es anständig durchdrischt und am Ende aus verschiedenen Rohröffnungen wieder ausspuckt, dahin, wo es hingehört: Stroh für die Massen, das goldene Korn für Magnaten, Spezis, Amigos und Würdenträger. Sieht man ein bißchen genauer hin, stolpert man die Jahrzehnte hindurch immer wieder über die gleichen Namen, und der Name Strauß erweist sich als eine Art Sesam-öffne-dich für das Allerheiligste der grotesken Macht- und Geldmaschine.
Neulich beispielsweise hat sich erwiesen, daß es im Münchner CSU-Verband – der seit einiger Zeit auf Geheiß des (für seine Unduldsamkeit gegenüber ungeschickten, gar öffentlich werdenden Ränkereien bekannten) Ministerpräsidenten Stoiber von der Strauß-Tochter Monika Hohlmeier geführt wird, weil es dort dermaßen drunter und drüber gegangen war, daß der eine oder andere Mandatsträger gar in persona ins Gefängnis einfahren mußte – daß es in diesem Verband nach wie vor dermaßen drunter und drüber geht, daß die Gerichte mindere und andere Verfahren auf die lange Bank schieben müssen, weil sie mit der CSU alle Hände voll zu tun haben. Detaillierte Darstellungen täten Bände füllen, grobe Skizzen müssen daher hinreichen: Diverse CSU-Aufstreber kaufen mit Geld neue Mitglieder und fälschen Mitgliedschaftsanträge, um diverse Alt-Kandidaten und Platzhirsche aus ihren Positionen zu kegeln und durch eigene Spezis oder sich selbst zu ersetzen. Als das ganze Schieben und Scharren auffliegt und gerichtsmäßig wird, „greift“ Monika Hohlmeier „durch“, muß sich jedoch umgehend von den trotzigen Karrierebürscherln vorwerfen lassen, sie habe von den Vorgängen von Anfang an gewußt und sie gebilligt. Daraufhin greift sie zu einer bewährten Strauß-Technik, knallt im Sitzungssaal einen Ordner auf den Tisch und verkündet: „Ich habe über jeden von euch was!“ Zum Beispiel einer der anwesenden Intriganten habe eine Frau, die mal eine Wahl gefälscht habe usw. Im Normalfall wäre die Affäre hier zu Ende, doch kann diesmal einer das Maul nicht halten, und schon am nächsten Tag sieht sich Hohlmeier gezwungen, öffentlich klarzustellen, die habe niemals irgendwelche „Dossiers“ angefertigt und selbstverständlich auch nie irgend jemanden zum Stillschweigen und Artigsein pressen wollen. Schon läßt der stets vorsichtige Stoiber verkünden, ihn gehe die Münchner CSU rein gar nichts an und er habe auch nie gewollt, daß seine Vorzeige-Kultusministerin sich dort umtue. Postwendend erfährt die Presse, der einstmals als Straußches „blondes Fallbeil“ und „größter Generalsekretär aller Zeiten (GRÖGAZ)“ (Münchner Merkur) tätige Stoiber sei in die Sache ebenfalls eingeweiht gewesen und habe sie („Hund seid’s schon!“) gebilligt.
Hohlmeiers Bruder Max Strauß wird derweil von einem Ausburger Gericht in Sachen Schreiber, Panzerdeal und „Maxwell“-Konto zu drei Jahren und Monaten Gefängnis verurteilt, obwohl er doch eigens seine Computerfestplatte durch einen Virus reinigen und dann aus der Asservatenkammer verschwinden ließ und obwohl er doch dereinst zu nächtlicher Stunde auf den Balkon des CSU-Magnaten Erich Riedl geklettert war und dessen Frau (Riedl selber war nicht da) einschärfte, es müßten alle Unterlagen und privaten Notizbücher sofort vernichtet werden, weil am nächsten Tag die Staatsanwaltschaft zur Hausdurchsuchung anrücke. Oder ging es dabei um ein anderes Verfahren, bezüglich einer Betrugsfirma WABAG, die Anlager um Dutzende von Millionen brachte und aus der Monikas Ehemann Michael Hohlmeier gerade noch rechtzeitig seine Finger herauszog, um nicht ebenfalls in den Sumpf hineinzurutschen? Wie auch immer, die Strafe ist bezahlt, und Monika Hohlmeier hat von alldem sowieso nichts gewußt und sich auch nie gefragt, woher eigentlich überhaupt die vielen Millionen kommen, die der Papa den Kindern hinterlassen hat.
Schon deshalb muß Monika Hohlmeier den Vorwurf, „Dossiers“ angelegt zu haben, entschieden von sich weisen: Es müßte in solchen ja an allen Ecken und Enden der Name Strauß vorkommen, vom eigenen ganz zu schweigen. Und freilich: dem Namen Stoiber, von dem nicht nur der bayerische SPD-Vorsitzende Franz Maget mutmaßte, er sei in den „Dossiers“ so prominent vertreten, daß er es sich gar nicht leisten könne, seine lästige Ministerin zu entlassen. Ein unlängst in der SZ gedrucktes Photo zeigt Hohlmeier und Stoiber; dieser wiegelt mal wieder, jene betrachtet ihn – wer mag, kann ihren Blick lesen: Sag ja nichts Falsches, Edi, sonst raucht’s.
Ein einstiger Mitschüler sagt dies über die Strauß-Kinder: „Die müssen einem doch leid tun. Die waren von Anfang an in diesem Mafiasumpf drin und haben außer Geld und Macht nie was mitbekommen. Wie soll man normal werden, wenn man von Bodyguards mit dem Benz zur Schule chauffiert wird?“ Es war wohl eher ein BMW, aber egal. Zwangsläufig jedenfalls blieben die Kinder weitgehend isoliert; die wenigen Altersgenossen, bei denen der unbedingte Wille zum Ranwanzen den Abscheu vor den Straußschen Verhältnissen überwog, blieben – neben der alten Strauß-Kamarilla – die treuesten Wegbegleiter in späteren Jahren. Namen wie Curt Niklas und Burkei tauchen immer wieder auf, wiewohl letzterer Ralph ebenfalls vorgeschädigt war: Schon seine Stiefmutter war Parteifunktionärin (allerdings in der SPD).
Papa Strauß’ politisches Handeln galt neben dem eigenen Kropf von Macht und Geld und den diversen Waffen- und sonstigen Spezis von Anfang der Familiarität an stets auch den Kindern. Die mußten was werden, und sie wurden was: der Max ein Politiker wie der Papa (in jeder Hinsicht, nur nach dessen Tod ohne das soziale Netz der vielen Abhängigkeiten), die Monika ebenfalls eine Politikerin wie der Papa (dito, doch überdeckte sie die Unverfrorenheit ihrer Machenschaften mit Anflügen von herb-weiblichem Charme), und der Franz Georg, der sollte in die Wirtschaft hinein (hauptberuflich, denn nebenbei waren natürlich auch Monika und Max mit allen möglichen Kapitalschiebereien beschäftigt, und umgekehrt).
Um dem Buben eine Karriere als TV-Unternehmer zu ermöglichen, mußte der Papa allerdings Gesetze ändern lassen: Ein Privatfernsehen war in der BRD eigentlich nicht vorgesehen. So mußte die CSU also brav (wenn auch flügelweise zähneknirschend) die Einführung von Titten- und Dreschsendern wie RTL und SAT1 durchwinken, damit der Strauß-Bub deren „lokale Fenster“ füllen durfte.
Sein „TV Weißblau“ (heute „TV München“) gerierte sich von Anfang an streng nach Straußscher Manier: Die schamlose Propaganda für CSU und diverse Geschäftspartner von Papa und Sohn gehörte noch zu den ehrlicheren Zügen des Senders – strafbar indes war so was nicht, weshalb denn auch sogar die taz irgendwann Franz Georg Strauß als „weißes Schaf der Familie“ anerkennen mußte. Kleine Dubiositäten im Betriebverlauf des Senders ertranken in der Dauerflut himmelschreiender CSU-Skandale.
Nun also sollte die Monika den von Bauland-, Käseschachtelfabrik- und allen möglichen anderen Affären gebeutelten Münchner CSU-Bezirk, der zuletzt innerhalb ein paar Wochen drei OB-Kandidaturkandidaten verschlissen hatte, auf Vordermann bringen. Klappte zunächst recht gut: der am Ende tatsächliche OB-Kandidat Podiuk („Mit Sicherheit ein gutes Gefühl“) wurde von dem Schwarm von „Hoffnungsträgern“, der um die Hohlmeier herumscharwenzelte, mittels gekaufter Neumitglieder aus dem Amt geputscht. Leider aber flog der Schwindel auf, die Baretti-Graber-Haedke-Clique landete vor Gericht (einer davon war kurz zuvor bereits wegen der Krankenhaus-Affäre verurteilt worden), täglich hagelte es neue Geständnisse und Enthüllungen, und endlich mußte Monika Hohlmeier wegen „Arbeitsüberlastung“ das Handtuch werfen. Sie war ja auch noch Kultusministerin, wie ihr jetzt plötzlich einfiel, und schon fiel anderen ein und auf, daß sie in dieser Funktion ihren Beamtenapparat angewiesen hatte, Parteitätigkeiten zu übernehmen, zu denen sie selber weder Zeit noch Lust hatte – und wenn es bloß darum ging, die Schulleiterin der Tochter ihres privaten Rechtsanwalts zusammenzupfeifen, weil die sich weigerte, das Zeugnis der Tochter per Fax zu übermitteln. Kaum fällt in all dem Gewirbel noch auf, daß zwischendurch auch der Schatzmeister Ralph Burkei zurücktritt, der erwähnte Schulkamerad, der sich schon als Gymnasiast durch entschiedenes publizistisches Eintreten für den Münchner CSU-OB-Kandidaten Kiesl (mittlerweile in Sachen Baulandaffäre verurteilt) und Rudolf Heß hervortat und späterhin wie Franz Georg Strauß von des alten „Archonten“ (H. Rosendorfer) entschiedenem politischen Einsatz für ein privates Fernsehen profitierte, indem er einen noch zwielichtigeren Sender als dieser gründete (Camp TV). Die Namen Gauweiler (Spelunkenaffäre, Kanzleiaffäre, Sondermüllaffäre), Zimmermann (Krankenhausaffäre), Wolf (Terror-Plakat-Affäre), Traublinger et al. haben wir noch gar nicht erwähnt; es sei hiermit getan. Platz für eingehende Würdigung böten, wie gesagt, nur Bände.
Immerhin der Edmund hat sein Teil gelernt: „Ich verurteile diese Machenschaften“, tönte er beim „Sommerinterview“ der ARD. „Teilweise“ verurteile er sogar „auch diese kriminellen Taten.“ Doch solle man bedenken: „Hohlmeier ist eine junge Frau. Sie hat sicherlich in der Schwierigkeit des Bezirksverbands München Fehler gemacht.“ Indes: „Ich sage noch einmal: Das gehört auch zum politischen Anstand, wenn jemand einen Fehler gemacht hat und er räumt diesen Fehler ein, dann sollte man ihm selbstverständlich eine zweite Chance geben.“ Und, wie eh und je (wie 1994, als Stoiber verlauten ließ, Eduard Zwick, auf dessen Kosten er 1982 in Cannes den Strauß-Geburtstag gefeiert hatte, kenne er „gar nicht“; und wie damals, als er zum Straußschen „Ratten und Schmeißfligen“-Zitat vollmundig „stand“, obwohl er „dies nicht gehört“ haben wollte): vergessen, vergessen, vergessen. Hohlmeier ist für Stoiber „bei den eingeleiteten Reformen ein Garant, daß sie Bayern an der Spitze hält“. Und darum und weil man ja nicht wissen kann, was da in den diversen Dossiers noch so alles drinsteht, gilt wie stets das Stoibersche Grundwort: „Ich glaube, daß man jetzt nach vorne schauen soll.“


geschrieben im Juli 2004 als Beitrag zu einem gemeinsamen Artikel (mit Jürgen Roth) über die Strauß-Familie, der in KONKRET 9/2004 unter dem Titel „Dynastiendämmerung“ erschien

Samstag, 15. August 2015

Frisch gepreßt #343: Giorgio Moroder "Deja-vu"


Eine liebe Freundin hat ein großes Faible für die … hm, Discokultur. Zumindest dachte ich das, denn mit einer entsprechenden Playlist kann man fast jederzeit zuverlässig ihr Herz in (diskrete) Jauchzlaune versetzen: „MacArtuhr Park“, „Son Of My Father“, „Hot Stuff“, „No 1 In Heaven“, „Call Me“, „Life In Tokyo“, „I Feel Love“ könnten dabei sein, und wir können uns die Aufzählung der Interpreten eigentlich sparen; es genügt, den Mann dahinter zu … hm, kennen (Erklärung folgt).
Neulich erzählte ich ihr, es gebe ein neues Album von Giorgio Moroder. Gesicht: Ja, und? Da möchte man spontan am Musikunterricht bayerischer Schulen verzweifeln – andererseits: ein drittes Hm (Erklärung folgt).
Giorgio Moroder. 1940 in einem Ort geboren, der ein Bandname sein könnte, ungefähr westrumänische Dudelsackavantgarde oder irgendwas Spirituelles aus den Hochanden: Urtijëi. Ist aber Südtirol, ganz banal und vielleicht typisch. Und heißen tut er eigentlich Hansjörg, steht vielleicht sogar auf einem seiner Oscars und Grammys drauf; die Amis sind da ja manchmal sehr genau.
Und dann: hat er Musik erfunden. Von der man (eben: hm) behaupten könnte (und manche tun das), sie sei gar keine Musik, sondern … eine Art Rohrreinigungsgerät, mit dem man das Gehör eines Menschen von sämtlichen Anhaftungen von Geschmack, Gespür und Emotion reinigen, das Hirn paralysieren und das Zentrum, das für unkontrolliertes Tanzzucken zuständig ist, direkt stimulieren kann. Wohlmeinende sagen: Dancepop, Synthpop, Cyberpop, HI NRG oder zusammenfassend: Disco. Was als Begriff daher kommt, wo es stattfindet.
Wenn man dann doch mal einen Namen nennt (Donna Summer) und ein sekundenkurzes Zippzappgeräusch mit Stöhnen macht, ist zumindest für Experten alles klar und die Sonne der musikalischen Kultur hinter den Bergen des Wahnsinns versunken. Wer auch immer seit 1977 als Musiker (oder „Musiker“) an Moroder (engl. „marauder“ = der wüste Plünderer; sicher ein Zufall) geriet, war danach nicht mehr er selbst – oder von vornherein nicht: Japan, Sparks, Blondie, Irene Cara, Limahl, Berlin, Sigue Sigue Sputnik … eine(r) nach dem anderen in androidische Knallfrösche verwandelt; eine Endlosspur von Zippzapp zieht sich durch die 80er und – historisch gesprochen – die „langen“ 80er, die nie enden. Oder vorläufig bei Daft Punk („Giorgio By Moroder“ – Grammy Nummer vier, übrigens).
Aber: Moroder zu kennen (und in einem Satz zu erläutern) ist fast unmöglich. In Wirklichkeit ist er ja gar nicht der VW-Porsche der europäischen Großstadtbeschallung, sondern ein überaus angesehener Filmmusikproduzent: „Midnight Express“, „American Gigolo“, „Cat People“, „Scarface“, „Flashdance“, „Never Ending Story“, „Top Gun“ … dass er den letzten Film von Leni Riefenstahl vertont hat, verbuchen wir unter dem Stichwort „Abseitigkeiten“, wo ja möglicherweise sein ganzes Gesamtwerk hineingehört.
Und dann gibt es noch den Moroder, der unter und in eigenem Namen noch wesentlich abseitigere … hm, Sachen gemacht hat, „Looky Looky“ (auf seinem Debütalbum „That's Bubblegum, 1969) und „Einzelgänger“ (1975) zum Beispiel, wo Tracks wie „Aus“, „Basslich“ und „Untergang“ drauf waren. Beides super Geschenke für Menschen, deren Haare nur noch unter extremen Bedingungen zu Berge stehen: Hier häutet sich die härteste Gans.
Giorgio also. Der GANZ andere. Den niemand je verstanden hat und keiner je verstehen wird. Tausendmal gesampelt, hundertmal verlacht, die Verkörperung des kalifornischen Irrwahns in einem Tiroler Buben aus einem 4000-Seelen-Dörflein. Übrigens auch Hersteller eines Autos, das aussieht, wie seine Platten klingen (googelt mal nach „Cizeta V16T“). Der Mann, für den man den Begriff „Kult“ erfunden hat.
Ein neues Album? Mit 75? Aber klar. Moroder ist nicht sterblich, er klingt auf ewig nach Moroder und wird noch die Eröffnung der ersten Diskothek im Andromedanebel beschallen. Dabei sind Kylie Minogue, Kelis, Sia, Britney Spears, Mikky Ekko, Rayney Shockne, Charli XCX und einige andere, aber egal, weil es die alle ohne ihn sowieso nicht gäbe.
Moroder? Ja, versucht mal, ihn zu begreifen, hi hi. Und dann: Gehirn ausschalten.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.




Freitag, 14. August 2015

Frisch gepreßt #342: The Rolling Stones "Sticky Fingers"


Das Schöne an der Vielfalt ist die AUSWAHL. Eine Binsenweisheit. Wer mag, kann sich diese, letzte, nächste Woche mit neuen Alben dermaßen weiträumig, -läufig und grenzenlos zudröhnen/beschäftigen/die Zeit vertreiben, daß es nur so schillert: von Ash bis The Darkness, von den Prinzen bis Helloween; er kann sich auch 14 CDs mit sieben kompletten Yes-Konzerten von 1972 „reinziehen“, in Schlagerquark baden, mit Hardcore das Haus abreißen, den Kopf mit Reimen über bitches, dudes und dies und das vollstopfen … es ist alles da, modellgerecht und handwerklich top gefertigt.
Ja, und: langweilig, irgendwie, nicht wahr? Das Schlimme an der Vielfalt ist nämlich die AUSWAHL, und es gab große, heroische, chaotisch wilde Zeiten, in denen ein einziges Album für ein Jahr und eine einzige Band für vier oder fünf Jahre reichten, um die ganze Welt zu beschäftigen und den Rest höchstens nebenbei sonntagsnachmittags beim Autoputzen aus dem Radio seiern zu lassen. Sagen wir mal: die Rolling Stones, von 1968 bis 1972 ziemlich unumstritten die „größte Rock-'n'-Roll-Band auf der Welt“, für nicht wenige Menschen überhaupt die einzige, in der sich alles sammelte, vereinte und kulminierte, was an Wahnsinn, Renitenz, Rebellion, krimineller Energie, Libertinismus, sexueller Freizügigkeit und Perversion, politischer Brisanz, Subversion, Dekadenz, Drogenkonsum, Tod und Verderben, Outlaw-Chic, Stargetummel, Jet-Set-Kaputtheit, Lumpeneleganz, Ausschweifung und (pseudo)intellektuellem Word-dropping überhaupt denkbar war.
Es sind auch nicht wenige, denen vier Alben für ein Rock-'n'-Roll-Leben genügen und alles weitere höchstens Variation, Verwässerung und Geplänkel ist. „Beggars Banquet“ (1968), „Let It Bleed“ (1969), „Sticky Fingers“ (1971) und „Exile On Main St.“ (1972) reichen tatsächlich aus, um die Welt zu füllen, und möglicherweise ist das dritte davon der zentrale Dreh- und Angelpunkt, weil sich hier alle Extreme treffen und in Perfektion verschmelzen. Musikalisch sowieso: Blues und Funk, Orchestergrandezza, Soul-Süße und 20er-Jahre-Straßenstaub, ausufernde, aber auf den Punkt komprimierte Jam-Improvisation (in dem zufällig mitgeschnittenen zweiten Teil von „Can't You Hear Me Knocking“) und Hard-Rock-Wucht, Faust-ins-Gesicht-Direktheit („Bitch“) und Method-Acting-Theater (die Country-Rock-Pastiche „Dead Flowers“).
Aber dazwischen, daneben und darüber hinaus: ein Vulkan an Texten, von denen Mick Jagger später meinte, er hätte sie nie mehr schreiben können, weil er sich automatisch selbst zensiert hätte. In denen alles vorkommt oder sich zumindest herausdeuten läßt, was die Abgründe des Lebens an Schmutz zu bieten haben, vom peitschenden Sklaventreiber in „Brown Sugar“ bis hin zu den selten kaschierten Drogenbezügen dort und in praktisch jedem weiteren der zehn Songs, in denen von „Sister Morphine“, einem Kopf voller Schnee („Moonlight Mile“), Nadel und Löffel und allen möglichen Überdosen die Rede ist. Andy Warhols Cover mit erigiertem Penis und Reißverschluß (der nebenbei andere Platten im Regal zerstörte). Und der Kontext der Entstehungszeit der Platte (1969 bis 1971): Terrorismus, Jean-Luc-Godard, Black Panthers, der Tod von Brian Jones im Swimming-Pool, 300.000 Menschen und tausend weiße Schmetterlinge im Hyde Park, Truman Capote, Michael X, Enoch Powell, „Performance“ und „Ned Kelly“, Marsha Hunt, Marianne Faithfull, Angela Davis und Bianca Pérez-Mora Macias, Drogenprozesse, Totschlag in Altamont, uneheliche Kinder, Scheidungen, Krawalle und Tränengas in Hamburg und Mailand, die infame „Single“ „Cocksucker Blues“, eine Flut von Prozessen, Bootlegs (herausragend: „Get Your Leeds Lungs Out“, im „Super Deluxe Edition Boxset“ nun offiziell erhältlich), Auflösung des Vertrags mit Decca und Gründung des eigenen Labels, Steuerflucht nach Südfrankreich; und was für eine Zeit das war, zeigt vielleicht am schönsten die längst vergessene Episode der Verurteilung von Charlie Watts' Ehefrau Shirley zu sechs Monaten Gefängnis, weil sie auf dem Flughafen von Nizza ein paar Zöllner krankenhausreif prügelte. Diese Menschen, möchte man meinen, waren einige Jahre lang ganz schön aus dem Häuschen.
Yeah, oder sagen wir's mit Jagger: „Wenn Gott will, daß ich eine Frau werde, dann werde ich eine Frau.“ Das heißt: nichts. Und alles. Rock 'n' Roll eben.

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Samstag, 1. August 2015

Belästigungen 13/2011: Kunst, Regime, Kommerz und Krampf: O weh und Ach und Ai Weiwei!

Die Kapazitäten des menschlichen Gehirns sind begrenzt. Das wissen wir nicht erst von dem ehemaligen, nunmehr laut Hofberichterstattung (i. e. Wirtschaftsjournalismus) unter Mitnahme einer zweistelligen Millionensumme „gefallenen“ Bertelsmann-Manager Thomas Middelhoff, der neulich mal wieder vor Gericht mußte und dabei die Frage nach seinem Alter erst im dritten Versuch – 53, nein, Jahrgang 53, also … 54 … (Gelächter und Gemurmel im Publikum) … ähem, 58 – richtig beantworten konnte.
Nein, daß in unser Hirn nicht alles hineinpaßt, zumindest nicht ohne querzustehen, anzustoßen oder irgendwas anderes umzustoßen, das erfahren wir meist dann am eindrücklichsten, wenn es um Kunst oder genauer gesagt: um die Frage geht, was Kunst sei, für was sie gut sein soll und ob sie überhaupt „gut“ ist. Zum Beispiel stehen in dem Teich vor der Blutenburg in Obermenzing seit 2005 drei grün bemalte Dinger herum, die „sich aufrichtende Halme“ darstellen sollen (ohne sich in irgendeiner Weise zu bewegen oder gar aufzurichten), von denen auf den ersten – oder überhaupt einen Blick – niemand so recht zu sagen wüßte, was sie da sollen.
Das erklärt uns zum Glück der Künstler, der gelernter Holzbildhauer ist und den Auftrag zur Erstellung der Dinger von der bayerischen Staatsregierung bekam: Ein „markantes Zeichen an der Schnittstelle zwischen Urbanität und historisch ländlicher Infrastruktur“ sei das Ensemble, „das in seiner Fernwirkung die Achse im Durchblickpark zwischen der barocken Schlossanlage Nymphenburg und der mittelalterlichen Blutenburg markiert“. Damit aber bei weitem nicht genug! „Künstlichkeit und Übergröße“ nämlich stünden „hier einerseits für ein Merkmal unserer Zeit, in der die Gentechnik die Grenzen der Natur zu sprengen verspricht. Das Skulpturen-Terzett thematisiert dem entgegen die Beschränktheit und die Fragwürdigkeit menschlichen Strebens nach künstlichem Wachstum.“
„Dem entgegen“ könnte man halten, daß darauf vom bloßen Anblick niemand käme, weder die so tapfer angeprangerte Gentechnikindustrie noch der von ihr bedrohte Normalmensch, der auch nicht ohne weiteres bemerken wird, daß die aus ehemaligen Eichen skulpierten Dinger „aber auch in ihrer Übergröße die Schönheit kleiner und unscheinbarer Grashalme erlebbar“ machen, ja sogar „untereinander korrespondieren“ und – Himmel Arsch! – „im Dialog mit der Architektur der mittelalterlichen Schlossanlage und dem alten Baumbestand an der Würm“ stehen. Man glaubt förmlich zu hören, wie sie plaudern, die alten Baumbestände und die gereckten Monsterhalme: „Jessas, Jungs, schaut nur, was sie aus dem Franz, dem Thilo und dem Heini gemacht haben!“ – „Ja, da staunt ihr, was? Wir tun jetzt nicht mehr nur dumpf vor uns hin baumen, sondern thematisieren, korrespondieren, dialogisieren und erlebbar machen!“
Na gut, sei's drum, denkt der Normalmensch, nachdem er den erwarteten Abschlußschwurbel („Der Perspektivenwechsel wird insofern visualisiert.“) mental verdaut hat; ist ja nicht so schlimm, und wenn nicht ein offensichtlich kunstsinniges Bleßhuhn auf die Idee gekommen wäre, ausgerechnet unter einer der grünen Säulen seinen diesjährigen Eierhaufen abzulegen, wäre der Schmarrn längst aus der Welt, den Augen und dem Sinn, und wir Banausen könnten uns mit anderem beschäftigen, zum Beispiel mit den Fußballergebnissen oder dem durchaus idyllischen und erfreulichen Anblick der Blutenburg ohne grüne Dinger.
Hirnmäßig besonders sperrig wird Kunst immer dann, wenn sie nicht nur „Themen aufgreift“, sondern so richtig pfundig politisch wirken möchte – dabei fällt in letzter Zeit meistens der lustige Name des auch äußerlich recht lustig wirkenden Chinesen Ai Weiwei, der, so hört man, mit seiner Kunst gehörig provoziere, Tabus breche usw. bla bla bla sowie nebenberuflich die beliebte Tätigkeit eines „Menschenrechtlers“ ausübe und deswegen von seiner Regierung, Verzeihung: dem Regime ganz fürchterlich gepiesackt werde. Seit 3. April sitzt Ai Weiwei in Haft, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht aufgefordert werde, mich für ihn einzusetzen, mit ihm zu solidarisieren, zu protestieren und aufzubegehren, als säße ansonsten auf der ganzen Welt (oder notfalls: in Bayern) niemand im Gefängnis, der nicht hineingehört.
Aber meinetwegen: Hiermit fordere ich die chinesische Regierung auf, Herrn Ai nicht ungerecht zu behandeln und generell niemanden ins Gefängnis zu sperren, der nicht hineingehört. Hört ihr mich, ihr Regierungschinesen?
Vielleicht aber sollte man sich abgesehen von dieser Selbstverständlichkeit dem Wirken des Herrn Ai mal etwas genauer widmen. Dem Politischen, von dem Chinesen, Chinakenner und Chinakritiker meinen, es sei, weil weder konkret noch in irgendeiner Weise hilfreich, sondern „plakativ, leer und nichtssagend“ (so Zhu Ling, Galeristin für chinesische Gegenwartskunst in Berlin), nichts als Reklame für Ai Weiwei selbst – der als Architekt übrigens bei seinen Unterdrückern ein gefragter Mann ist: Er entwarf in deren Auftrag Parks, Museen, Luxusvillen und das Pekinger Olympiastadion. Derartige Projekte sind in China fast immer mit Zwangsenteignung, Vertreibung der Anwohner und rücksichtsloser Ausbeutung von Wanderarbeitern verbunden, von denen es mehr als 200 Millionen gibt, mit denen sich niemand solidarisiert, weil sonst Apple-Spielzeug und Nike-Schuhe teurer werden könnten. Auch nicht Ai Weiwei, der „Regimekritiker“, der seine Regimekritik auf wolkiges Dampfgeplauder beschränkt, das irgendwie für jedes Land der Welt paßt: „Die Regierung, das gesamte System opfert Bildung, Umweltressourcen und die Interessen der meisten Menschen, nur damit einige wenige Menschen mit Verbindung zur Regierung extrem reich werden können.“
Zum Beispiel der „Künstler“ Ai Weiwei, der als solcher in nennenswertem Umfang eigener Aussage zufolge erst seit 1995 tätig ist, 2004 seine erste Einzelausstellung hatte und dank explodierender Preise innerhalb weniger Monate ein derartiges Millionenvermögen anscheffelte, daß der Vorwurf, den ihm die chinesische Justiz macht (Steuerhinterziehung) irgendwie fast plausibel klingt. Und zwar mit Werken, die man eigentlich nicht kritisieren darf (schließlich sind sie „regimekritisch, gelt?), von denen der eine oder andere ehrliche Kritiker trotzdem meint, sie seien „lächerlich, bunt, skandalös schlecht“, neigten „zum billigen Effekt“ und hätten „viel mit PR, aber wenig mit Kunst zu tun“ (Karlheinz Schmid, Herausgeber der „Kunstzeitung“).
Andere Medien sehen das anders, etwa das Hochglanzmagazin „Monopol“: In dessen Internetarchiv finden sich 87 Artikel über Ai Weiwei – zum Vergleich: Picasso wird in 49 Artikeln (meist beiläufig) erwähnt, Francis Bacon bringt es auf 11, Van Gogh auf ganze 7 –, aber nicht ein einziges kritisches Wort. Herausgegeben wird dieses Heftchen von dem in China höchst aktiven Schweizer Medienkonzern Ringier. Dessen Vizepräsident ist der ehemalige Schweizer Botschafter in China, ein gewisser Uli Sigg, Schloßeigentümer, Anhänger des rechtsradikalen Milliardärs Christoph Blocher und Besitzer der weltweit größten Sammlung zeitgenössischer chinesischer Kunst.
Sigg lernte Ai Weiwei 1995 in Peking kennen, überredete den Galeristen und Verleger, Künstler zu werden, wurde so was wie sein Manager und „vernetzte“ ihn so effektiv mit mächtigen Kuratoren diverser Biennalen und Documentas, daß er mit seinem pompösen Kitsch ohne Anlauf eine blitzartige Weltkarriere hinlegte – dank einer äußerst verkaufsträchtigen Mixtur aus Pseudo-Regimekritik, Lobbyismus und spektakulärem Aktionsgebimse (etwa um einen vier Tonnen schweren Felsklotz aus China, den er 2010 mit dem Hubschrauber auf den Gipfel des Hohen Dachsteins fliegen ließ, um, na klar: „das Spannungsverhältnis zwischen den Möglichkeiten des Menschen und der Größe der Natur“ zu „thematisieren“).
Das haben wir so ähnlich schon gehört und hegen den begründeten Verdacht, daß Kunst gar nichts anderes tut als irgendein Spannungszeug mit Mensch und Natur thematisieren oder korrespondieren oder aufgreifen oder wie auch immer – und weil unser Hirn aber locker groß genug ist, um zu wissen, daß das banaler Quark und ein arg billiger Vorwand zum Abgreifen von Millionen ist, wünschen wir Ai Weiwei viel Glück und beschäftigen uns lieber mit etwas Interessantem.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Diese Folge aus dem Juni 2011 ist auf Papier nachzulesen in dem Buch "Man ist immer zu gut zu den Blöden. Belästigungen 301-400".