Dienstag, 23. Dezember 2014

Belästigungen 24/2014: Rettet die Fettmutanten (und Kolumnisten) vor der frischen Luft!

Ich werde ab und zu gefragt, was ich eigentlich esse. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, daß es heutzutage als olympische Leistung gilt, sich nicht als menschliches Äquivalent eines modernen, im Vergleich zu seinen Vorfahren auf titanische Ausmaße angeschwollenen Automobils durch die Welt zu schleppen. Denke niemand, ich wollte fettleibige Menschen diskriminieren, wie das unter amerikanisierten Fitneßgerippen seit einiger Zeit in Mode ist (wie der heutige Bewohner der kapitalisierten Welt ja überhaupt immer irgendwen oder -was diskriminieren muß, weil ihm sonst seine Identität in den unteren Bereich der Hose rutscht, aber das gehört jetzt nicht hierher).
Nein, das möchte ich ganz und gar nicht; einige meiner besten Freunde sind fettleibig und haben davon wenig Gewinn. Suchen wir uns lieber einen wohlfeilen Schuldigen, schließlich sind wir hier bei den Medien! Das Problem ist, daß weder Vladimir Putin noch die Linkspartei als Sündenbock dafür herhalten können, daß deutsche Kinder – wie eine (vermutlich „großangelegte“) Studie unlängst herausfand – sich schlecht ernähren und daher zu einem großen Teil schon bei Erreichen der Gymnasialunreife als gefälschte Elefanten durchs Bildungssystem stapfen. Sondern, so hört man: die Schulspeisung.
Etwas unter diesem Namen gab es damals bei uns auch: Da erhielt man täglich zur großen Pause eine Semmel und eine Pyramidentüte Milch oder Kakao in die Hand gedrückt. Gesund war das sicher nicht, aber wahrscheinlich auch nicht sooo ungesund wie die verkochte Fleisch-Salz-Sahne-Pampe, mit der sich heutige Schüler die Wampe mästen – schon weil man damals mittags zu Hause war und was Gescheites vorgesetzt bekam, ehe man hinaus stürmte und bis Sonnenuntergang Fangermandl, Räuber und Schandi, Fußball, Verstecksterl spielte, Bäume und Garagendächer erkletterte, Radlrennen fuhr und anderen Blödsinn betrieb, mit dem man sich den Weizen-Zucker-Bapp wieder von den Rippen trainierte.
Damals kostete es (äußerst grob geschätzt) zwei durchschnittliche Stundenlöhne, ein anständiges Essen für eine Familie auf den Tisch zu stellen. Heute dürften wir uns da im Minutenbereich bewegen, und da sollte es eigentlich niemanden mehr wundern, daß man vom Essen krank wird, zumal eine weltmächtige Industrie Billionen damit scheffelt, Abfall in Pommes, Schoki, Pizza, Baguette, Wrap, Chips etc. zu verwandeln und ganzen Bevölkerungen einzuhämmern, dabei handle es sich um Nahrung. Während andererseits eine nicht weniger milliardenfette Immobilienwirtschaft das Geld, das die Menschen „einsparen“, indem sie sich mit Müll vollstopfen, in Form von astronomischen Mietpreisen einsammelt.
Also ist die Lösung eigentlich denkbar einfach: Man braucht bloß vom Dreck auf echte Lebensmittel umzusteigen und eine knappe Generation abzuwarten, schon ist alles wieder gut. Leider können sich solch simple Weisheiten gegen die Reklamesturmgeschütze der erwähnten Industrie kaum durchsetzen, und wenn die Gefahr besteht, daß sie’s doch tun, kommt eben ein „Wird man wohl noch sagen dürfen“-Propagandist von der Abteilung „Politisch unkorrekt ist das neue Cool“ daher und „setzt“ einen „Akzent“ (wie man so sagt).
Einer dieser Lautsprecher ist der Kolumnist Harald Martenstein, der seine ressentimentgefettete Ahnungslosigkeit zu so ziemlich allem in dem transatlantisch-neoliberalen Oberschichtblatt „Die Zeit“ verbreitet und neulich feststellte: „Wenn es nach der Natur ginge, dann würden wir alle mit vierzig Jahren sterben.“ Nämlich sei das bei „unseren Vorfahren“ so gewesen, „die dieses total natürliche Leben geführt haben, mit Biofood, reichlich Rohkost, ohne Zigaretten, klimaverträglich und mit viel Bewegung in (sic!) der frischen Luft“.
Ein derartiger Bullshit wird heute gerne als „Humor“ verstanden, vor allem wenn sein Verzapfer vergnüglich mit dem Auge zwinkert, hi hi. Daß die durchschnittliche Lebenserwartung „unserer Vorfahren“ durch zwei Welt- und tausende andere Kriege, eine industrielle Revolution, diverse Pest- und andere Epidemien, von gewissen Schichten eingeleitete bzw. begünstigte Wellen von Ausbeutung, Sklaverei und Hunger sowie eine all dem und anderen Gründen geschuldete Kindersterblichkeit stärker gedrückt wurde als heute der billigste Billiglohn, daß große Teile der Welt von Bangla Desh über Sierra Leone bis in die Slums der toten Städte der USA nach wie vor oder erst recht so leben (und dort im Durchschnitt kaum ein Mensch vierzig wird), während der „Westen“ den überwiegenden Teil seines Bruttosozialprodukts dafür ausgibt, seine Fettmutanten mit Pharmazie und Gerätemedizin so lange am Leben zu erhalten, bis wirklich gar nichts mehr geht und es lohnender erscheint, ihre Organe zu verscherbeln – all das ist dann nicht mehr so wichtig. Hauptsache, wir können weiterhin Fastfood mampfen.
Übrigens hielten sich Menschen, die sich der Mühle von Unterdrückung, Ausbeutung, Kriegsvernichtung, Konsum und fremdbestimmter Arbeit entziehen konnten, schon immer relativ lange. Am schlimmsten waren wohl die Philosophen der Kyniker- und Stoikerschulen (nicht nur) im alten Griechenland, weil sie auch noch genau die Lebensweise pflegten, die Herr Martenstein so „humorvoll“ „auf die Schippe nimmt“: Zenon fiel mit 72 eine Treppe hinab, Chrysippos lachte sich mit 73 tot, Antisthenes erlag mit 80 einer Krankheit, Diogenes von Sinope hielt mit 90 die Luft an, und Kleanthes war fast hundert, als er nach einer Zahnfleischbehandlung beschloß, es gehe ihm ohne Essen besser.
Hingegen ist es ein gemeinsames Merkmal der Kolumnisten, deren Berufsstand erst im 20. Jahrhundert seine Blüte erlebte, daß sie sich gerne in relativ jungen Jahren zu Tode soffen. Wahrscheinlich weil sie den erbärmlichen Zustand der Welt, die sie beschreibend und kommentierend ertragen mußten, irgendwann nicht mehr ertrugen. Dazu indes braucht es einen Verstand, weshalb Herrn Martenstein dieses Schicksal wohl erspart bleiben wird. Und ich? Ich gehe jetzt ein Bier trinken.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Samstag, 6. Dezember 2014

Frisch gepreßt #323: Bleachers "Strange Desire"

Es gibt Momente im Leben, da hilft nur noch Pop. Und zwar POP! im Sinne von ab!-so!-lu! an!-ti!-„Indie“, ohne die geringste Spur von Unentschlossenheit, Unsicherheit, Selbstzweifel, Fragilität, ohne einen Hauch von Sensibilität und ohne ein Atom Angst vor Fettnapf, Schwulst und dem Donnerbalken lyrischer Juvenilität – POP! für den Ferrari auf der Strada del Sole, für die Discoromanze mit der Glitzerblondbombe, die Foucault für ein Haarspray und Morrissey für eine Kleinstadt an der Adria hält. POP! für das Billigkaufhaus mit den geilen Neonteilen, für die Chipswerbung und zum Anheizen im Baseballstadion. POP!, der so schmettert, knallt und zuckt, brüllt, lärmt und schallt, daß ein Poesiealbumsprücherl wie „I didn’t know I was lonely till I saw your face“ zum Schlachtruf wird, der eine ganze Regionalversammlung der Hells Angels in die Flucht schlägt (oder zum Mitgrölen animiert).
Sie kommen unvermittelt, diese Momente, und niemand weiß, woher sie kommen und warum; vielleicht steckt dahinter das spätsommerliche Gefühl der Vergeblichkeit: Wenn schon alles sinnlos und vorbei ist, dann werde ich mich jetzt so lange zubrettern, bis ich davon nichts mehr merke und mich nicht mehr dran erinnern kann! Oder liegt’s daran, daß die Sachen, die man aus hygienischen Gründen mit Stumpf und Stiel aus seinem Leben herausgerottet hat (i. e. Radiosender, die den ganzen Tag „We Built This City On Rock ’n’ Roll“, „Confusion“ von ELO, „Walking On Sunshine“ und irgendwas von den späten Genesis oder Mike & The Mechanics spielen), doch ein Vakuum hinterlassen haben, das man gelegentlich füllen muß, damit es darin nicht zur Bildung von Dunkler Energie kommt? Oder verlangt das Unterbewußtsein danach, daß man den üblen Krach der Welt mit ihren Kriegen und Vernichtungen ausblendet, indem man sozusagen stellvertretend „Lalalalalalala!“ brüllen läßt und sich symbolisch die Ohren zuhält?
Wie auch immer: Es gibt Momente, da ist ELO der Hammer und irgendeines der fürchterlichen späten Queen-Alben großartig, da kann man gar nicht genug kriegen von den zuckrigen und zickigen Schlonzeffekten, dem Zirpen und Bickseln der Rhythmuscomputer, von bombastischen Synthiflächen, vom Womp und Pomp der Unisonochöre und Elektroorchester, vom Massivbeton der Gitarrenwände, von der amtlichen Verläßlichkeit des Wechsels zwischen erwartungsvoll schwärenden Strophen und alles niederwalzenden Hymnenrefrains.
Dann ist man einem wie Jack Antonoff dankbar. Der ist übrigens kein schlechter Kerl, ist zu High-School-Zeiten mit der Punkband Outline (nein, kenne ich auch nicht) durch Florida und Texas gezogen, hat bei Steel Train (muß man nicht kennen) und einer Band mit dem vielsagenden Namen fun gespielt, die einen Nummer-eins-Hit mit dem vielsagenden Titel „We Are Young“ hatte. Antonoff hat sein Handwerk gelernt, und wenn er ein paar Jahrzehnte früher geboren wäre, hätte er wahrscheinlich „Walking On Sunshine“, „Confusion“ und „We Built This City On Rock ’n’ Roll“ geschrieben.
Daß das Debütalbum seines neuen Projekts (das ein solches wohl insofern ist, als daran dem ersten Höreindruck nach lediglich ein Tablet und ein paar Apps, aber keinerlei menschliche Unwägbarkeiten beteiligt waren) emotional und seelisch nicht die geringste Spur hinterläßt, darf man nicht falsch verstehen, sondern als Vorzug und entscheidende Stärke: In den Momenten im Leben, in denen nur noch POP! hilft, ist es fast unschlagbar, weil es knallt, fetzt und schwärt, ohne auch nur die Erinnerung zu belasten, und dabei aber frei ist von der miefigen Käsigkeit, die die „Klassiker“ des POP!-Genres ebenso unerträglich macht wie diverse Boygroup-Bemühungen.
Yeah, es gibt so Momente, aber Obacht: In anderen Momenten drohen akute Überzuckerung und temporäre Migräne.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 3. Dezember 2014

Belästigungen 23/2014: Gemein: Nur noch ranzige Promis über 40 auf der Anzeigetafel (und null Streetfood-Kultur)!

Es ist halt so, daß man Zeit braucht. Zum Beispiel wenn man wo hinkommt und feststellen (oder erspüren) möchte, wie es da ist und was es da gibt und so weiter. Wenn einer in eine Stadt kommt, braucht er dafür unter Umständen sehr lange, weil eine Stadt etwas recht Großes ist, mit so vielen Ecken, Winkeln, Zipfeln, Ausläufern, Buchten, Stellen, Plätzen, Orten und Winzigkeiten, daß ein Leben wahrscheinlich gar nicht ausreicht, um sie alle zumindest einmal gesehen zu haben.
Wahrscheinlich macht das Städte so faszinierend und so anregend. In einem kleinen Ort – vor allem wenn er architektonisch und in seiner Gesamtanlage dem deutschen Ideal „Schönheit brauchen wir nicht! Dafür haben wir ein Museum!“ folgt – stößt man schnell an die Grenzen von Interesse und Neugier (solange man die Schlafzimmer und Keller der Nachbarn nicht mit einbezieht), und wenn ein menschliches Gehirn an die Grenzen von Interesse und Neugier stößt, stumpft es ab und wird, wenn es lange und gründlich abstumpft, am Ende ein Nazi oder ein Harzer Käse ohne Kümmel.
Man kann allerdings auch in Städten abstumpfen; dazu muß man sie nur oft genug wechseln und sich in der jeweils aktuellen Umgebung bloß die paar Sachen anschauen, die angeblich „typisch“ oder „wichtig“ sind – für mehr bleibt dem modernen Ausbeutungsmigranten im Normalfall sowieso keine Zeit. Deshalb wimmelt es in den letzten Jahren nur so vor Stadtbeschreibungen, in denen nichts drinsteht als ein paar Klischees, besonders gerne von sogenannten Journalisten verfaßt, die bekanntermaßen besonders oft die Stadt wechseln und ihre Buntgetränke am liebsten an den Stellen einnehmen, die angeblich gerade „typisch“ oder „trendig“ oder „angesagt“ (von wem eigentlich?) oder „wichtig“ oder pipapo sind.
Da ist München ein besonders beliebtes Opfer. (Nicht nur) Journalisten, die es in diese wunderschöne Stadt verschlagen hat, wollen generell so schnell wie möglich nach Berlin und sind, solange das noch nicht geht, grundsätzlich sauer, weil es in München Sachen gibt, die anders sind als in Berlin. Jeglichen Versuch, die Stadt kennenzulernen, erstickt der Dünkel, man kenne sie ja längst und was man noch nicht kenne, sei „lebensunwert“, dimpfelig und sowieso das Letzte.
Daß München (ebenso wie wahrscheinlich jede andere Stadt, möglicherweise aber noch ein bisserl mehr) schwer bis kaum zu durchschauen und zu verstehen ist, ist abgesehen von der erwähnten grundsätzlichen Aussichtslosigkeit solcher Bemühungen ein alter Hut. Dazu braucht man bloß die einschlägigen alten Serien von Helmut Dietl anzuschauen und zu verstehen versuchen, warum sie so schön sind; dazu kann man notfalls auch den Roman „Erfolg“ von Lion Feuchtwanger lesen und feststellen, daß nicht einmal dieser ansonsten wohl recht begabte Autor und Journalist in den einundvierzig Jahren, die er in München aufwuchs und wohnte, besonders viel von München verstanden hat (wenn er zum Beispiel versucht, Karl Valentin zu beschreiben).
Für Münchner ist das großartig: Es sorgt nämlich dafür, daß die Karrierekreisel so hurtig wie nur möglich vom Flughafen durch die Stadt wieder zum Flughafen kreiseln und zwischendurch nicht groß stören; wenn sie aus ihren Karrierezellen mal rauskommen, um eine „Freizeit“ zu haben und „die Stadt zu erleben“, rumpeln sie sofort an die einschlägigen Erlebnisausgabestellen, quetschen sich in Massenherden durch Erlebniszonen, rudeln abschließend vor „Szenetreffs“ herum und kübeln norddeutsches Industriebier, um sich am nächsten Tag nur noch daran zu erinnern, daß es irgendwie scheiße war, und den Umzug nach Berlin voranzutreiben.
Schon deshalb freut es den Münchner, daß der solch Verhalten fördernde Dumpfbullshit immer mal wieder von „Medien“ (i. e. Gespenstersehern) zum Hype aufgeblasen wird. So listete etwa kürzlich ein schludrig zusammengebappter Riemen in einer angeblich milliardenfach „gelesenen“ Onlinezeitung „15 häßliche Wahrheiten, die Ihnen ein Münchner nie über seine Stadt erzählen wird“. Zum Beispiel diese: „Die Lebenshaltungskosten sind mittlerweile so hoch, daß Unternehmen Probleme haben, neue Mitarbeiter zu finden“ (was selbstverständlich das einzig Schlimme an den hohen Kosten ist: Man findet nicht mehr genug Billiglohnsklaven).
Bemängelt wird zudem, daß es in Leipzig einen City-Tunnel gibt und in Thüringen eine „hochmoderne ICE-Trasse“ gebaut werde, man in München hingegen mit der S-Bahn fahren müsse, in deren Bahnhöfen die Anzeigetafeln „ranzig“ und die Kacheln „versifft“ seien, daß Münchner meist dort arbeiten, wo die Stadt am häßlichsten ist (während, ergänzen wir in Gedanken, Konzerne wie BMW und Siemens anderswo in Jugendstilvillen mit prächtigen Gärten und Orangerien residieren und die Menschen dort, wo es am häßlichsten ist, lediglich wohnen müssen), daß München keine „Streetfood-Kultur“ habe und „keine grüne Stadt“ sei, sondern „Deutschlands Betonhauptstadt“, daß hier „keine Kunst mehr geschaffen, sondern nur noch ausgestellt“ werde, daß die Ladenöffnungszeiten eine Zumutung seien, und zwar für jeden Arbeitnehmer (vor allem für den, der nicht bis Mitternacht an einer Ladenkasse stehen muß), weil es „keine Späti- oder Büdchenkultur“ gebe, daß das Oktoberfest kein Volksfest mehr und München eine „Stadt der Alten“ sei – weil „sämtliche relevanten Prominenten über 40 sind, die meisten sogar über 50“.
Dieser Quark wird dann noch drei-, viermal anders ausgerührt, so daß schwuppdiwupp fünfzehn einander ergänzende, widersprechende oder wiederholende „Wahrheiten“ draus werden. Und schon fliegt die Kuh, d. h.: Schon plappert man in den Szenetreffs zwischen den Berlinumzugsgesprächen fünf Minuten lang über den Schmarrn, sondert gar ein Mann von der sogenannten Abendzeitung ein paar Zeilen ab. Nächste Woche kommt dann der nächste Hype, wenn sich zum Beispiel herausstellt, daß der Englische Garten gar nicht so schön ist, weil da so viele Leute hingehen.
Da muß man sich ein bisserl zusammenreißen, aber das tut man gerne, weil: Es ist ja gut so. Kommet nur alle, ihr Nichtmünchner, kommet zu Hauf, findet keinen Arbeitsplatz, sucht vergeblich nach Späti, Büdchen, Streetfood, Jungpromis und City-Tunnel, schließt euch dem Massenaufmarsch zwischen Reichenbach- und Wittelsbacherbrücke an, bejammert versiffte Kacheln und besteigt den Zug nach Berlin, um die unfrohe Kunde weiter zu verbreiten! Aber meidet die Ecken, Winkel, Buchten, Ausläufer, Zipfel und Winzigkeiten, die Stadtteile, die (wie ebenfalls bejammert wird) „in einer Parallelwelt vor sich hindämmern“, wo man „vom bunten Leben in der Innenstadt nur wenig mitkriegt“!
Dort nämlich lebt man, dort blühen Idyllen, Kunst und Widersinn, die man nur begreifen kann, wenn man dort (und hier) lebt. Dort aber atmet man auch auf, wenn wieder mal ein Trupp von euch nach Berlin weitergezogen ist, ohne auf dem Weg noch schnell eine ganze Welt zu zerstören, um sie zum „lebenswerten“ „Hotspot“ zu kastrieren. Um das zu begreifen, braucht man Zeit, und die – ja mei – habt ihr nicht.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 26. November 2014

Frisch gepreßt #322: Bear Hands "Distraction"


Am ersten Ferientag nach der dritten Grundschulklasse lagen wir im Schyrenbad und kannten weder Zeit noch Raum; es duftete nach warmen Chlorwasser, das am Beckenrand in Pfützen verdampfte, in die man sich manchmal legte, wenn man zu lange im Wasser gewesen war und nun mit himmelhellblauen Lippen sofortige Erwärmung suchte; es duftete nach feuchtem Gras, nach Schaumwaffeln, Pommes frites, Waldmeistereis und Americana-Comic-Kaugummi. Alles war himmelhellblau und waldmeistergrün, und neben meinem waldmeistergrünen Handtuch lag ein Buch, das ich mir aus der Stadtbücherei in der Deisenhofener Straße ausgeliehen hatte: „Gepäckschein 666“; ich war aber zu faul zum Lesen, schaute lieber in den himmelhellblauen Himmel und dachte an: nichts.
Seltsam, daß es damals im normalen Leben keine Musik gab. Um die zu hören, mußte man sich zu Hause vor den Plattenspieler setzen, und wer setzte sich schon im Sommer zu Hause irgendwo hin? Also gab es keine Musik, oder doch: im Kopf. Leider weiß ich nicht mehr, was für Musik das war und ob es sie im wirklichen Leben auch gab. Später habe ich oft an „Gepäckschein 666“ gedacht und mich gefragt, ob es das Buch wirklich gab und ob ich es je gelesen habe.
Heute morgen, am 1. August, bin ich unter dem himmelhellblauen Himmel die Leopoldstraße entlanggeradelt und sah auf einer Bank ein paar Bücher liegen, die jemand da hingelegt hatte, damit sie jemand anderer mitnimmt. Es waren lauter Bücher mit kyrillischen Schriftzeichen und blassen Schwarzweißbildern, gedruckt irgendwann in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in der Sowjetunion. Nur eines war deutsch: „Gepäckschein 666“. Da dachte ich, das ist vielleicht ein Zeichen. Aber wofür?
Zu Hause spielte mein Computer zufällige Musik, wie er das manchmal tut, um mich vielleicht neugierig zu machen. Einige Zeit plätscherte das so vor sich hin, aber plötzlich wurde ich hellwach: Da lief „Party Hats“ von Bear Hands, und das ging mir nach vier Sekunden schon so sehr nicht mehr aus dem Kopf, als bestünde mein ganzes Gehirn, mein ganzer Körper daraus. Erstaunt stellte ich fest, daß ich das Lied und das ganze Album im Februar schon mal gehört hatte, ohne es zu bemerken. Wie geht das? Noch erstaunter stellte ich fest, daß die Platte nächste Woche noch mal erscheint, wie das Platten früher manchmal taten, wenn sie für die deutsche Plattenindustrie erst einmal zu neu, zu fremdartig, zu gut waren. In diesem anachronistischen Fall: ein Glück, weil der August die ideale Zeit ist für diese Mischung aus himmelhellblauem Synthesizerpop, klirrenden Gitarren, kantigen New-Wave-Grooves, waldmeistergrünen Stimmen in windig-kühlen Hallräumen, wütendem Punk, nüchternem Achtziger-Tanz-Chrom/Plastik/Glas, Postpunk-Indietronik, hochsommerlich schwebender Glücksmelancholie, mediterranem Shabby-Chic-Glanz und Melodien, die im Gedächtnis kleben wie Americana-Comic-Kaugummi. Und weil „Thought Wrong“ die seltsamste, traurigste, schwereloseste Ballade ist, die ich seit langem gehört habe, und mich durch mehr als einen einsamen Herbst begleiten wird wie ein tröstender Geist.
Es interessiert mich nicht, was Kritiker daran beanstanden („zu repetitiv“, „zu radiofreundlich“), was für Referenzen sie bemühen: The Police, MGMT (mit denen Sänger Dillon Rau zur Schule gegangen ist), The Clash, Hall & Oates, Foster The People, Vampire Weekend, INXS, The Dismemberment Plan, The Fixx, Mansions, Phoenix … das ist alles Quatsch und stimmt wahrscheinlich trotzdem, aber es hilft gegen die Magie glücklicherweise so gut wie Aspirin gegen eingewachsene Zehennägel.
Drum ist’s egal. Ich fahre jetzt zum Baden, wickle „Gepäckschein 666“ in mein waldmeistergrünes Handtuch, und diesmal habe ich Musik dabei – vielleicht ist es sogar diese Musik, die damals in meinem Kopf lief. Schöne Ferien.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Samstag, 22. November 2014

Belästigungen 22/2014: Ich! bin! alt! und! du! nicht! (eine Tirade)

Neulich war ich zu einem Poetry-Slam geladen. Früher durfte man dort so ziemlich alles, was oft recht spannend war. Seit Julia Engelmann (googeln: auf eigene Gefahr) gilt Regel Nummer eins: Du bist jung. Und du mußt davon schwärmen, wie geil es ist, jung zu sein.
Wer jung ist, hat Chancen, Optionen, Möglichkeiten, Aussichten, eine Zukunft! Aber keine Gegenwart. Die besteht aus Lernen, Aufsagen, Terminen, Jobs, Vorstellungsgesprächen, Praktika, sich endlos den Kopf zermartern, was für Chancen, Optionen, Möglichkeiten man nutzen soll und wie das geht.
Das ist mein Glück: Da, wo ich aufgewachsen bin, hat es keine Chancen und keine Zukunft gegeben. Da hieß es: jetzt Schule, später Arbeit, Rente, dann aus. Aber es gab eine Gegenwart: Fußballspielen, Musik, rumhängen, Leute ärgern, Sachen kaputtmachen, Sex haben, zum Baden fahren, Bücher lesen, spazieren gehen, in der Sonne liegen, nachdenken. Ich habe nie verstanden, wozu ich eine Zukunft brauche, wenn ich eine solche Gegenwart habe. Ich wollte, daß das immer so weitergeht, ohne Zukunft.
Jetzt bin ich alt und habe keine Zukunft mehr. Und ihr habt immer noch eine. Ihr lernt auswendig, habt Termine, Praktika, Chancen. Und furchtbar Angst davor, alt zu werden, weil das dann aufhört. Keine Sorge, das hört auf. Und dann dauert es noch mal 15 Jahre, bis ihr kapiert, daß es eine Zukunft gar nicht gibt, weil sie immer in der Zukunft liegt und nie hier ist. Wahrscheinlich jammert ihr dann, daß ihr nicht alles anders gemacht, andere Chancen, Optionen, Möglichkeiten genutzt habt.
Ich will nichts anders machen, nicht mal die schlimmsten Dinge, und ich will nichts noch mal erleben, auch nicht die schönsten Momente, weil die schönen Momente, die ich erlebt habe, niemals verschwinden. Und weil ich das weiß, im Gegensatz zu euch, die ihr in eurer ohnmächtigen Trauerduseligkeit angeblich verpaßten Chancen hinterherheult und eine armselige „Zukunft“ beschwört, die in eurer rudimentären Phantasie sowieso nicht mehr ist als ein Remake des Vorstellungsgesprächs von letzte Woche mit leicht verändertem Dialog und etwas teureren Möbeln.
Wozu sollte ich jung sein wollen? Wozu sollte ich in einem Zustand sein wollen, in dem all die wunderbaren Dinge, an die ich mich erinnern kann und die deswegen immer da sind, noch gar nicht passiert sind? Wozu sollte ich all die schrecklichen Dinge, bei denen ich froh bin, daß ich sie hinter mir habe, erst noch erleben wollen? Den ersten Vollrausch, die erste Kotzerei, die erste Scheißliebe, die einen wegen irgendeinem Arsch mit Ohren sitzen läßt? Wozu sollte ich all die Bücher erst noch finden müssen wollen, die mich klug und glücklich gemacht haben?
Auf meinem Computer sind 702 Tage Musik. Es hat Jahrzehnte gedauert, die schönste, tollste, krasseste Musik der Welt zu entdecken und lieben zu lernen. Jetzt kann ich darüber verfügen, wie ich will, mein Leben damit füllen, schmücken, zu einem Traum machen. Wenn ich diese Musik höre, erwachen Erinnerungen, Augenblicke, Empfindungen, die intensiver sind als irgendeine eingebildete Zukunft. Wenn ihr diese Musik hört, empfindet ihr nichts, weil ihr noch nichts erlebt habt und nicht wißt, wie man etwas empfindet.
Wofür sollte ich mit einem Quarkpudding vollidiotischer politischer Meinungen im Kopf durch die Gegend laufen wollen, wenn es mich Jahre gekostet hat, diesen dreimal verdauten Mainstreampropagandamüll nicht nur nicht mehr nachzuplappern, sondern mir nicht einmal mehr anzuhören und damit kostbare Lebenszeit zu verschwenden?
Oder reden wir über Sex. Darüber redet ihr nicht mehr gern, weil das unhygienisch ist und man dazu nackt sein muß und weil der andere dann merkt, daß man Problemzonen hat. Wozu soll ich über Problemzonen nachdenken? Wozu soll ich mir das armselige Gestocher, Gequietsche und Gereibe, diesen Firlefanz aus Verklemmtheit, Verklemmung, ungewaschenen Geschlechtsteilen, halbgelernten Kußtechniken und vollgeschleimten Tempotaschentüchern zurückwünschen? Fragt eure Freundinnen, wieso sie lieber mit Alten ins Bett wollen. Und wenn sie das nicht wollen, dann sucht euch neue Freundinnen, damit wenigstens ihr was davon habt.
Ja, ich bin alt, und euer Argument, ich hätte nicht mehr viel Zeit, ist Quatsch: Im Gegensatz zu euch habe ich Zeit, weil ich sie nicht mehr mit Dummheit, blöden Ersterfahrungen, Arbeit, Streberei, Irrtümern, Scheißlieben und Drecksbeziehungen, vergeblichen Hoffnungen, Konsum, Plapperei, Ohnmacht, schlechten Büchern, beschissener Musik, üblen Parties, vollgeschleimten Tempotaschentüchern und diesem ganzen überflüssigen Zeug verschwenden muß, sondern damit anfangen kann, was ich will.
Ja, ich bin alt. Und ich werde sterben. Wir werden alle sterben, ihr auch. Aber bei mir ist sicher, daß es mir gelungen ist und gelingt, so zu leben, wie ich will. Bei euch warten wir das lieber mal ab. Zwischen 20 und 30 sterben mehr Menschen als zwischen 50 und 60: auf Autobahnen, an Überdosen, beim Extremsport, an Krankheiten, von denen ich weiß, daß ich sie nie gekriegt habe, und von denen ihr nicht wißt, ob ihr sie nicht nächste Woche kriegt.
Alt zu sein hat mich verdammt viel Zeit und Mühe gekostet. Und ich will noch viel älter werden und sein, und das ist das Fieseste an der ganzen Geschichte, was euch wahrscheinlich so wütend macht, daß ihr euch mit Gewalt einbilden müßt, es sei etwas Tolles, jung zu sein: Ihr werdet mich niemals einholen. Ätsch.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Mittwoch, 12. November 2014

Frisch gepreßt #321: Neil Diamond "All-Time Greatest Hits"


Für die Generationen, denen ich angehöre, war Neil Diamond schon ein Witz, als wir noch gar nicht richtig wußten, wie man lacht. Ich meine: Wer irgendwann mal, warum auch immer, versehentlich „Song Sung Blue“ hört, dem haut es automatisch den Vögel aus dem Häuschen (insbesondere in der unfaßbar anti-selbstironischen und dabei vollkommen souveränen Version auf dem Livealbum „Hot August Night“). „Everybody knows one / Every garden grows one“ – ho! ho!
Neil Diamond war die perfekte Musik für Pseudoerwachsene, die nicht viel mehr vorweisen konnten, um diesen Zustand zu rechtfertigen, als Auto- und Hausschlüssel (für eine Bude, die samt Garage identisch aussah wie 35.000 andere Buden in den umliegenden Suburbs), einer treu grinsende Frau (die fünf Jahre später, ab etwa 1977, ihrem Psychiater vorjammern würde, sie sei in das alles hineingeschlittert), einem Job (Auto oder Atom) und der rechtlichen Verfügungsgewalt über die Kinder (die ab sechs bei ihrem eigenen Psychiater saßen, wegen aller möglichen „Entwicklungsstörungen“, und mit sechzehn Dad den Finger zeigten und zu Hippiefestivals trampten, wo sie drei Tage lang im Schlamm ertranken und hinter irgendeinem Caravan selber Kinder zeugten, die sich fünfzehn Jahre später mittels Fastfood und Vitamintabletten in ungeschickt nachgebildete Kopien ihrer Autos verwandelten).
Neil Diamond ist der dritterfolgreichste Erwachsenenpopmusiker aller Zeiten, und das liegt an der Perfektion, mit der er stets das (etwas) Falsche machte. Daß die Monkees mit seinem „I’m A Believer“ ihren und einen der größten Hits überhaupt landeten, lag wiederum an dem haarsträubenden Kontrast zwischen der naiv-irren Versponnenheit und witzsprühenden Renitenz der Darsteller und der gipsernen Hartfressigkeit des Liedes, das sich nur in ihrer Version selbst entlarven und ernstnehmen zugleich konnte.
Neil Diamond war immer, immer einer, der darzustellen versuchte, was er nicht war: Everly Brother (ganz zu Beginn seiner Karriere), Countrysänger, Zweitliga-Billy-Joel, Rocker, Jazzer, Jugendidol, Popstar, Crooner, reifer Liedermacher, nachdenklicher „Great Old Man“. Bezeichnend, daß er wirklich Neil Diamond heißt, sich aber anläßlich seines zweiten Plattenvertrags einen Künstlernamen zulegen wollte: Noah Kaminsky oder Elce Charry. Vielleicht typisch für ihn insgesamt ist das Album „Brother Love’s Traveling Salvation Show“ von 1969, auf dem er sogar so etwas wie einen Hippie zu verkörpern versuchte, sämtliche gängigen Popgenres der Zeit unfreiwillig parodierte und zugleich Botschaften von einer derartig reaktionär-selbstzufriedenen, höchstens mal weinerlichen Biederkeit verbreitete, daß sich sein Publikum (s. o.) nach dem Ausschlußverfahren von selbst bildete. Die Erzähler dieser Songs hegen vieles, aber nie und nimmer Selbstzweifel, und daher ist die „Liebe“, von der sie oft schwärmen, nichts anderes als Erdnußbutter und der Gott, den sie noch häufiger loben, eine Art Ronald McDonald mit Donnerkeil.
Es mag einen zum Haareraufen bringen, daß der Sohn einer jüdischen Familie mit polnischen und russischen Vorfahren aus den vielen krassen Dingen, die ihm in 73 Jahren Leben widerfahren sind, nie mehr gemacht hat als höchstens einmal pseudonachdenkliche Couplets – unbestreitbar ist abseits der Textfrage sein Spürsinn für uramerikanisches Liedgut, für Zewa-wisch-und-weg-Lieder und Hot-Dog-Songs, die man beim Einkaufen hört und nie wieder vergißt, obwohl man sie gar nicht bemerkt. „Girl, You’ll Be A Woman Soon“, „A Little Bit Me, A Little Bit You“, „Red Red Wine“, „Kentucky Woman“, „You Don’t Bring Me Flowers“, „Solitary Man“ … Man könnte eine Riesenliste zusammenstellen, von der mindestens die Hälfte selbst bei Semifachleuten zu dem Ausruf „Was, das ist auch von dem?!“ führte.
Und dann kommt irgendwann die Nostalgie, die die schlimmsten Schlimmheiten zu pflegenswertem Kulturgut macht (vgl. z. B. Elton John). Daß Rick Rubin mit seinem Versuch, den späten Neil Diamond zu einer Johnny-Cash-ähnlichen (oder -antipodischen) „Lonesomer“-Gestalt auszubauen, scheitern mußte, versteht sich von selbst; überraschend hingegen ist die Wohligkeit des Fracksausens, das Angehörige meiner Generationen überkommt, wenn sie all diese (insgesamt 23) Sachen (wieder-)hören: Doch, das hat was, sogar eine Art klassischer Schönheit, und selbst wenn’s nur die Bilder einer versunkenen Welt sind, die diese Songs heraufbeschwören.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Freitag, 7. November 2014

Frisch gepreßt #320: Morrissey "World Peace Is None Of Your Business"


Manchmal möchte man meinen, es sei alles gesagt. Schlußsteine und Abspänne haben die schöne Eigenschaft, daß nach ihrem Auftreten und Erscheinen der Meinungsführer die Feder spitzen und Gesamtbilanz ziehen kann: Was war’s denn nun, in weltgeschichtlichem Kontextzusammenhang? Und was war’s wert?
Bei Morrissey wünscht sich das so mancher lange schon, weil der Nachruf zu Lebenszeiten in der Schublade liegt und nur noch etwas aufgehübscht, mit ein paar aktuellen Nachwörtchen berüscht und der aktuell gültigen Rechtschreibung angepaßt werden muß. My dear, ist das etwa kein Lebenswerk: eine der wichtigsten Bands aller Zeiten, neun Soloalben, von denen (vielleicht mit Ausnahme von Nummer zwei und drei) ein jedes besser war/ist als das vorhergehende, eine doppeldaumendicke Autobiographie, die bei Penguin Classics erschienen ist – und aber verdächtig doppelt und doppelt verdächtig endet: Mit den Worten „and it was dark, and I looked the other way“ schließt der Text; den knappen Danksagungen indes ist das Motto beigefügt: „Whatever is sung is the case.“
Und so wird weitergesungen, und Steven Patrick Morrissey, kürzlich 55 geworden, wäre ja auch ein Depp, wenn er seine weltgeschichtlich einzigartige Stimme fortan müßigem Teestundengeplauder vorbehielte. Damit die Bilanzeure auch gleich wissen, daß dies und auch dies kein Schlußstein und kein Abspann ist, hat er seinem zehnten Soloalbum (das ebenso ein Gang-Album ist wie die letzten sechs) ein Cover aufgesetzt, das als finales, alles bereits Gesagte noch mal kurz aufscheinen lassendes Statement so gut geeignet ist wie ein gestreckter Mittelfinger mit herausgestreckter Zunge als Grabrede.
Daß sein Hang zur bitteren, oft alle Grenzen auch der Selbstachtung überschreitenden Ironie, zum maßlosen, sich selbst (und allem anderen aber erst recht) ins Gesicht spuckenden Zynismus, zur rasierklingenscharf schneidenden Klugbosheit, zum triumphalen Trotz mit den Jahren eher immer stärker wird, neue Kanäle in noch wilderen, noch poetischeren Textzeilen sucht und findet – das versteht sich irgendwie auch von selbst: „Das Gute und das Böse müssen dokumentiert werden. Das Leben ist eine ernste Angelegenheit, wozu sollte man also so tun, als wär’s das nicht?“ rief er kürzlich den planetaren Horden der ohnmächtigen Spaßgesellschaft entgegen, die über nicht mehr zu singen wissen als über mißverstandene, in Plastikfolie verpackte Plastikdinge, die sie für Sex halten, den „fetten 19jährigen“, die unter Stil nicht mehr verstehen als „Klamotten zu kaufen, die zum Sofa passen“.
Musikalisch ist die Sache punktuell vertraut: schwere, leichtfüßige, schwebende, wie Lava walzende Harmoniefolgen, hymnisch arrangiert, in große Refrains mündend, die das Schicksal der Welt („Earth is the loneliest planet of all“) auf den spürbaren Punkt bringen. Aber die Überraschungen und schönen Schritte nach vorne und zur Seite purzeln nur so aus dem Schrank; man höre etwa „Smiler With Knife“ und versuche einen Vergleich für diese seltsam entspannte, dräuende Horrorballade zu finden – es darf schon mal erwähnt werden, daß es durchaus etwas Ungewöhnliches ist, wenn ein Liederdichter Mitte fünfzig nicht krampfhaft versucht, seine späte Jugend als Farce heraufzubeschwören oder noch verkrampfter sich in irgendeine Ruhmeshalle von Konsensvorbildern hineinzumeißeln, sondern einfach reift, indem er Neues versucht, auf was man mit 30 nie kommen könnte, und Altes weiter formt, beschleift, perfektioniert (ohne es je perfektionieren zu können, ehe nicht wirklich der Schlußstein gesetzt und der Abspann verklungen ist).
Das sind nicht nur Gags, Trompetenintros, spanische Gitarren, versetzt-progressive Akustikriffs, eigenartig verschrobene Breaks, ein jazziges Oboensolo; es ist das Ergebnis der Ausschöpfung aller musikalischen Möglichkeiten, die eine Entwicklung über etwas mehr als 30 Jahre eröffnet. Und damit war von den Texten noch gar nicht die Rede, die in poetischster Form und ohne Rücksicht auch auf sich selbst tun, was Poesie im allerbesten Falle tut: das Unfaßbare, die Dinge, das Leben und die Welt (selbstverständlich auch die tagesaktuelle) in be-greifbare Bilder und Zeichen gießen, die den unschätzbaren Vorteil haben, auch noch von blendender Schönheit zu sein.
Mag das nächste Album noch einmal fünf Jahre auf sich warten lassen – was sind schon Jahre? Wir haben bis dahin genug zu tun.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Belästigungen 21/2014: Vom Dämmern zwischen Urzidil, Schnepfenthal und Zitterspinne

Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders wenn er so angeschlichen kommt wie dieser, jeden Tag und jeden Tag aufs neue verkleidet als späte Halbschwester des seit Juli spurlos vermißten Sommers, frivol zum Fenster hereinblinzelt, so daß man sich jeden Tag und jeden Tag aufs neue draußen findet, Fuß in der müden Isar, Kopf im taufeuchten Gras, der Blick im milchigen Sonnenhimmel versunken. Wie soll da etwas vorwärtsgehen, wenn die zwei Drittel des Lebens, die man aus guten Gründen vergessen hat, wie Schusterpilze, Fichtenreizker und Pfifferlinge herausploppen aus der Wiese der Vergangenheit und säuselnd-verlockend flüstern von Dingen, die eventuell nie waren, jedenfalls nicht so, bis das gesamte Bewußtsein und Gemüt mit einem nostalgischen Pfannkuchen überzogen ist?
Bis dann endlich doch eines Tages das Wolkenplumeau sich nicht lichten will, blutorangenfarbene Blätter wie eine Horde verspäteter Zaunkönige und Rotkehlchen um die leere Luft tanzen und gar ein paar Tropfen als mahnend-monotone Wasseruhr allgemeines Schwinden darstellen: Dann ist mit einemmal der Himmel nicht mehr der Hut, die Erde nicht mehr der Schuh, sondern die eigene Wohnung eine sanfte Höhle, von der man erstaunt feststellt, daß man ihre Entwicklung seit Monaten nicht mehr verfolgt hat.
Auf dem Schreibtisch findet sich ein alter Zeitungsausriß mit einer interessanten Information: „In über einem Drittel der Haushalte in Deutschland“, heißt es da, „kreuchen und fleuchen 28 Millionen Haustiere.“ Schon spürt man ein eigentümliches Kribbeln und Zippeln, ein Huschen und Sirren, Flirren und Krabbeln, und wenn man müßig in den Ring von Blätterchen pustet, den das Granatapfelbäumchen auf dem Fensterbrett kokett um sich gelegt hat, und erstaunt zuschaut, wie eine Großfamilie von Zitterspinnen panisch-unbeholfen in alle Richtungen davonhumpelt, erscheint einem diese Mitteilung sehr plausibel.
Dann, o ja, ist es Zeit zum Aufräumen. Diese hochzivilisatorische Tätigkeit, die jeden Herbst so zuverlässig wiederkehrt wie bald darauf das Weihnachtsspektakel (und bei der durchschnittlich etwa dreißig längst verloren geglaubte oder überhaupt vergessene Gegenstände wieder auftauchen und ebensoviele für mindestens ein bis fünf Jahre verschwinden), bedarf höchster Akribie und Sorgfalt. Wie schrecklich die Menschen, die einmal die Woche mit dem Staubsauger durch die Bude röhren und kein Auge haben für all die Kleinigkeiten, das Strandgut häuslichen Lebens, das dabei für immer aus der Welt gerät!
Also wird zunächst der Schreibtisch „aufgeräumt“. Eine vergilbte Telephonnummer ohne Namen, eine spätnächtlich unleserlich hingekritzelte Notiz für eine Kurzgeschichte, eine goldgelb verfärbte Vorab-CD aus den Neunzigern (ohne Beschriftung), ein Flyer für eine nicht besuchte Premiere, drei verstaubte bunte Steinchen vom Strand bei Grosseto, eine finanzamtliche Mahnung, von der man nicht mehr weiß, ob man ihr Folge geleistet hat, ein jungfräulicher ZDF-Notizblock, von dem man ahnt, daß man ihn auch die nächsten fünfzig Jahre nicht benutzen wird, eine norwegische Briefmarke, auf deren Rückseite der Titel eines Films steht, den man nie gesehen hat, ein erfreuliches Blutbild von 2012, eine Aschenbecherscherbe aus dem Westbury-Hotel in Dublin, ein Kindergartenportrait einer verflossenen Bekannten, ein praktischer Riemen für Kabel, der Stempel einer unbekannten Firma mit vierstelliger Postleitzahl, eine Einladung zum Erstsemesterfest (1998), ein undefinierbares Holzfigürchen mit vier Beinen und angeleimtem Wackelkopf, ein leeres Feuerzeug mit der Aufschrift „Drogen nur vom Fachmann“, der Hinweis auf einen Literaturwettbewerb (Einsendeschluß 31. 3. 2011), ein alter Backstagepaß, ein USB-Kabel für ein kaputtes Telephon, drei Knöpfe von einer kaputten Jacke, ein Stück Plastik, das im Dunkeln leuchtet, ein Lederbändchen, zwei Matchbox-Superfast-Räder mit Achse … – darf man derartige Dinge einfach so hinfortschmeißen, auf die Gefahr hin, daß irgendwann, in Jahrzehnten vielleicht, der Moment kommt, wo man sie doch mal brauchen kann oder wo sie einen wunderlichen Lichtfinger der Erinnerung in ein dementes Hirn hineinfallen lassen?
Selbstverständlich nicht. Also läßt man das meiste, wie es ist, wendet sich dem überquellenden Kleiderschrank zu, bringt es aber nicht übers Herz, auch nur ein einziges der steinzeitalten T-Shirts, eine einzige der zerfetzten Jeans aus Schulzeiten zur Kleidersammlung zu tragen (wer sollte so was anziehen?), und hebt sogar durchlöcherte Socken auf, weil man schon seit Jahren plant, aus ihnen und einem zerschlissenen Handtuch eine hübsche Rolle zu basteln, die man im Winter ans Fenster legen kann, um zu viel Zugluft zu verhindern.
Vom Bücherregal wollen wir gar nicht reden. Da hat die italienisch kommentierte Ausgabe von Ovids „Fasti“ (Florenz 1822) ebensowenig zu befürchten wie Christian Gotthilf Salzmanns „Joseph Schwarzmantel oder Was Gott thut, das ist wohlgethan“ (wohlfeile Ausgabe für Schüler, Schnepfenthal 1834), Autoren wie Urzidil, Utermann, Utzinger und Uzarski, die wahrscheinlich kein Mensch mehr kennt und nie mehr kennen wird, die in Teilen zerfledderten Gesamtwerke von Irren wie Seeliger und Scherr, die „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ von Walter Ulbricht, „Ereignisse und Gestalten“ von Wilhelm II., Helmut von Hummels „Aus meinem Leben“ und die Gesprächsprotokolle der Kommune 2.
Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders wenn er so lange dauert, daß man ganze Tage in und zwischen Regalen verbringt und hineindämmert in obskure Lesezeichen, An- und Bemerkungen, bis man vollkommen vergessen hat, was man irgendwann „ursprünglich“ mal wollte („aufräumen“?). Aber dann scheint eh schon wieder die Sonne, haben 28 Millionen Zitterspinnen neue Netze erbaut, und zum Staubsaugen bleibt nächsten Herbst auch noch Zeit.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1-400 sind in vier Bänden als Buch erhältlich.



Samstag, 1. November 2014

Belästigungen 20/2014: Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie hätten diese Kolumne (und sich selbst) selbst ausgedruckt (mit Kümmel)!

Im modernen Wahnkarneval um IT-, Marketing- und andere unwürdige Plemperljobs ist es wohl unvermeidlich, daß manch ehrenwerter Beruf längst nicht mehr die Wertschätzung erfährt, die er verdient. Zum Beispiel der Kümmelbauer: Tagein, tagaus bestellt er sein Kümmelfeld, erntet das edle Würzkorn, trocknet und reinigt, sortiert und poliert es, läßt es vom Kümmellieferanten in die große Stadt karren, auf daß der Bäcker etwas Gutes daraus mache.
Leider ist der Bäcker heute kein Bäcker mehr, sondern Fließbandminijobber bei einem (wörtlich übersetzt) „Rückenladen“-Konzern, hat möglicherweise sogar „Sporteventmarketing“, ähem, „studiert“, dann aber nichts zu eventmarketen gefunden, weil der gesamte Sport in Europa und der Welt bereits geradezu surrt und brummt vor Marketing und Events, und steht nun also in einer Blechfabrik vor einem Sack Kümmel, mit dem er wenig anzufangen weiß. Man erklärt ihm, es handle sich um Würze, also haut er es zusammen mit achtzehntausend Kilo Salz auf seine Teiglinge drauf, verkauft die dann als „Bierstangerl“ o. ä. und muß zum Glück nicht zuschauen, wie achtzehntausend verärgerte Kunden im Biergarten herumsitzen und reiben und schaben wie die Irren und das ganze Areal in einen Wüstensturm von Körnchen verwandeln, weil – egal ob man Kümmel mag oder nicht – die auf einem „Bierstangerl“ festzementierte Dosis Salz annähernd tödlich und jedenfalls ungenießbar ist und man das Schlaganfallgift aber nicht runterkriegt, ohne den Kümmel mit abzuschaben.
Arme Seelen wie ich, die Brot ohne Kümmel (und Koriander) nicht als Nahrungsmittel, sondern als kompostierbares und somit immerhin als Dünger verwertbares Äquivalent zu Dämmschaum und Styropor betrachten, sitzen derweil hungernd und hilflos betrunken herum, weil der Versuch, jedes einzelne ekle Salzkorn zu entfernen, den Kümmel aber auf dem Teigling zu belassen, Stunden dauert und man dabei mehr Kalorien verbraucht, als man sich mit dem Weißmehlmüll jemals zuführen könnte, weshalb man drei Maß Bier hinunterstürzt, um überhaupt weiter rupfen, zupfen, knispeln, reiben und irgendwann mit geplatztem Kragen doch noch schaben und das endlich nackte Ding auf den Kompost werfen zu können.
Und der Kümmelbauer? Der kümmelt fröhlich weiter, nicht ahnend, was mit den edlen Früchten seiner naturverbundenen Schwerstarbeit am anderen Ende der Verwertungskette geschieht. Ein Mindestmaß an Logik kriegt man in diesen Circus des Irrsinns nur hinein, wenn man davon ausgeht, daß der Kümmelbauer sein Feld mit übriggebliebenen Teiglingen düngt, allerdings wird die Sache davon nur noch irrsinniger. Und zwar spätestens dann, wenn der Weizenbauer ins Spiel kommt.
Aber wahrscheinlich wird der Zinnober mit den Berufen sowieso überschätzt. Vielleicht wäre es vernünftiger, derartigen Kram generell den Eventmarketerern zu überlassen, die dann ihre Kümmelfelder mit Salz düngen, Brennesseln ernten und sich den Kümmel (den ihre Lieferanten vernünftigerweise direkt in die Biergärten kippen) einfach ausdrucken.
Hier stutzt der trendvergessene Kulturpessimist: Kümmel ausdrucken? Da war der Kulturpessimist wohl mal wieder zu trendvergessen und hat nicht aufgepaßt, als der „Soziologe“, der „Ökonom“, der „Publizist“ und der „Politikberater“ gesprochen haben, am besten noch der „Theoretiker der Zugangsgesellschaft“ dazu, der all das in sich vereint. Der solche trägt den Namen Jeremy Rifkin, hat „über zwanzig Bücher“ ver-, na ja, -faßt und ist vor ein paar Jahren mit der geilen These durch die Fernsehsender gezogen, in Europa werde die Kultur immer die Wirtschaft „überwiegen“ (oder so). Ho ho, haben wir damals gedacht, wer hat dem denn ins Hirn gekümmelt!
Jahre und Bücher später tingelt Herr Rifkin wieder daher und hat neue Ideen: „In ein paar Jahren wird jeder mit seiner eigenen Energie seine eigenen 3-D-Drucker-Produkte herausbringen. Für die Energie haben wir einen Plan entwickelt, der auf fünf Säulen beruht. Erstens braucht man Einspeisetarife für erneuerbare Energien, das habt ihr in Deutschland gut gemacht. Dann wandelt man seine Häuser mit kleinen erneuerbaren Energien in Minikraftwerke um. Wir machen das übrigens überall auf der Welt und schreiben nicht nur Bücher darüber.“
Wow, denken wir, offenbar besteht Herr Rifkin oberhalb der Halskrause mittlerweile nur noch aus Salz, Kümmel und Weizenmehl – ist ja auch genug davon da. Aber da hören wir ihm lieber noch ein paar Sätze weiter zu: „Kürzlich ist in Chicago das erste Auto ausgedruckt worden, nur mechanische Komponenten wie Motor oder (sic!) Batterie mußten nachträglich eingebaut werden.“ Nur! Und ob das jetzt ein Motor oder eine Batterie ist, was man da „nachträglich“ (wir vermuten: nach der etwas enttäuschenden Probefahrt) einbaut, ist eigentlich wurst, weil: „In China haben sie neulich zehn Häuser in vierundzwanzig Stunden ausgedruckt.“
Und spätestens da schweigen wir dann insgesamt, drucken uns noch ein Bier aus und notfalls die Kneipe und den Tresen dazu und finden es höchstens als komplett vernagelte und eingenähte Kulturpessimisten ein bißchen fragwürdig, was da als neue Welt auf uns zukommt. Weil der ganze Irrsinn ja auch einen großen Vorteil hat: einen Kümmelbauern kann man sich ausdrucken, notfalls zehn chinesische in vierundzwanzig Stunden, notnotfalls eine ganze Arbeiterklasse können wir uns ausdrucken!
Hingegen ein Eventmarketing, welches auch immer: Wie druckt man das aus? Wahrscheinlich aus purem Salz.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1 bis 400 sind in vier Bänden als Buch erhältlich.


Freitag, 24. Oktober 2014

Frisch gepreßt #319: Ed Sheeran "X"


Dem Autor dieser Zeilen ist eine gewisse Monomanie zu eigen, die gelegentliches Einschreiten erforderlich macht. Zum Beispiel wenn ein neues Album von einer seiner bevorzugten Brachial-Radau-Romantik-Proleten-Combos erscheint (in diesem Falle: die zweifellos großartige, aber nicht jedermann und Mami und Papi zumutbare Band Howler): dann bringt er es fertig, Wochen und Monate, ja einen ganzen Sommer lang nichts anderes mehr zu hören und aufzulegen, und zwar in einer derart dringlichen Vehemenz und missionarischen Lautstärke, dass irgendwann die Nachbarn das Überfallkommando alarmieren und er selbst mit flatternden Augenlidern und zerfransten Ohren nicht mehr weiß, wer und wo er ist und warum.
Dann kühlt er sich ein bisschen runter, und schon geht’s wieder weiter. Und dann muß man einschreiten, weil solcherart Kulturgenuss der ledernsten Seele und ihrem sozialen Umfeld nicht zuträglich ist. Man könnte ihm erklären, dass es auch noch andere Musik gibt, zum Beispiel einen britischen Singer/Songwriter, der mit vierzehn sein erstes Album aufnahm und jetzt, mit dreiundzwanzig und seinem neuen Album dreiundzwanzig Millionen Herzen von Vierzehnjährigen brechen wird. Man könnte hinzufügen, dass der Bursche in der Castingshow „The Voice Of Germany“ aufgetreten ist, daraufhin einen Top-ten-Hit hatte, bei der Schlussfeier der Olympischen Spiele 2012 mit Leuten von Pink Floyd und Genesis „Wish You Were Here“ gespielt hat, Stevie Wonder sehr mag und ein Lied über ein Legohaus und ein anderes für einen Hobbit-Film geschrieben hat. Dann wird der Autor dieser Zeilen ein Gesicht machen wie ein Garagentor bei einem Hagelsturm und ein Mantra anstimmen, um das Erscheinen der neuen Platten von Morrissey und den Manic Street Preachers zu beschleunigen.
Man könnte ihm aber auch erzählen, dass der junge Mann gar nicht so blöd ist, schon als Kind Van Morrison und alte Stax-Platten (und zwar die richtigen) geliebt hat, zwar noch im schlimmsten Liebeskummer enorm freundlich klingt, aber gelegentlich zwei Satteltaschen voller Soul an seine Stimmbänder schnallt, dass er vorzüglich, wenn auch nicht so dreckig wie einst Jamie T., zur Akustikgitarre rappen kann, von Sex, Suff und Drogen singt, ohne dass Mami und Papi das überhaupt mitkriegen, dass er ab und an regelrecht zornig werden kann, erstaunlich witzige Texte schreibt und seine Stevie-Wonder-Obsession dankenswerterweise weitgehend auf die Phase beschränkt, als der noch gut und fast cool war.
Dann klappt der Autor dieser Zeilen (er ist ja ein höflicher Mensch) das Garagentor vielleicht wieder zu und erklärt sich bereit, mal reinzuhören in den vermeintlichen Mainstream-Weichspülkram, um sich (er ist ja ein kritischer Geist) in knappen Worten zu äußern, die die Zielgruppe an der Supermarkt- und Tankstellenkasse sowieso nicht kratzen. Geben wir ihm ein paar Minuten (zwinker).
Es könnte nämlich durchaus sein, dass er hängenbleibt, nach dem schmusig-nüchtern-melancholischen „One“ hineinrutscht in „I’m A Mess“ und das unergründlich interessant und spannend findet, wie sich da und hernach zusehends die Grenzen auflösen zwischen richtig coolen Rap-Couplets, sommerlich dahinschwebenden Rhythmen, Teenie-WG-Problematiken und Sehnsuchtssingen, zwischen Autoradio, Club und Eisdiele, zwischen merkwürdig angenehmem Kommerzgesums, entwaffnend kitschfreien Lebensweisheiten zu ewig brennenden Themen wie Weinen („Even My Dad Does Sometimes“), Liebeskummer, sehnsüchtigen Erinnerungen sowie Urlaub am Mittelmeer und Seitensprüngen auf abseitige Felder, auf die sich die Backstreet Boys bei aller Reife in zehn Jahren noch nicht wagen werden.
Dann wird er sich vielleicht ein bisschen schämen, und sicherlich fällt ihm dies und das Abfällige ein, mehr generell und allgemein kulturkritisch, aber das haben wir ja geahnt, und warten wir’s erst mal ab. Ich glaube nämlich, er lächelt schon ganz freundlich, der Autor dieser Zeilen …

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Dienstag, 21. Oktober 2014

Frisch gepreßt 318: Chrissie Hynde "Stockholm"


Popmusikmänner haben, falls sie nicht früh genug sterben, um zu „Ikonen“ zu werden, zwei Möglichkeiten, ihr späteres Berufsleben zuzubringen: Entweder sie erreichen rechtzeitig den „Olymp“ und können sich die folgenden Jahrzehnte darauf beschränken, ab und zu mal ein Konzert anzukündigen und abzuspulen oder (vgl. Prince) bei Unlust auch nicht; die zahlenden Massen interessiert das ebenso wenig wie die Schreiber, die bei jedem solchen „Lebenszeichen“ die alte Bullshitkiste unter dem Tisch hervorziehen und die Ikonizität der Ikone ikonisieren. Oder, falls sie zu Zeiten ihrer Blüte nicht über die zweite Liga hinausgekommen sind: Sie touren unablässig, machen ab und zu sogar neue Platten und lassen sich dafür nichts anderes mehr ins Stammbuch schreiben als daß sie „noch nicht zum alten Eisen zählen“ und „kein bißchen weise“ seien, das aber ständig und in jeder kleinen Ankündigung (größere, gar eine echte Berichterstattung gibt es sowieso nicht mehr).
Bei Frauen ist das etwas anders, zumindest in modernen Zeiten, wo alternde Diven nur Diven bleiben dürfen, wenn sie nicht altern, sondern sich in Madonnamanier langsam, aber sicher in eine Art Muskelzwieback verwandeln, von dem man nicht sagen könnte, ob sein Haltbarkeitsdatum seit fünf oder vierzig Jahren abgelaufen ist. Ein normaler Mensch darf eine Popmusikfrau nicht sein, schon gar nicht wenn sie irgendwann mal eine Ikone war.
Eine solche war Chrissie Hynde ohne Zweifel, und – wir wollen nichts beschönigen – daran hat sie sauber hart gearbeitet: erst als eigentlich schon etwas betagte (also: volljährige) Mittelfeldspielerin der Londoner Punkszene, wohin sie 1973 aus Cleveland emigriert war und wo sie in Malcolm McLarens „Sex“-Laden aushalf, Johnny Rotten und Sid Vicious heiraten wollte und bei der chaotischen Sammelbewegung namens London SS mitwirkte, aus der The Damned, The Clash und Johnny Moped hervorgingen. Als daraus für sie so recht nichts werden mochte und die Punk-Titanic 1977 am Eisberg Kommerz kenterte, wechselte sie aufs Oberdeck, schnappte sich mit Ray Davies (The Kinks) einen echten Rockstar, mit dem sie fortan Bett und Proberaum teilte, aus ein paar Halbwelthalunken mit Profierfahrung ihre eigene Band zusammenstellte – und plötzlich schallte die coolste Frauenstimme aller Zeiten diesseits von Patti Smith und Debbie Harry aus allen Radios der Welt: Die ersten drei Singles – „Stop Your Sobbing“ (eine Kinks-Nummer), „Brass In Pocket“ und „Talk Of The Town“ wurden Hits (und Teil jenes Millepromilles aller Popaufnahmen, die tatsächlich zeitlos blieben).
Das war ein Seiltanz, der nicht lange gut ging: Die Hälfte der Band haute sich mit Drogen kaputt und starb, es folgten Hits und Flops, dauernde Umbesetzungen, läßliche bis peinliche Duette und dies und das, und ein großer Teil der Welt hätte Chrissie Hynde in den 80ern, 90ern, Nuller- und Zehnerjahren bereitwillig vergessen, wenn sie nicht immer mal wieder irgendwo plötzlich aufgetaucht wäre (und sei es nur auf einer Vegetarierdemo) und vor allem eines geschafft hätte, was ansonsten nur unverwüstliche Brathendl wie Ronnie Wood hinkriegen: Sie alterte in Würde und ewigjugendlicher Frische zugleich und sah einfach immer gleich aus, bis heute. 2013 wählte sie der Guardian unter die 50 bestgekleideten Frauen über 50 (sie trägt meist Jeans und T-Shirt).
Daß sie die ganze Zeit über (35 Jahre, fucking hell!) immer zumindest angeblich nicht mehr als Teil einer Rockband war, trug dazu bei: Es ist dieses Gang-Ding, das den Rock ’n’ Roll so faszinierend macht (eine Weisheit, die z. B. Mick Jagger in den 80ern fahrlässig über Bord warf); die verschworene Bande von Outlaws ohne Allüren, in die sich jeder Mensch Ende 30 (oder spätestens beim ersten Klassentreffen) zurücksehnt. Und jetzt also „startet“ Chrissie Hynde mit fast 63 eine „Solokarriere“, und was soll man davon halten?
Viel, sehr viel sogar: Die Platte klingt mehr nach den echten, alten Pretenders von 1979, nach ihrer Frische, Unbekümmertheit, ihrem seiltänzerischen Groove, ihrer Coolness als fast alles, was seither unter diesem Namen erschienen ist. Und damit ist sie – auch sie – zeitlos: Wer „Dark Sunglasses“ hören kann, ohne es die nächsten zwei Stunden vor sich hinzupfeifen, dem fehlt was. Und wären „House Of Cards“, „Sweet Nuthin’“, „Adding The Blue“, „You Or No One“ damals erschienen, wären sie die nächsten Hit gewesen und durch alle Sommerstraßen aller Städte der westlichen Welt geschallt.
„Ich war nie Solokünstlerin und wollte nie Solokünstlerin sein. Ich spiele gerne in einer Band. Aber was ist schon ein Name? Interessanterweise gibt es auf diesem Album mehr Zusammenarbeit als auf den letzten Pretenders-Sachen – viel mehr“, sagt Frau Hynde.
Vielleicht wär’s Zeit, mal wieder eine Band zu gründen, nach 35 Jahren?


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Belästigungen 19/2014: Hände hoch! Jacken weg! Hier kommt die „Shariah Police“-Police!

Ich hege keine spezielle Sympathie für Menschen, die irgendeine Religion zum Prinzip ihrer Lebensgestaltung machen, weil dabei im besten Falle eine zwanghafte Selbstkasteiung samt neurotischem Triebstau und missionarischen Bekehrungspredigten sowie im schlimmsten Fall ein Kreuzzug mit Millionen Toten herauskommt. Abgesehen davon kann man mir erzählen, was man will – ich glaube den Schmarrn einfach nicht, und wenn ihn jemand anderer gerne glauben mag, dann soll er das in seinem Privatbereich nach Herzenslust tun, aber nicht von mir verlangen, daß ich irgendwas davon mehr als respektiere.
Andererseits haben diese Leute manchmal schon recht lustige Ideen. Zum Beispiel die „fünf Männekes“ (Selbstbeschreibung), die neulich in orangeroten Jäckchen mit der Aufschrift „Shariah Police“ durch Wuppertal spazierten und vor Diskotheken und Spielhallen Jugendliche, die ihnen dem optischen Eindruck nach „muslimisch“ erschienen (ein hübsches Thema für eine Rassismusdiskussion, aber dieses Faß bleibt heute mal geschlossen), dazu ermahnten, sich gefälligst eine gottgefällige Lebensweise zuzulegen, anstatt sich Trunk-, Spiel- und sonstigen westlich-degenerierten Süchten hinzugeben.
Da sollte man eigentlich tosenden Applaus erwarten, insbesondere aus dem Lager der sogenannt christlichen Moralapostel, die ansonsten kaum je müde werden, derlei Ausschweifungen als Grund und Wurzel allen Übels anzuprangern. Aber nein, in diesem Fall handelte es sich nun mal um „Salafisten“, also Angehörige einer Art islamischer CSU, deren Bestreben wahlweise Weltherrschaft oder Weltuntergang sein soll und deren Wuppertaler Wortführer früher mal Feuerwehrmann war, bis sein gottgefällig wuchernder Kinnbart nicht mehr in eine Atemmaske hineinpaßte.
Und deshalb sind Deutschlands Ordnungsfanatiker von dem harmlosen Jux der „Shariah Police“ nicht etwa milde amüsiert angetan, sondern stürzten sich umgehend in einen medialen Amoklauf. „Vergleichbare Vorfälle hat es bisher nicht gegeben“, tönte ein Polizist, der offenbar noch nie von den diversen „Bürgerwehren“, Nazibanden und Privatarmeen gehört hat, die nachts im fernen deutschen Osten gerne mal um einiges gründlicher aufräumen und es nicht immer beim bloßen „Klatschen“ fremdartig scheinender Nichtarier belassen.
Die echten Polizisten, die die „Shariah Police“ bei ihrem schändlichen Tun ertappten, erstatteten Anzeige wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz (welches das kollektive Tragen „uniformähnlicher Kleidung“ untersagt, was für Oktoberfestbesucher auch eine recht interessante Information sein könnte). Der Bundesjustizminister tobte, es handle sich um einen „Anschlag auf unser freies Lebensmodell“, und „eine illegale Paralleljustiz werden wir nicht dulden“, was in mir den vagen Wunsch weckte, dieses „freie Lebensmodell“ mal ein bißchen eingehender zu diskutieren und dabei vielleicht auch zu erfahren, welche Urteile die „Paralleljustiz“ der fünf Männekes gefällt hat.
Volker Kauder wiederum forderte umgehend ein Verbot der „vermeintlichen Tugendwächter“ (sagte allerdings nicht dazu, wie das gehen soll). Und der Innenminister war ebenfalls früh genug wach, um in die „Bildzeitung“ hineinzuröhren: „Niemand darf sich anmaßen, den guten Namen der deutschen Polizei zu mißbrauchen!“ Daß die deutsche Polizei neuerdings den guten Namen „Police“ trägt, war mir bislang nicht bekannt. Aber immerhin verstehen wir nun möglicherweise, weshalb die „Paralleljustiz“ der Nazimörder Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe so lange unbehelligt „Lebensmodelle“ vernichten durfte: weil sie schlau genug waren, sich nicht „Nationalsozialistische Untergrund-Police“ zu nennen.
Und dann kam noch der NRW-Innenminister daher, ließ die orangeroten Westen „sicherstellen“, um die ungeheure Bedrohung zu bannen, die von derlei Textilien ausgeht, und dazu verlauten, es sei „eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, wenn sich jemand Polizeihoheiten anmaßt“. Wachdienste wie die notorischen „Schwarzen Sheriffs“ oder der „Ordnungsdienst“ in Fußballstadien, den der Herr Minister so gerne lobt, dürften so etwas nicht unbedingt mit Freuden hören.
Es ist aber auch ein simples Mißverständnis: Es ist nicht und war noch nie Aufgabe (und schon gar nicht „Hoheit“) der Polizei, Menschen auf den rechten Weg zu führen und irgendwelche sündigen Umtriebe zu verhindern. Sie ist noch nicht mal dazu da, (zum Beispiel) einem Betrunkenen davon abzuhalten, mit dem Radl heimzufahren. Sondern sie muß den Betrunkenen dabei erwischen, in eine Klinik verschaffen, ihm Blut abzapfen lassen und damit den Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung beweisen. Ginge es um „Sicherheit und Ordnung“, wäre es der Polizei nicht nur erlaubt, sondern sie wäre sogar verpflichtet, den offensichtlich sich selbst und andere gefährdenden Betrunkenen danach wieder heimzufahren.
Das darf sie aber nicht. Weil das Zeit kostet, in der sich neue Ordnungswidrigkeiten ahnden und Einnahmen generieren lassen, mit denen der Staat Schulen, Museen und Straßen bauen lassen und Polizisten bezahlen kann, ohne dafür die Millionäre zur Steuerkasse bitten zu müssen. Und deshalb ist die salafistische „Shariah Police“ tatsächlich eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“, und zwar eine größere als Nazibanden und Bürgerwehren: weil ihr Wirken eventuell das Aufkommen an Geldstrafen verringern könnte. Weil, anders gesagt, sich strafbar macht, wer Ordnungswidrigkeiten verhindert.
Ja, die Welt ist manchmal wirr. Daß erst ein paar salafistische Männekes daherkommen müssen, um ein paar simple Zusammenhänge zu verdeutlichen, ist Teil dieser Wirrnis. Und drum manchmal schon ganz hilfreich.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.



Montag, 13. Oktober 2014

Belästigungen 18/2014: Vom Hitler, von Putin, von Hysterie und Raserei und einem möglichen Mittel dagegen

Daß der Hitler nicht der Hellste war, zeigen unter anderem seine Begründungen für die deutschen Überfälle auf andere Länder: Hätte er beispielsweise darauf hingewiesen, daß Polen 1939 von einem homophoben Despoten regiert wurde, der separatistische Rebellen in einem Nachbarland (der Tschechei) unterstützte und einen Teil davon sogar völkerrechtswidrig annektiert hatte, während er selbst fürsorglich bemüht war, dieses Nachbarland enger an den Westen zu binden, und es in der Führung seiner Partei und anderer Organisationen von Schwulen nur so wimmelte, – wer weiß, wer weiß. Statt dessen faselte der deutsche Führer wirres Zeug von „Arrondierung“ und „Ernährung“ und ließ SS-Leute in Maskerade einen deutschen Radiosender überfallen, um in holprigem Polnisch angebliche Kriegserklärungen zu brabbeln.
So geht das, wenn man nicht medienkompetent ist. Allerdings standen dem Hitler mit seinen paar notdürftig gleichgeschalteten Plärrpostillen ja gar nicht die Kompetenzmedien zur Verfügung, die man heute kennt, schon gar nicht in dieser Breite und inhaltlichen Tiefe: Die pseudo-neocon-verdoofte „Welt“ („Harte Haltung gegen Putin“) will notfalls „den Bündnisfall ausrufen“, der Boulevard schäumt („Putin: Schlimmer Wehrmacht-Vergleich“, „Putin: Sein Teufels-Plan“, „Wer hält Putin auf?“), die früher mal angeblich liberale „Süddeutsche“ („Jetzt oder nie“) greint: „Putins Ton wird immer schärfer“, der „Spiegel“ („Ende der Feigheit“) brüllt: „Stoppt Putin jetzt!“ (wohl in der Hoffnung auf einen ähnlichen Effekt, wie ihn einst die „National-Zeitung“ mit der wortgleichen Hetze gegen Rudi Dutschke erreichte), die „Zeit“ („Härte zeigen! Militärische Präsenz in Osteuropa deutlich erhöhen!“) salbadert in typischer Diktion: „Wie weit lassen wir Putin zu weit gehen?“, der „Tagesspiegel“ rät zum Kampf („Genug gesprochen!“), die FAZ will „Stärke zeigen“, und im grün-mittelständischen Witzblatt „taz“ schwelgen die Kommentatoren seit Wochen in Kriegs- und Schlachtenmasturbationen, ganz zu schweigen vom Fernsehen, wo zum Beispiel das ZDF seine Anti-Putin-Propaganda unverdrossen mit falschen Bildern untermauert, um einen russischen Einmarsch in der Ukraine zu beweisen.
Zwar flog dieser Schwindel noch schneller auf als dem Hitler sein Sender-Gleiwitz-Schabernack, aber kümmert das im nachhinein, wenn die Botschaft erst mal in den Köpfen ist, noch jemanden? Fragt heute noch jemand nach dem „Tonkin-Zwischenfall“, jenem gleichwertigen (wenn auch nicht ganz so dilettantischen) Schwindel, mit dem die USA einst ihren Krieg gegen Nordvietnam begründeten? Fragt noch jemand nach dem von den deutschen Ministern Scharping und Fischer zum Anlaß für den völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen Jugoslawien zusammengelogenen „Hufeisenplan“? Interessiert sich noch wer dafür, daß es die „Massenvernichtungswaffen“ nie gab, die als Vorwand für den bereits vor dem 11. September 2001 geplanten, ebenso völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak herhalten mußten? Fragt irgend jemand noch mal nach, in wessen Auftrag am 20. Februar 2014 in Kiew Scharfschützen aus einem von der „Opposition“ besetzten Hotel auf Demonstranten und Polizisten auf dem Majdan schossen? Gibt es irgendwelche unabhängigen Informationen oder Erkenntnisse darüber, wer am 17. Juli über der Ostukraine ein malaysisches Flugzeug abgeschossen hat und warum? Wird danach in ein paar Wochen noch jemand fragen?
Ich habe nur eine ungefähre Ahnung, was sich da abspielt. Und ich mag nicht konsequent zu Ende denken, weshalb diverse Oligarchen in der Ukraine, in Polen und im Baltikum in einem vielstimmigen Panikchor von einer „massiven Invasion“ bis zu „begrenzten Nuklearschlägen“ alle möglichen Teufel an die Wand schmieren, die angeblich der russische Problembär auf sie losgehetzt hat oder in baldigster Bälde loszuhetzen plant. Es will mir aber so scheinen, als wären in dem ganzen Tohuwabohu hysterischer Hochköchelei nur extrem wenige Beteiligte bemüht, einen zumindest halbkühlen Kopf zu bewahren, und die sitzen derzeit nicht unbedingt in Washington oder Berlin – und schon gar nicht in Kiew, wo ein gewählter Stadtrat mit einer „Sozial-nationalen Versammlung“ für „die Befreiung der weißen Rasse“ kämpft, die „harte Bestrafung sexueller Perversionen und aller Kontakte zwischen Rassen, die zur Auslöschung des weißen Mannes führen“ fordert und eine der beiden Regierungsparteien das Land „von der jüdischen Mafia aus Moskau“ befreien möchte.
Ich habe bei Gelegenheit schon mal darauf hingewiesen, daß der Kapitalismus kein System ist, sondern ein Prozeß, der zwangsläufig irgendwann auf ein Gerangel um das hinausläuft, was bei James Bond so schön grimmig-verstiegen „Weltherrschaft“ hieß und heutzutage mit dem seriöseren Begriff „Weltmacht“ ebenso trefflich bezeichnet wird. Wer eins und eins zusammenrechnen kann, weiß, daß dagegen weder „Sanktionen“ noch Verhandlungen noch Militärberater noch Waffenlieferungen noch das machtrauschige Gefasel präsidialer Pastoren noch Mahnwachen, Demos und geteilte Facebookseiten etwas ausrichten können.
Vielleicht fragen wir uns statt dessen mal, wieso ausgerechnet das schöne Land Bayern (dem Größenwahn des Großen Vorsitzenden Strauß sel. zum Trotz) noch nie ernsthaft auf die Idee verfallen ist, sich zur „Weltmacht“ aufzuschwingen. Könnte es sein, daß eine andere Art von Rausch, aus der man sich elfeinhalb Monate lang mühselig wieder herauskatern muß, zu dieser Zurückhaltung zumindest beigetragen hat? Wäre es vielleicht eine Idee, sämtliche derzeitigen Konfliktparteien und ihre diversen Peripherien, Einsatzzentralen und Trabanten nicht mit Waffen, sondern mit Fässern, Zelten und Blaskapellen zu beliefern?
Das Grundproblem läßt sich so nicht lösen, freilich. Aber in wie weite Ferne dieses Grundproblem rutschen kann, wenn die Birne dröhnt, der Magen surrt und die Glieder knarren, weiß jeder, der schon mal einen seriösen Wiesnbesuch hinter sich gebracht hat, und manchmal ist das Unmittelbare eben näherliegend als hehre Philosophie (und ob die Welt überhaupt zu retten ist, diskutieren wir dann ein andermal).

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.