Sonntag, 31. Januar 2016

Frisch gepreßt #355: John Coltrane "A Love Supreme (The Complete Masters)"


Oh, das Leben … es ist groß und oft nicht leicht, vor allem wenn die Liebe dazwischenkommt. Dann wirren sich die Sinne, knotet sich die Welt, verschwimmen die Wege, flirren die Zeichen und spielt sich mancherlei physiologisches Durcheinander ab, das von der Physiologie an sich nicht vorgesehen ist. Undenkbar, unmachbar scheint vieles, was der Alltag verlangt, was ihn prägt und den Menschen auf gewohnten Gleisen durch sein Leben trägt.
Das geht auch sozusagen indirekt: Wer schon mal versucht hat, John Coltranes geradezu absolutistisch klassisches, vor (am 9. Dezember) genau 51 Jahren eingespieltes Ewigkeitsalbum „A Love Supreme“ zu hören und nebenbei zum Beispiel eine Lohnarbeit zu verrichten, der kennt den Effekt (und wer ihn nicht kennt und es versuchen möchte, sollte dies nicht ohne Schutzkleidung tun). Es ist ein Bad in einem Vulkan der Klänge, der tobt und rumpiert, grollt und brodelt, dampft, pulsiert, raucht, bebt und endlich in ein endloses Meer strahlender Klarheit sich ergießt, wenn Coltrane im abschließenden vierten Satz („Psalm“) auf dem Saxophon ohne Worte das ewige Gedicht rezitiert, das in Worten nur angedeutet wiedergegeben (auf dem Cover) und wiederzugeben ist: „(…) God breathes through us so completely … so gently we hardly feel it … yet it is our everything (…).“
Von welchem Gott da die Rede ist – dem lieben oder einem zürnenden, einer Drei- oder Vielfaltigkeit, Zeus, Pluto oder jenem der islamischen Ahmaddiyya-Gemeinde – ist gleichgültig, sind sie doch alle nur unzureichende Projektionen, in denen sich die menschliche Ehr-Furcht vor den Wundern und Schrecken der unendlichen Welt manifestiert, in die das Wesen geworfen ist und wird und die es anders nicht begreifen kann. Im Grunde ist es die Liebe selbst.
John Coltrane hatte einiges hinter sich, als er „A Love Supreme“ aufnahm: Nicht lange zuvor war er für seinen Pioniergeist, sein wild wucherndes Genie in der Genese des modalen und des Free Jazz ausgebuht, seine Musik, die er als „umfassenden Ausdruck des Seins“ empfand, von Kritikern als „Anti-Jazz“ beschimpft worden. Das Miles-Davis-Quintett hatte er 1957 nach den legendären Alben „Cookin’“, „Relaxin’“, „Workin’“ und „Steamin’“ wegen seiner galoppierenden Heroinsucht verlassen (deren Überwindung durch eine spirituelle „Wiedergeburt“ via Ahmaddiyya „A Love Supreme“ verarbeitet). Nach langen Jahren mit wechselnden Begleitern, die ihn inspirierten und aber auch erdeten, fand er 1962 sein „klassisches“ Quartett mit McCoy Tyner am Klavier, Schlagzeuger Elvin Jones und dem neuen Bassisten Jimmy Garrison und bändigte die wilden Experimente der Jahrzehntwende, die gelegentlich in lediglich technisch interessante Eskapaden ausarteten, nahm zwei Balladenalben auf und spielte mit Duke Ellington – rückblickend alles wichtige Entwicklungsschritte hin zu seinem (letzten) Meisterwerk, das ein kaum zu erwartender Bestseller wurde, seine gewohnten Verkaufszahlen um das Zwanzigfache übertraf und weit über den Jazz hinaus eine bis heute anhaltende Wirksamkeit entfaltete, die selbst vor U2 nicht Halt machte (zumindest wird das Album in „Angel Of Harlem“ zitiert).
Viel vor sich hatte er dann leider auch nicht mehr: Am 17. Juli 1967 starb John Coltrane mit 40 Jahren an Leberkrebs. Sein Vermächtnis ist groß und oft nicht leicht, aber „A Love Supreme“ öffnet selbst jenen, die an Jazz wenig finden, Türen und Fenster zu einer neuen Wahrnehmung der Welt. (Die zusätzlichen Tracks – alternative Versionen und die Aufnahme der einzigen Live-Aufführung des Werks 1965 in Juan-les-Pins – sind eher von akademischem Interesse, allerdings von immensem.)

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 29. Januar 2016

Belästigungen 1/2016: Hundert Millionen Kilo neues Fleisch - wohin damit, Deutschland?

Laut Statistik hat die deutsche Bevölkerung in den letzten drei Wochen hundert Millionen Kilo zugenommen. Das ist nichts Neues, tut sie schließlich jedes Jahr, und im Verlauf der folgenden Monate werden davon üblicherweise durch den konzertierten Irrwitz von Superdiäten und Strampeldrill zehn bis dreißig Prozent wieder „wegschmelzen“, ehe zu Weihnachten 2016 erneut hundert Millionen Kilo Fleisch dazukommen.
Das deutsche Volk – wie wir es ausnahmsweise mal nennen wollen, weil der Begriff hier trifft – wird also zweifellos immer gewichtiger. Nun wissen wir seit langer Zeit, daß das eine ganz normale Begleiterscheinung des zu Ende gehenden kapitalistischen Prozesses ist: Jeder stopft sich noch schnell hinein, was nur geht, bevor es irgendein anderer frißt. Sonst kriegt das, was übrig bleibt (und nebenbei schlechtes Wetter verursacht!), am Ende der Afrikaner, und dann hat er außer sonstigen guten Gründen auch noch eine kräftige Konstitution, um nach Europa zu rudern.
Sowieso ist das Gewicht des Deutschen unumstritten; der wird nicht nur (als Mensch und Auto) immer fetter, sondern eben auch – gewichtiger. Weltweit sitzen deutsche Zuwanderer als Manager an den Schalthebeln der Ausbeutungsmaschinerie, ohne jemals irgendwo Asyl beantragt zu haben (von „Kim Dotcom“ vielleicht mal abgesehen, der unbelegten Aussagen zufolge seit Jahren dabei ist, ganz allein hundert Millionen Kilo zuzunehmen, um die neu hinzukommenden Pfunde der Deutschen von Neuseeland aus auszugleichen und somit die Erde im Gleichgewicht zu halten). Die jeweilige Landessprache beherrschen sie höchstens im Ausnahmefall gut genug, um die Putzfrau herumzukommandieren, und notfalls braucht der Deutsche dort, wo er herrscht, nicht mal hinzufahren: Ob in Griechenland, Portugal und Spanien Rentner, Kinder und Kranke hungern beziehungsweise sterben, entscheidet letztlich der deutsche Finanzminister.
Das alles ist ein alter Hut. Weniger diskutiert wird, daß offenbar in Vor- und Frühkriegszeiten (solange die Front noch im Ausland tobt) die kriegführenden Nationen generell zur Gewichtszunahme neigen. Man vergleiche mal die Hungerhaken, die nach dem ersten Weltkrieg an ihrer Weimarer Republik herumschraubten, mit dem deutschen Personal, das ab 1933 auftrumpfte und offenbar mindestens halbtags mit kompensatorischem Schlingen beschäftigt war. Der Führer selbst konnte seine Wampe nach dem ersten Wahlsieg auch nur noch mit schweren Koppelschlössern bändigen. Erst ab Stalingrad schwanden die Pfunde.
Freilich, kein Vergleich mit heute. Es mag indes am Durchschnitt liegen, daß ein nudelnder Dampfkessel wie Sigmar Gabriel immer noch halsabwärts photographiert wird, ohne daß jemand beim Menschenrechtsgerichtshof klagt, damit werde seine Würde verletzt. Oder liegt's schlicht daran, daß die Front in dem Krieg, den die Bundesrepublik Deutschland seit mehr als fünfzehn Jahren weltweit führt, nicht wirklich näherrückt?
Was ist das überhaupt für ein Krieg, den wir da führen und der über so lange Zeit so brav im Ausland bleibt, während hierzulande die Ministermarionetten und Rüstungsindustriellen anschwellen? Ein etwas seltsamer: Der Gegner nennt sich zwar einen „Staat“, hat aber nicht wirklich ein Territorum, in das man einmarschieren könnte, und immer dann, wenn er irgendwo eine Offensive unternimmt, muß er sich demütigen lassen, er sei gar kein richtiger Kriegsgegner, sondern lediglich ein Terrorist. Gegen den man dann aber wiederum „Krieg“ führt, was ihn zum Kriegsgegner macht, der seinerseits aber keine kriegerischen Akte unternehmen darf, weil das wieder bloß „Terrorismus“ wäre. Verworrene Sache, das Ganze.
Macht aber nichts. Wir haben uns inzwischen so daran gewöhnt, daß wir den Krieg gar nicht mehr richtig wahrnehmen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie der damalige Kanzlerkasperl Gerhard „Zwölfzylinder“ Schröder dem entsetzten deutschen Fernsehpublikum im März 1999 mit sorgsam hingeschminkter Sorgenfalte den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 erklärte. Der ließ sich immerhin plausibel begründen, auch wenn sich hinterher herausstellte, daß die von den Herren Scharping und Fischer dargelegte „Begründung“ von A bis Z erlogen war. Heute ist das schwieriger, aber, wie gesagt, auch relativ egal: Krieg ist schließlich immer, und gegen wen wir gerade kämpfen, interessiert so genau ohnehin niemanden mehr. Wer soll sich das alles denn merken?
Aber warum führt der Mensch und speziell der Deutsche eigentlich so gerne Krieg? Die Antwort kennen wir: Der Kapitalismus erfordert das, weil nichts so viel Profit abwirft wie Vernichtung (mit deutschen Waffen) und anschließender Wiederaufbau (mit deutschem Beton und neuen deutschen Waffen). Wer sich die Feiertage mit ausgiebigem Binge-Watching angesagter TV-Serien vertrieben hat, wird indes den Eindruck nicht los, daß zudem mittlerweile nicht wenige Leute die Erde insgesamt für zu voll halten: In „Utopia“ (zum Beispiel) soll die Menschheit aus „moralischen Gründen“ per Sterilisation dezimiert werden, in „Leftovers“ verschwindet ein Fünfzigstel von selber, und in „Fargo“ versucht man ziemlich starrsinnig, zwei US-Bundesstaaten in Handarbeit komplett leerzuschießen. Sind möglicherweise auch die ständigen Kriege allüberall ein unbewußter Versuch des Homo sapiens, sich selbst zu reduzieren?
Freilich: Wir sind viele, und wir werden immer mehr. Vor allem aber wird, siehe oben, in den Gewinnzonen der kapitalistischen Umverteilung der Einzelne immer mehr. Was tun? Ich weiß, der Vorschlag klingt romantisch, aber wie wär's damit, die Milliarden von Viechern, aus denen der größte Teil der zusätzlichen hundert Millionen Kilo Menschenfleisch und -fett entstanden ist, einfach am Leben zu lassen, statt dessen zum nächsten Weihnachtsfest einen Apfel zu verspeisen und sich als Sendbote des Weltfriedens zu fühlen?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin "In München".

Mittwoch, 20. Januar 2016

Frisch gepreßt #354: Der Nino aus Wien "Immer noch besser als Spinat"

Nein, mehrfach.
Erstens: Nein, Ninos Stimme ist nicht für jeden was. Es gibt Leute, die fühlen sich, wenn sie sie hören, abgeschleckt, und zwar von jemandem, der lieber erst mal was mit Clearasil und Geruchsfressereinlagen machen sollte, bevor er sich für die ostösterreichische Vorstadtausgabe von Justin Bieber bzw. dem Blondgefärbten von One Direction hält.
Zweitens: Nein, der Impuls, dem Nino das Köpfchen zu tätscheln und mit gespitztem Muttimündchen den gscherten Rammeln entgegenzuhalten, der meine das doch gar nicht so, ist falsch und geht in die verhängnisvolle Irre. Der meint noch ganz andere Sachen so, und daß er sie aber nicht so meint, wie die Mündchenmuttis meinen, macht es (für die) nicht einfacher, oho.
Drittens: Nein, das heißt nicht, daß der Nino nicht liebenswert wäre. Oh, der ist sogar liebenswerter, als man sich auf den ersten Blick vorstellen kann. Auf den zweiten Blick kann man sich vorstellen, wie zum Beispiel Ursula von der Leyen nachts aus dem schlimmsten Alptraum ihres Lebens schreckt, in dem ihr der Nino erschienen ist und sie zum Klebstoffschnüffeln eingeladen hat, und schreit: „Nein! Alles, aber nicht das! oder den!“ Und das macht ihn freilich noch liebenswerter. Falls das nötig wäre.
Viertens: Nein, der Nino ist nicht dumm, und wenn man das manchmal meint, liegt es daran, daß er meistens erst mal singt und dann (vielleicht) darüber nachdenkt, was das, was er da gesungen hat, bedeuten könnte. Nein, tut er eher nicht; das überläßt er uns. Wir gründeln dann in den Lexika zum Beispiel nach den „alten Martekos“, hi hi. Immerhin finden wir dabei heraus, was das Wort auf Flämisch heißt: „lelijk, boosaardig of dom persoon, scharminkel, domoor“, folglich nämlich: „benimmt sich wie ein junger Affe“. Ja, eben. Die sind ja auch nicht dumm.
Fünftens: Nein, der Nino ist kein Schwindler, kein Scharlatan, kein Kasperl und kein Narr. Sondern: „Es geht immer ums Vollenden“, bei denen und bei uns. Und ausnahmsweise ja: Das ist falsch, weil die chinesische Weisheit kündet: Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nützlich zu sein, und niemand erkennt, wie nützlich es ist, nutzlos zu sein. Sollte man sich hin und wieder sagen lassen.
Sechstens: Nein, Genie und Weisheit sind keine Produkte logischen Denkens. Sondern man wirft eine Handvoll Erde in die Luft und noch eine und noch eine, und irgendwann wird zufällig aus einem Trumm Dreck ein Schmetterling. „Und wenn dich die Wahrheit findet, halte sie, so fest du kannst. Denn die Wahrheit ist aus Seide und ist allzu bald verfranst.“
Siebtens: Nein, es ist nicht alles „gut“, was der Nino macht. Vieles davon ist sogar ein Riesenschmarrn, und das, na klar, ist gut, weil es das braucht. Weil was ist das Leben ohne Schmarrn? Richtig: richtig.
„Es gibt wirklich wenig Leichtes, und das meiste ist recht schwer.“ Das ist achtens: Nein, tiefe Gedanken sind nicht automatisch schwer. Im Gegenteil, auch wenn die Welt uns seit ein paar Jahren oder Jahrzehnten oder Jahrhundert überzeugen möchte, daß. Dafür ist dem Menschen ein Mittelfinger gewachsen. Und uns ein Nino, ans Herz.
Neuntens: Nein, das ist kein „Best of“-Album, wie es derzeit als Alternative zum Weihnachtsalbum haldenweise in die Produktausgabestellen gekippt wird. Es gibt keine „besten“ Lieder vom Nino, weil: siehe oben unter „gut“. Sondern die sind alle anders und eigen und für sich, und drum kann man einfach mal so in die Fülle hineingreifen und 20 Stück rausholen, auf eine CD schmeißen und denen ans Herz legen, die den Nino noch nicht (genug) kennen. Für die anderen ist eine Bonus-CD mit den „verstimmtesten Demos aus dem Hirschstettner Keller“ dabei. Die spielen wir, wenn alles zu schlimm und zu schwer wird, Ursula von der Leyen vor, falls sie mal schläft.
Ja, mehrfach: (bitte selbst ergänzen).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 17. Januar 2016

Frisch gepreßt #353: Van Morrison "Astral Weeks"


Vor Van Morrison habe ich mich als Kind irgendwie gefürchtet. Na ja, nicht direkt gefürchtet, aber große Lust, ihn kennenzulernen, hatte ich auch nicht. Der schaute so böse und wirkte so brummig, und als er dann nicht mehr ganz so brummig wirkte und böse schaute, da schaute und wirkte er dann verschlossen und schwierig und … Jedenfalls stand „Astral Weeks“ meine ziemlich komplette Kindheit und Jugend lang im Regal herum, ohne daß ich die evolutionäre Dauerschleife von Beatles, Stones, Monkees, T. Rex, Slade, Alice Cooper, Bowie, Roxy, Progrock, New Wave, Punk usw. usf. je für eine gute Dreiviertelstunde unterbrochen hätte, um dieser Platte mal ein Gehör zu leihen (oder auch nur Lust dazu zu kriegen).
Ein Fehler, wie sich jetzt (ja, das oben Gesagte gilt tatsächlich bis heute!) zeigt. Oder auch nicht, denn was gibt es Schöneres, als Sachen zu entdecken, und daß die Platte bald fünfzig und Van Morrison seit Ende August siebzig Jahre alt ist, spielt dabei keine Rolle – das Zeug, das Archäologen und Schatzsucher aus dem Boden herausgraben, ist im Zweifelsfall noch ein paar Monate älter und trotzdem oft erfreulich.
Freilich habe ich Van Morrison im Lauf der Jahre auf anderen Wegen kennen- und schätzen gelernt, mit den „irischen Beatles“ Them, mit seinen dampfigen, klassisch famosen Soul- und Bluessachen, das paßt schon alles, aber „Astral Weeks“ ist doch was völlig anderes: Der Titelsong zum Beispiel mit seinen superprimitiven Zwei-Akkorde-Harmonien stürzt einen sofort in die urbritische, folksüchtige Denk-, Fühl- und Vorstellungswelt jener Zeit um 1968, als die ganze erste und zweite Generation von Rockmusikern des hektischen Rockens plötzlich müde war, aufs Land zog und von Hobbits, Rittern, Magiern und zärtlichen Burgfräuleins sang.
Und das geht so weiter: scheppernde Akustikgitarren, Fiedelgeigen, Flöten, hier und da Gebläse, ekstatisch reduzierte Rhythmusarbeit; man sieht die Leute förmlich ums nächtliche Lagerfeuer tanzen wie ein wogender Gesamtorganismus. Erst mit der Ballade „Cyprus Avenue“ (von der man sich spontan fragt, wieso sie Rod Stewart nicht spätestens 1971 gecovert hat) löst sich der Zauber, aber nicht im Kater, sondern in einer weiteren, tieferen Sehnsucht, und spätestens da ist man so durchflutet von der glühenden, vibrierenden Lebensfreude, daß man das Fenster aufreißen und über den Ozean jauchzen möchte, egal was.
Es hat übrigens zwei Tage gedauert, diese Platte aufzunehmen: Los ging’s am 25. September 1968; da waren, als der Morgen dämmerte, vier Songs fertig. Am 1. Oktober traf man – Morrison hatte sich, deutlich zu hören auf „The Way Young Lovers Do“, mit einer ganzen Blase von Jazzern umgeben, vielleicht um ihnen den Jazz, mit dem er nichts anfangen konnte, auszutreiben – sich wieder, aber diesmal kam, wie man so sagt, „nichts Verwertbares“ zustande. Vielleicht weil die Session diesmal vormittags begann, da können nun mal höchstens moderne Rockhersteller ihrem faden Handwerk nachgehen. Am 15. Oktober trafen sie sich wieder, noch mal vier Songs, das war’s. Klingt simpel, aber was an Gedanken, Träumen, Assoziationen in den Texten, was an Inspiration und Interaktion in dieser Musik steckt, das ließe sich mit tausend Overdubs, Klickspuren, Effekten und Arrangements nur ruinieren. Man höre notfalls versuchsweise neuneinhalb Minuten „Madame George“, eine wahre Wundertüte, ein Feuerwerk auf den simpelsten drei Akkorden der Weltgeschichte (G-Dur, C-Dur, D-Dur). Zwischendurch verliert der Schlagzeuger mal den Anschluß, selbst das ist egal.
So kann es einem gehen, aber vermutlich nicht nur einem: „Astral Weeks“ taucht seit Jahrzehnten immer wieder auf den oberen Rängen diverser „Platten aller Zeiten“-Listen auf, verkaufte sich aber von Anfang an so schleppend, daß erst nach 33 Jahren wenigstens eine Goldene Schallplatte heraussprang. Dafür braucht ein Avicii geschätzte fünf Minuten. Indes ist es unwahrscheinlich, daß in fünfzig Jahren jemand Lust hat, sich eine Deluxe-Ausgabe von dessen Tracks anzuhören. Zumindest wird er sicher nicht erleben, was der Schreiber dieser Zeilen heute nachmittag erlebt hat. Und das gilt auch noch in fünfzig Jahren, versprochen.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Belästigungen 25/2015: Von Kälte, Wärme, Rotz, Wasser und dem Zauber des selbst herbeigeführten Kurzwinterschlafs

Die Freuden des Winters sind durchaus divers und paradox. Die einen stürzen sich manisch hinaus ins klirrende Kalt und rutschen auf Brettern und Lattengestellen durch die Gegend, bis ihnen Nasen, Ohren und Zehen abfrieren, löten sich hinterher in dröhnenden Holzhütten mit Giftgebräu wie Glühwein und Jagertee das Hirn zu und finden das einen so urigen Spaß, daß sie sich notfalls selbst im höchsten Hochsommer mit Hubschraubern auf sieche Restgletscher kurbeln lassen, um denen nebenbei den Rest zu geben.
Andere verheizen ganze Wälder, Gastanks und Ölfelder, stapeln sich in Saunen und rasen in Geschwadern von Flugzeugen um den Globus, um die Sommerhitze, über die sie Ende September noch gestöhnt haben, als Dauerzustand zu erhalten. Manche tun – in einer Art klimatischer Schizophrenie – gar beides abwechselnd. Und irgendwo am Rande west der Vernünftige, der bei Anbruch der ersten Fröste die Decke bis an den Hals zieht, Dutzende Folgen „Fargo“, „True Detective“ und (weil der frühe Winter nun mal die Zeit der Nostalgie ist, auf die wir noch kommen werden) „Buffy“ oder „Enterprise“ bereitlegt und sich der unvermeidlichen Influenza (oder korrekt gesagt: ihrem kleinen Bruder, dem grippalen Infekt) ergibt. Weil er weiß: Die beste Abhärtung ist die Immunisierung – ein Virus, den man mal gehabt hat, der beißt sich hinterher die Zähne aus, wenn er sein Schleim-und-Hust-Theater zu Zeiten aufführen möchte, in denen man so was ganz und gar nicht brauchen kann. Nämlich in Form der absurdesten Erkrankung, die es gibt: der „Sommergrippe“.
Daß sich der Mensch erkältet, ist die wahrscheinlich älteste Erkenntnis der Welt – und der älteste Irrtum. Mit Kälte hat der ganze Schmarrn so gut wie nichts zu tun, nämlich nur dies: Wenn einen der Virus (der dummerweise ebenso vom Innovationswahn gepackt ist wie der Mensch und deswegen ständig neue Mutationen hervorbringt, so als wäre er ein Windows-Programm, weshalb die verfügbare Auswahl für eine hundertjährige Gesamtbiographie mit zwei bis fünf Infekten pro Jahr locker reicht) – wenn einen dieser Virus erst einmal erwischt hat und sein ungutes Werk der Schleimproduktion in Angriff nimmt, merkt man das daran, daß es einen fröstelt. Und zwar obwohl es gar nicht kalt ist. Oder obwohl es doch kalt ist oder beides – Experimente von Forschern, die nackte Freiwillige mit Eiswasser übergießen oder sie in ungeheizten, vom Zug durchwehten Tröpfelduschen herumsitzen ließen, ergaben ein mehrdeutiges Ergebnis: Wenn es kalt ist, erkältet man sich oder nicht. Wenn es warm ist: auch. Hält man also Kälte für die Ursache der Erkrankung, sitzt man demselben Irrtum auf wie der Soziologe, der behauptet, der Mensch werde automatisch dumm, wenn er nur lange genug FDP oder AfD wählt.
Im Gegenteil mag ein großer Teil der wimmelnden Virenfamilie Kälte gar nicht so gern. Da werden sie nämlich selber siech, die Winzwesen, und deswegen ist es ihnen ganz recht, daß sich der Mensch winters besonders gerne ungewaschen, vollgeregnet und verschwitzt in öffentlichen Verkehrsmitteln zusammenpfercht, wo es dann hübsch mollig wird und nur am einen Ende der Trambahn einer niesen muß, um hundert andere mit ins rotzende Unglück zu reißen.
Indes gibt es selbstverständlich jede Menge Studien, die das genaue Gegenteil beweisen, und wie das in der menschlichen Wissenschaft nun mal so ist, weiß bis heute niemand auch nur ansatzweise, wie das denn nun wirklich zugeht mit dem Erkälten. Man ahnt, was eventuell nicht die Ursache ist oder doch oder nicht in erster Linie, aber das war's auch schon. Manche Zeitgenossen sinken für Tage aufs Krankenlager (oder schleppen sich in der moderneren Variante des Umgangs mit Krankheiten wochenlang halbtot an den Arbeitsplatz), wenn sie drei Sekunden lang einem Luftzug ausgesetzt sind; meine Oma hingegen schlief fast hundert Jahre unmittelbar neben dem offenen Schlafzimmerfenster und war, soweit ich mich erinnere, ein einziges Mal leicht verschnupft (da mag auch Pfeffer im Spiel gewesen sein).
Am Ende ist es vielleicht doch so, daß der Infekt einen unergründlichen und unwiderstehlichen nostalgischen Reiz hat. Wer erinnert sich nicht gerne winterlicher Kindheitstage, wenn draußen der bläuende Himmel strahlte und der Schnee glitzerte, während man drinnen in Kissenbergen saß, umgeben von einem unüberschaubaren Chaos aus Donald-Duck-Heften, Science-Fiction-Schund, Schüsseln mit Knabberzeug und Süßigkeiten, in Sichtweite der Fernseher, in dem die zauberhaften Uraltfilme liefen, die man sonst nie sehen konnte, weil sie nur mittags kamen?
Da saß man dann in einer sozusagen zwangsweise mutierten Form des Winterschlafs (den die Industrie dem Menschen abdressiert hat), blätterte, glotzte, fieberte, vergaß Zeit und Raum und Pflicht und Ziel, fiel bei Bedarf in einen kurzen Schlummer, mußte nichts tun, nichts sagen, nichts denken außer dem, was zwischen Traum und Erinnerung von selbst in den Kopf hinein schwappte. Mußte: nur sein, nach Lust und Laune.
Freilich ist irgendwann die Nase wund, tut der Rücken weh, röten sich die Augen vom unablässigen Fernsehen, aber da ist es ja im Normalfall auch wieder vorbei. Dann strebt man frohgemut, erholt und gestärkt hinaus in die frische Luft und freut sich des Lebens nach dem Kurzurlaub im ideell restaurierten Kinderzimmer mehr als zuvor. Weshalb die einzig plausible Antwort auf die Frage, warum und wie sich der Mensch erkältet, nur lauten kann: weil er es will und braucht und indem er es tut.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 16. Januar 2016

Belästigungen 24/2015: Es geht zu Ende, lieber Abfalleimer (gut, daß es dich gibt!)

Seltsam, wie sehr sich der Mensch daran weidet und darin suhlt, daß Sachen zu Ende gehen. Tut er nicht? Tut er doch: Dazu hat er eigens ein Jahr erfunden, das am 31. Dezember ruckzuck und plötzlich aus ist. Es kommt zwar gleich ein neues daher, angeblich, aber das besprechen wir vielleicht demnächst, wenn es so weit ist. Erst einmal: wird das Jahr in ein paar Wochen ruckzuck und plötzlich aus sein, und das treibt den Menschen um.
Und zwar schon Wochen und Monate vorher, weil das Gefühl, daß etwas bald aus ist, unweigerlich dazu zwingt, neue Vorräte zu beschaffen. Zum Beispiel stellt man im späten Hochsommer auf dem Weg zum Baden bei einem kurzen Abstecher in den Supermarkt fest, daß sich dort über Nacht tonnenweise Lebkuchen und rotweiß glänzende Schokoladenfiguren gestapelt haben, und da fällt einem ein, daß man kaum noch Lebkuchen und Schokoladenfiguren zu Hause hat, weil das Zeug vom letzten Jahr schimmel- und mottenbedingt größtenteils entsorgt ist.
Und schon hat man den Wagen voll und wähnt wahrscheinlich unbewußt, daß die Vorräte diesmal aber ganz bestimmt nicht ausgehen werden und deswegen auch das Jahr nicht einfach so zu Ende gehen wird. Weil man sich das Jahr als eine Art Motor vorstellt, der mit Lebkuchen und Schokolade angetrieben wird und spontan zerblippt, wenn der Tank leer ist.
Ebenso bemerkt man, nachdem man aus einer Aufwallung von aufgestautem Überdruß heraus nach Jahren endlich doch die Zeitung abbestellt hat, mit einem Blick auf den schwindenden Reststapel noch zu lesender und langsam vergilbender „Könnte ja doch was drinstehen“-Ausrisse, daß man kaum noch Propaganda im Haus hat. Und da hat man auf einmal ein vakuumöses Sinndefizit: Wo ist die Welt hin? Wer schärft mir zwischendurch mal wieder ein, wieso Putin, Assad und die Chinesen die Bösen und Obama, Erdogan und die Saudis die Guten sind? Gibt es die alle überhaupt noch? Und haben wir überhaupt noch eine Regierung?
Fast ist man versucht, den Fernseher einzuschalten, aber die Befürchtung, das Ding könnte nach einem knappen Jahr Vorruhestand so überfüllt mit nicht abgerufener Einpeitschung sein, daß es ex- statt traditionsgemäß implodiert, bremst den dressierten Finger. In höchster Not begibt man sich an einen Wirtshaustresen und bittet eine Freundin, die in solchen Dingen bewandert ist, um Aktualisierung.
„Freilich“, sagt sie, „eine Regierung gibt es noch. Es ist dieselbe wie seit Jahrzehnten, und momentan ist sie wegen dem Terror wieder etwas gefestigt. Zwar hat bei uns gar kein Terror stattgefunden, außer in den Schlagzeilen, aber das hat keiner bemerkt. Der Putin, ja, der ist immer noch böse. Zwar bombardiert er jetzt den IS, aber das tut er nur, um dem Assad zu helfen, der laut SZ ein Diktator, ein Monster und ein Giftgasmörder ist. Na gut, das mit dem Giftgas war wohl nicht er, sondern seine Gegner, und ein sogenannter Diktator ist der Putin ja auch, ebenso wie gut neunzig Prozent unserer Verbündeten und je nach Definition sogar der Obama. Aber daß er ein Monster ist, weiß man aus gesicherten Quellen. Dann gibt es noch den Erdogan, der neuerdings über Syrien russische Flugzeuge, die den IS bombardieren, abschießen und die mit dem Fallschirm abgesprungenen Piloten hinrichten läßt. Das ist sein gutes Recht, schließlich hatte das Flugzeug zuvor vier Sekunden lang türkisches Gebiet überflogen und war in diesen vier Sekunden zehnmal per Funk gewarnt worden. Der Erdogan wiederum unterstützt gemeinsam mit Saudis und anderen den IS gegen den Assad und gegen die Kurden, allerdings bezeichnet die saudische Regierung den IS als Terrororganisation, weshalb der Erdogan die NATO drängt, daß sie die Kurden ebenfalls als Terrororganisation bezeichnet, während der Erdogan jetzt angeblich auch gegen den IS kämpfen will. Die Amis kämpfen ein bißchen gegen den IS und ein bißchen gegen seine Gegner, und der IS kämpft im Grunde gegen alle, zum Beispiel in Libyen gegen die von uns eingesetzte Regierung und gegen die Gegenregierung. Momentan wird Syrien von fünfzehn Nationen bombardiert, die irgendwie für beziehungsweise gegen Assad, den IS, die Kurden, die Al-Nusra-Front, die Hisbollah und diverse Söldnertruppen sind, die wiederum alle gegeneinander kämpfen. Es ist ein bißchen kompliziert, fast so kompliziert wie in Afghanistan, Ägypten, Irak … Ach, und in der Ukraine …“
Da winkt man am besten erschöpft ab und fragt mit knapp vor dem Tilt stehendem Resthirn, ob es zu diesem ganzen Durcheinander irgendwo vernünftige Informationen gebe. Freilich gebe es die, sagt die Freundin. Es sei aber mit den Medien heutzutage ein bißchen kompliziert: Wo „Information“ draufstehe, sei hauptsächlich Propaganda drin, wo „Propaganda“ draufstehe, sei vor allem Satire drin, und wo „Satire“ draufstehe, sei überwiegend Information drin. Man müsse also im Grunde neben der Satire auch die gesamte Propaganda kritisch vergleichend studieren, und das sei nicht ganz einfach, vor allem wenn man sich leicht ekle, zumal die einheimische Propaganda neben der des IS am schlimmsten und ekeligsten sei.
Ähm, Tilt. Und so sind wir irgendwie wieder beim Jahr gelandet, das demnächst plötzlich aus sein wird, und haben jetzt eine ganz andere Vermutung. Die lautet so: Der Mensch hat das Jahr als eine Art Abfalleimer erfunden, in den er mit geradezu manischem Kollektivfuror Sachen hinein häuft, stapelt, schüttet, kippt, rammt und stopft. Wenn das Ding gerade so am Platzen ist und er fürchtet, daß ihm demnächst die ganze Welt um die Ohren fliegt, darf er den Eimer ausleeren und gibt seiner überbordenden Erleichterung darüber mit Böllerschüssen Ausdruck.
Und dann: sitzt er ernüchtert vor dem leeren Kübel und fängt mit ebenso manischem Furor sofort an, ihn wieder zu füllen. Und dieses ganze Wiederholungstheater dient einem einzigen Zweck: dem kurzzeitigen Gedächtnisverlust. Sonst bliebe der letzte, nicht verrottbare Lebkuchen jahrhundertelang als Mahnmal im Schrank, und was die Weltpolitik angeht, gäbe es seit Jahrzehnten nichts mehr, womit man den Abfalleimer füllen könnte (außer mit gelösten Problemen).

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 12. Januar 2016

Wie sich David Bowie einmal leicht verspätete (kein Nachruf)


Tage, an denen Alben von David Bowie erscheinen, sind für Menschen unserer Generationen lebensgeschichtliche Kerben, die der ersten Zigarette, dem ersten Orgasmus, dem ersten High, der ersten Trennung, der ersten Auslandsreise und der ersten Begegnung mit der großen Liebe mindestens nahekommen. Ich weiß noch, wie ich in den Fernseher gaffte, als „Aladdin Sane“ erschien: als hätte sich eines jener Portale in andere Universen geöffnet, von denen in „Raumschiff Enterprise“ immer nur geraunt wurde. „Diamond Dogs“ beendete mit einem Faustschlag den Glamrock und das erste wilde Zucken verfrühter Teenagerlust, „Station To Station“ tat dasselbe mit dem Progressive-Kasperltheater. Mit „Low“ bekam New Wave plötzlich Sinn, mit „‚Heroes’“ brach die Verzweiflung der Pubertät mit einer herbstlichen Vulkaneruption über das ganze Leben. „Lodger“ vertonte einen traumverlorenen Sommer zwischen Abschiedsschmerz und diffusen Hoffnungsblitzen, „Scary Monsters“ einen quälend langen, langsam durch Wüsten einsamer Zerrissenheit sich schlängelnden Winter ...
Dann: boing, aus. Freilich erschienen weiterhin Bowie-Platten. Jedesmal zuckte das Fieber durch den konditionierten Körper und die abgerichtete Welt; immer hieß es dann: „Na ja, immerhin, es ist Bowie, auch wenn es nicht Bowie ist.“ Das Entsetzen über „Never Let Me Down“, „Outside“ und „Earthling“, die milde Freude über „Hours ...“: Eckpunkte und Einschnitte, verbunden mit Bildern, Orten, Menschen, Gefühlen, unwiederholbaren Augenblicken.
Jeder hat ein Idol, auch die, die bei Aussprechung des blanken Wortes zitternd zusammensinken, die Griffel zum Himmel röseln und aussehen wie Kurt Cobain – bei denen ist es dann eben Cobain selber oder notfalls Deleuze. Jeder weiß: Man kann alles tun, bloß um jeden Preis soll man es unterlassen, seinem Idol in vivo zu begegnen, weil dann ist es aus mit der Idolatrie, und zurück bleiben ein desillusionierter Plötzlichinsidolfreielebengeworfener und ein Idol mit einem Anhänger weniger.
Weil ich nichts glaube und nie folge, bin ich extra Musikjournalist geworden, um mein Idol zu treffen. Das reichte aber nicht, denn im Gegensatz zu Angehörigen des Freundeskreises, die sich mit Gestalten der mittleren Heavy-Metal-Liga abgeben, diesen hinterherintercitten und dann erstaunt sind, daß der Blackmore zwar ein Depp, ansonsten aber ganz normal ist, gehört mein Idol jener Schicht an, der sich auch Journalisten nur ganz vorsichtig nähern dürfen, wie Mücken, die eine Gasbogenlampe umschwirren, um bei der dezennialen Audienz zu verglühen.
Aber es geschah. Man lud mich zu Konzert und Pressekonferenz; das hieß: Ich würde zehn Minuten lang mit ihm einen Salon teilen, womöglich eine Frage stellen dürfen, jedenfalls dieselbe Luft atmen. Also fand ich mich eines Wintermorgens auf dem höchsten Balkon eines ehemals chicen Wiener Hotels, blickte in die Ferne und fühlte mich wie Jesus Christus am Gründonnerstag. Warum Wien? Ich weiß es nicht, verzichtete aufs Fragen; verzichtete, um nicht unterwegs zu explodieren, auch aufs wartende Taxi – natürlich weilte das Idol in einem anderen, ehemals noch chiceren Hotel – und ging zu Fuß.
Da sitzen sie alle, die Unwürdigen, für die mein Idol bloß auch so ein Popstar ist. Mir fällt eine Begegnung mit Aushilfs-Idol Pete Townshend ein, der sich als armseliger alter Mann entpuppte und mir 30 Minuten lang sein neues Musical aufschwatzen wollte. Ich erinnere mich an Iggy Pop, einen lustigen, netten Kerl, der mich fragte, ob ich was zum Schnupfen dabei habe. Ich weiß noch, wie ich mit Blondie in einem Hotelzimmer saß. Debbie Harry streckte sich nach einem Hängeschrank, furzte dabei vernehmlich, drehte sich zu mir um und fragte mit einem fiesen Grinsen: „Was that you?“ Ich erinnere mich an Roger Daltrey, Kenny Jones, Marianne Faithfull, Mick Jagger, Brian Molko, John Cale, Elvis Costello, Damon Albarn, Noel Gallagher, Nick Cave, PJ Harvey, Brett Anderson, Evan Dando, an viele andere, lauter lustige, nette Kerle, aber hier geht es nicht um einen Musiker, nicht um einen Popstar, sondern um ein Idol.
Der Recorder läuft bereits, man raschelt, scharrt, kichert, eine Tapetentür öffnet sich, da steht er – und ist praktisch schon wieder weg, denn sofort brechen aus zehn japanischen Mündern in holzigem Stakkato-Englisch Fragen heraus wie “Wot is yur näxt alpum gonna be laik?” und “Wänn will yu finnisch yur Karrir?”, dazu stroboskopartiges Blitzlicht. Ich zerknülle meinen Zettel, schlurfe zum Konzertsaal. Bade in Erinnerungen. Dann steht der Platten-Boß neben dem Kollegen, flüstert ihm diskret ins Ohr, nicht ahnend, daß ich den mit Vornamen duze, und so darf ich auch zum “Meet and Greet” hinter die Bühne, mich ans Ende der Schlange stellen. Und wieder öffnet sich eine Tapetentür, diesmal werden statt Blitzen Hände geschüttelt, und als ich endlich an der Reihe bin, sage ich mitten in David Bowies Gesicht hinein: “I’ve been waiting 25 years to meet you!” Und er sieht mich an, lächelt breit wie ein Melonenschnitz, sieht aufs Handgelenk (da ist keine Uhr) und sagt: “Sorry, I’m a little late!”
Ich kann mich nicht erinnern, wie ich zurück ins Hotel, ins Flugzeug, nach Hause gekommen bin. Hat sich das gelohnt? Was für eine Frage!

(eine Montage aus zwei Texten, einem für die taz von 2000, einem fürs IN MÜNCHEN von 2013)

Montag, 4. Januar 2016

Im Regal: Umberto Eco "Nullnummer"

Seit „Der Name der Rose“ besetzt der ehemals als Semiotiker tätige Umberto Eco romanweise mit höchstem Erfolg ein Genre, das er selbst begründet hat: die Verbindung von Abenteuer- und Kriminalgeschichten mit historischen Tatsachen, Mythen, Textauslegungen/Zitaten und Verschwörungstheorien, die er allesamt so wild durcheinandermischt, daß daraus inzwischen weit über die Literatur hinaus eine Lieblingsbeschäftigung „postmoderner“ Weltdeuter geworden ist. Das Rezept bleibt im wesentlichen gleich; der Reiz der Geschichten ist durchaus unterschiedlich und hängt davon ab, wie plausibel der weithin, aber nicht immer tief belesene Autor die Einzelstücke zusammenschraubt – und ob er es hinkriegt, seinen Hang zur Gschaftelhuberei und zum Protzen als Hansdampf in allen Infogassen zugunsten einer wenigstens einigermaßen interessanten Rahmenhandlung und mindestens ungefähr erkennbaren Protagonisten zu zähmen.
„Nullnummer“ (gemeint ist kein torloses Fußballspiel, sondern die nicht veröffentlichte Probenummer einer Zeitschrift) ist, obwohl ungewöhnlich dünn und lediglich zwei Monate umspannend, zu lang, zu weitschweifig, zu gespickt mit Redundanzen und Ablenkungen. Die wenigen guten Ideen rutschen dazwischen, die Figuren bleiben blaß, die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Ein gescheiterter Schriftsteller erhält den Auftrag, als Ghostwriter über die Gründung einer Zeitung zu schreiben, die nie erscheinen soll, finanziert von einem zwielichtigen Unternehmer (hinter dem man Silvio Berlusconi vermuten darf). Die Redaktion des Blatts, das „unabhängig“ sein und „die Wahrheit berichten“, zugleich aber kein intellektuelles Niveau anstreben soll, ist eigentümlich besetzt: eine Klatschschreiberin, ein investigativer Skandaljournalist, ein Polizeireporter, ein Rätselredakteur, ein ehemaliger Korrektor, ein Undurchsichtiger. Berichtet werden soll nicht über Geschehenes (das jeder schon aus dem Fernsehen kennt), sondern darüber, was geschehen könnte – ein scheinbar absurder Ansatz, der jedoch im heutigen Spekulations- und Ankündigungsjournalismus weit verbreitet ist. Man möchte meinen, es gehe Eco um Medienkritik: Es gibt viele Anspielungen auf bekannte und weniger bekannte Propagandalügen und Politskandale, Geldwäsche und Mafia, ein paar Ausführungen über Meinungsmache und die Instrumentalisierung von Zeitungen mittels Dossiers über unliebsame Zeitgenossen, aber all das bleibt nebulös und oberflächlich, die Ironie milde. Dazwischen ergeht sich der Autor in der Mailänder Stadt- und Baugeschichte, läßt seine Figuren seitenweise aus Reiseführern zitieren, über Gewicht und Beschleunigung von Autos, Mobiltelephone, weinende Madonnen, Kontaktanzeigen und die Geschichte diverser Malteserorden schwadronieren. Ausführlich widmet man sich den letzten Tagen des italienischen Faschismus und von Benito Mussolini, der – na klar – einen Doppelgänger hatte und von den Alliierten nach Kriegsende über den Vatikan nach Argentinien verschafft wurde, um bei Junio Valerio Borgheses rätselhaftem Staatsstreichversuch im Dezember 1970 zurückzukehren und die Macht wieder an sich zu reißen (was durch seinen plötzlichen Tod gescheitert sei). Diesen Pudding aus Historie und Mythen verquirlt Eco mit der Geschichte der NATO-Geheimarmee Gladio und anderer Stay-behind-Organisationen, aber das ist als „Verschwörungstheorie“ nicht mehr arg reizvoll, weil der größte Teil davon längst historisch belegt ist und Eco ungeklärte Aspekte (etwa die Verwicklung deutscher Geheimdienste in den Terroranschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980) gar nicht erst erwähnt (das Buch spielt 1992: keine gute Ausrede).
Das Ende kommt rasch: Der Redakteur, der all das zu ergründen sucht, wird ermordet, das Projekt eingestellt, der Erzähler flüchtet, da er sich als Mitwisser verfolgt fühlt; dann aber erfährt durch die bekannte BBC-Dokumentation die ganze Welt von Gladio, und mit einem Schlag ist alles gut oder vielmehr: belanglos. Das Leben geht weiter, nichts wird sich ändern. Eine banale Erkenntnis, für die es nun wirklich keine 230 Seiten gebraucht hätte.

geschrieben Ende Oktober 2015 für KONKRET

Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren) #3: Schnipo Schranke "Satt"



Das Interessante (wenn überhaupt) an moderner, nein, sagen wir: zeitgenössischer (um die entwicklungsfreie stilistische Beliebigkeit des entsprechenden Genres auf dem Kunstmarkt als Referenz herbeizuziehen) Popmusik ist ja im Normalfall nicht die Musik selbst, sondern wie sie zum Medien- und also überhaupt: Phänomen wird.
Dazu muß sie einerseits ziemlich normal sein, darf also weder intellektuell noch ästhetisch übertriebene (oder irgendwelche) Ansprüche an den erwünschten Rezeptor stellen, braucht aber andererseits einen Aspekt, der sie aus der Masse des gleichwertig Normalen heraushebt oder seitwärts -schiebt, und zwar blitzartig. Ein milder Ekelfaktor hilft da gerne: Künstler, die ihre eigenen Exkremente verkaufen, Tierschlachtungen auf der Theaterbühne, literarische Auseinandersetzungen mit Analfisteln und entzündeten Nasenpickeln. Die Etiketten „Tabubruch“ und „Grenzüberschreitung“ sorgen für Publizität, weil sie den Reklamebuden, die sich heutzutage „Kritik“ oder „Berichterstattung“ nennen, jegliche weitere/tiefere Beschäftigung ersparen und so hübsch grell ausblenden, daß dieselben angeblichen „Tabus“ und „Grenzen“ schon tausendmal gebrochen und überschritten worden sind und täglich aufs Neue werden.
Das Musikprojekt von Daniela Reis und Fritzi Ernst mit dem trefflichen Namen (Fleisch-Kartoffel-Fettpampe mit Ketchup und Mayonnaise) ist ein gutes Beispiel. Ohne Texte hört sich ihr Debütalbum an wie eine ungelenke, höchstens halbwegs talentierte Sammlung von Wohnzimmerdemos, die minderjährige Fans einst an das Management von Fräulein Menke, Tic Tac Toe oder Lucilectric geschickt haben könnten: unfertig, klapprig, dilettantisch, aufdringlich dissonant, getragen von billigen Da-di-da-di-Plastikkeyboards, einem offenbar mit Trainingsgewichten an den Unterarmen geklopften Schlepp-Schlagzeug und diversen Störgeräuschen (von denen man gerne lobend sagt, sie brächen „Hörgewohnheiten auf“ oder so was). Streckenweise klingt das in seiner Unbeholfenheit rührend charmant, am Stück wird es penetrant, zumal sich die erwünschten Melodien nicht wirklich einstellen wollen und die Versuche, etwas zu konstruieren, was im Ohr bleibt, arg bemüht wirken.
Also die Texte: Auch die sind anstrengend, weil sie unter einem totalitären Reimzwang leiden, die meisten Reime aber schief, krumm oder falsch sind. Poesie kann so nicht entstehen, Witz auch nur hie und da; der Plapperjargon nennt das deshalb gerne: „Diskurs“. Heißt: es geht um nichts als „Du bist doof und gemein“ und „Ich bin dies und das und wichtig“. Aber jede Menge Fäkal-, Schimpf und Sexualwörter sowie ein wg. Penis bei Youtube gesperrtes Video – das knallt medial, und die Choruszeile „Du hast mir gezeigt dass es egal ist wenn man liebt schmeckt der Kopf nach Füße und der Genitalbereich nach Pisse“ (die man je nach Interpunktion so oder so verstehen kann) ist ja wirklich so wundervoll zufallsgenial, das Lied dazu so blendend charmant, daß man einfach grinsen muß und sich die Meinungen spontan scheiden: Die einen schämen sich, daß sie so was anspricht, und entsorgen es diskret im Schlagermülleimer. Die anderen (vornehmlich überdrüssige Hipster ab Mitte vierzig) blenden aus, daß der Rest der Platte um den Hit „Pisse“ herum nur aus gescheiterten Versuchen besteht, noch mal so was Zufallsgeniales hinzukriegen, und schwärmen drei Wochen lang Hinz und Kunz vor, wie sagenhaft geil das Ding ist, jetzt nicht nur wegen Hörgewohnheiten, Tabubruch bla, sondern auch wegen „Genderdiskurs“ und Dings und Dongs irgendwie.
Ganz dafür oder voll dagegen, dazwischen geht nicht. So geht ein Hype, so entsteht ein Phänomen. Dauert aber nie lange, leider oder zum Glück.

geschrieben Anfang September 2015 für KONKRET

Freitag, 1. Januar 2016

Belästigungen 23/2015: Vom stetigen Fortschreiten ins immer Schlimmere (und wie man ihm seitwärts entkommt)

Ein guter Freund, dessen Beruf es ist, zum Zwecke der Aufklärung vor Fernsehkameras sogenannten wichtigen Menschen heikle Fragen zu stellen, wünschte neulich von einem Philosophen zu erfahren, ob es generell und überhaupt einen „Fortschritt“ gebe.
Eine durchaus interessante Frage, der kluge Menschen seit Jahrhunderten nachsinnen und dabei zu durchaus differenzierten, im Ergebnis aber eindeutigen Antworten kommen: Aber ja, es gibt ihn, den Fortschritt, und er führt immer zum Schlimmeren. Es ist dem Menschen, möchte man meinen, offenbar ins genetische Muster hineingeprägt, Erlösung aus dem Elend, in das ihn der Fortschritt hineingesemmelt hat, ausgerechnet wiederum von einem Fortschritt zu ersehnen.
Beispiele für diesen verhängnisvollen Mechanismus bietet die Menschheitsgeschichte in solchem Überfluß, daß dagegen ein Kugelsternhaufen einer Hosentasche voller Schusser ähnelt: Von einer traditionell dem Fortschritt verschriebenen Partei deutscher „Sozialdemokraten“, die zu selbigem Behufe dem eisigen Technokraten und eisern neoliberalen Transatlantiker, aber immerhin integren und nachweislich nicht dummen Staatsträger Helmut Schmidt – mit dem die rückblickend geradezu friedfertig scheinende Bonner Republik endgültig zu Grabe getragen wurde – eine Kanaillerie durchkorrumpierter Witzfiguren wie Sigmar Gabriel und Andrea Nahles in einstmals halbwegs würdige Ämter nachfolgen ließ, bis hin zum putzigen Reisigbesen, der durch eine Terrorarmada von Laubbläsern verdrängt wurde, reicht das Museum der Fortschrittsübel; und was immer man im weiten Feld dazwischen aufklaubt, bietet ein weiteres Exempel.
Da wundert es einen nicht mehr, daß inzwischen eine ganze Junggeneration, deren Vorläufer einst fröhlich und sexuell elektrisiert einer vermeintlichen Gesamtfreiheit entgegen fortschritten, per Totalökonomisierung so wirksam verblödet ist, daß sie statt Erkenntnis und Emanzipation Verschleierung und Unterwerfung anstrebt, ein gesamtes Internet mit mythentümelndem Geraune vollstopft und sich ins Hitlerreich zurücksehnt, weil da alles noch so schön übersichtlich und im übrigen „gar nicht so schlimm“ gewesen sei. Und nebenan fordert am Straßenrand ein Ausstellungsplakat „Auf zu neuen Welten!“ Und da denkt man bloß noch: Freilich! Erst die eine Welt, die man hat, fortschreitend kaputthauen, und dann die Koffer packen und den Müllhaufen zurücklassen.
Man mag sich in desperaten Augenblicken fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, zum Beispiel den Reisigbesen gar nicht erst zu erfinden, sondern das Herbstlaub einfach liegenzulassen, damit es der früher oder später zuverlässig herbeibrausende Dezembersturm in Ecken und Nischen bläst und zum Igelhotel aufhäuft. Immerhin wäre der geplagten Menschenbrut auf diese Weise wahrscheinlich auch der erwähnte Laubbläser erspart geblieben.
Aber da ist man wahrscheinlich schon zu tief drin in der depressionalen Strudelspirale, gegen die selbst die auf Giesinger Schulpausenhöfen einstmals gerne zitierte Kaugummibremse nicht hilft und an deren Ende lediglich die Erkenntnis steht, daß nichts, aber auch gar nichts hilft, weil es eben so ist und geht und weitergeht, bis eines mehr oder weniger fernen Tages mit einem planetaren „Schronz!“ der Fortschrittsmotor endgültig stehenbleibt und der letzte Nachkömmling des Adelsgeschlechts von und zu Euromilliarde feststellt, daß man Geld tatsächlich nicht essen kann.
Zum Glück rettet einen aus dem kulturpessimistischen Herbstgründel eine vertraute Stimme, die darauf hinweist, daß dem Fortschritt der Energie-, Industrie- und Mobilitätsraserei sei Dank der Spätsommer mittlerweile bis in die Novembermitte hineinreicht und es deshalb dringend geboten ist, sich auf den sonnigen Viktualienmarkt zu begeben, auf daß das dortselbst in Flaschen gelagerte Malzgetränk nicht verkomme und das Menschengehirn sich dem hingebe, wofür es da ist: um sich am Ersinnen von zweckfreiem Unfug zu erfreuen.
Und da sitzt man dann, läßt dem zweiten Dunklen ein drittes nachfolgen, badet im Licht der Sonne, die strahlt, als gäbe es kein Morgen und müßte daher der gesamte verbliebene Wasserstoff noch vor dem Abend zu Helium verbrannt werden, und stellt gerührt fest, daß man die Menschenherde, die sich hier, wo sich grundsätzlich seit tausend Jahren nichts verändert hat, zum Zechen, Lachen, Blödeln und Leben versammelt hat, umstandslos durch eine Horde fröhlicher Hühner ersetzen könnte, ohne mehr zu bewirken als eine geringfügige Farbänderung.
Und wie der Blick in ein schwerelos und vergeblich wallendes Dunstwölkchen hineinschmilzt, kommt einem Paul Klees weithin vergessenes Bildnis des Angelus Novus in den Sinn, und man erinnert sich mit einem nostalgisch sehnenden Lächeln dessen, was der leider ebenfalls weithin vergessene Walter Benjamin 1940 dazu schrieb:
„Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Und dann wendet man den Blick seitwärts, läßt es gut sein und holt noch zwei Bier, bevor es dunkel wird.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #352: Beach House "Thank Your Lucky Stars"


Der Herbst ist der Bruder des Schlafs. Des Schlummers, durchwoben von Träumen und Erinnerungen, in denen sommerliches Gelächter, leise Tränen, zehrende Sehnsüchte und wolkige Leichtigkeit nachhallen wie aus einem Kino am Ende einer verlassenen nächtlichen Straße. Da erklingt auch Musik, die im Moment des Erklingens schon ertrinkt im tiefen Blau der Ewigkeit, in einem Pool, einem See aus Hall und Leere. Am Strand steht ein kleines Haus, in dessen Fenstern nachts Kerzen brennen.
Nicht ganz nüchtern betrachtet wirkt das neue, das sechste Album von Beach House (und das zweite innerhalb von zwei Monaten!) wie eine sehr extended Version jener berühmten Vor-Schluß-Szene in Jack Claytons „Great Gatsby“-Verfilmung von 1974, in der scheinbar ganz offensichtlich nichts passiert und vermeintlich alles geklärt ist, und als dann alles auf einmal passiert und das ganze, die gesamte Erlebniswelt umspannende Phantasiegebilde mit einem Schuß in Trümmer fällt, ist es zu spät und der zeitlose Augenblick absoluter Unbeschwertheit längst zur Ewigkeit geronnen, zur Erinnerung, die für immer bleibt, wenn und obwohl alles vergangen ist, völlig und restlos. Es soll Menschen geben, die von dem ganzen Film nur diese Szene im Gedächtnis behalten und alles andere, auch ihre mörderische Zernichtung, vergessen haben.
Für Beach House – Sängerin/Keyboaderin Victoria Legrand und den Gitarristen Alex Scally – ist „Thank Your Lucky Stars“ (der Titel entstammt einer britischen TV-Musiksendung, die von 1961 bis 1966 für Popmusikfans unverzichtbar war) zugleich eine Weiterentwicklung („wobei wir“, wie Scally schon zum Ende August erschienenen Vorgänger „Depression Cherry“ meint, „den kommerziellen Hintergrund, in dem wir existieren, völlig ignorieren“) und das Schließen eines Kreises: So sparsam instrumentiert, luftig arrangiert und vermeintlich schwerelos wie hier hat man das Duo seit seinen ganz frühen Tagen vor elf Jahren nicht gehört. Ideale Musik, möchte man meinen, um damit eine herbstliche Wohnung zu füllen, während man sich den jahreszeitlich bedingten Auf- und Umräumarbeiten widmet, Geschirr spült, Wäsche wäscht, Bücherregale abstaubt, Wände streicht, Möbel neu arrangiert: Man nimmt sie nebenbei kaum wahr, und sie ist trotzdem da, wie der Duft von Blumensträußen und Birnenquitten auf der Fensterbank.
Aber freilich trügen die harmlos schwebenden Melodiebögen, die schimmernden, scheinbar unbeteiligt vorgetragenen Klänge, die unscheinbar kargen elektrischen Rhythmen, die weltferne, körperlose Stimme von Victoria Legrand, die gelegentlich an Debbie Harry, Hope Sandoval beziehungsweise Nico erinnert. Worum es ihr geht, ist – das war noch nie so deutlich spürbar wie hier – der Song selbst als pures Artefakt, unbenetzt von Soundeffekten, interpretatorischen Individualismen und Schnickschnack. Die Verträumtheit, die man an und in Liedern wie „Somewhere Tonight“, „All Our Yeahs“ und „She's So Lovely“ zu spüren meint, verfliegt augenblicklich, wenn man zum Beispiel „Elegy To The Void“ in angemessener Lautstärke hört und richtig hinhört.
Dann erstehen diese Songs zu wahrer Größe, dann schüttelt man erstaunt den Kopf über den Gedanken an eine Rückentwicklung, den flüchtigen Eindruck von Belanglosigkeit und Ungreifbarkeit. Dann tun sich auch Abgründe auf, die die leise Tränen und zehrenden Sehnsüchte der Sommererinnerung schlucken, und die Wirkung ist – viel mehr als auf eher poppigen Alben wie „Teen Dream“ (2010) und „Bloom“ (2012) – enorm heilsam. Mag er kommen, der Herbst; unser Schlaf wird ruhig und friedlich sein.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt #351: Ecco DiLorenzo & His Innersoul „Soultrain Babadee“


Ein dünner Mann geht durch die Stadt. Bisweilen bleibt er stehen und betrachtet versonnen belustigt das Treiben der Menschen, ihre Wichtigkeiten und Wimmeleien. Dann fremdelt er mal wieder, der dünne Mann, weil er nicht mittun mag und noch nie mochte bei dem Karussell der Konsumiererei momentaner Topprodukte, die sich ein paar Wochen lang neben den Kaufhauskassen und kaum ein paar Jahre später auf den Wühltischen stapeln.
Für einen solchen Circus ist ihm Musik zu wichtig, zu groß, zu erfüllend, zu teuer im klassischen Sinne, denn sein Leben ist Musik. Es könnte ihn mit leiser Wehmut erfüllen, daß in diesem Herbst jedermann und -frau und -kind das gesamte Familienmusikbudget in das zweite Wanda-Album investiert – das sicherlich ein sehr schönes Album ist, im Grunde aber dem ersten ähnelt wie ein Pfannkuchen dem anderen und sich durch übermäßigen Gebrauch ebenso schnell abnützen wird wie dieses. Hingegen kümmert es kaum jemanden, daß der dünne Mann soeben eine Platte gemacht hat, auf der die famoseste, meisterhafteste, mitreißendste, authentischste, schlicht beste Teufelsmixtur aus Soul, Funk und Jazz zu finden ist, die die in vielen Wassern gebadeten Ohren des Autors dieser Zeilen je gehört haben. Den (Autor) erfüllt dies tatsächlich mit einer gewissen Wehmut, den dünnen Mann nicht; denn mag seinen Blick auch gelegentlich eine milde Melancholie verklären: In seinen Adern fließt nicht schweres Blut, sondern reine, brodelnde Begeisterung.
Dazu gibt es eine Geschichte, die im Jahr 1963 beginnt, als der dünne Mann im Apollo Theatre im New Yorker Stadtteil Harlem als Garderobenjunge für James Brown ein paar Groschen verdiente und, als sein Arbeitgeber Pizza essen war, ein Mikro in die Hand nahm und vom elektrischen Schlag getroffen wurde, der seine Stimmbänder zum mächtigsten Gospelorgan diesseits der babylonischen Mauern stromte.
Auf Anraten von Otis Redding suchte er sich eine Band zusammen; nein, keine Band, sondern die wahnwitzigste Truppe von Soul-Funk-Fanatikern, die je auf Gottes Erdboden gelärmt hat: Schlagzeuger Wolfman Slim, einst Buchhalter in einem Wettbüro, den begnadeten Pianisten Cool Daddy G. (der schon als Kind Klavier spielen wollte, aber laut eigener Aussage zu faul war, den Deckel hochzuheben), den polnischen Lederjackendealer und Pillenkopf Piot Tictacowski, den er in der finsteren Exilantenbar Scwierigczuszreiwn in New Jersey auf deutsch ansprach und die Antwort („Was ist?“) in genialischer Treffsicherheit als „Bassist“ verstand, den in der balkanischen Esoterikszene als Guru verehrten Gitarristen Mr. Bubbles, das dreiköpfige Gebläse Motor City Horns aus Tom Shreve, Tom-Toot-in-the-Tin und Big Boy Godzilla, das er (u. a.) Frank Sinatra ausspannte, sowie drei Megawattbatterien in Gestalt der DiLorettes-Sängerinnen Miss Donna Weather, Miss Sugar Kane und Miss Toffy Faye
Freilich: alles Humbug, eine frei erfundene Kolportage (die auf der Webseite der Band genußvoll und detailfreudig weitergesponnen wird). Aber eben nicht doof, sondern witzig und charmant, wie so gut wie alles, was der Hauptprotagonist in seinem bahnen-, kurven- und nischenreichen Künstlerleben so macht: Unser dünner Mann ist selbstverständlich Ecco Meineke, als Kabarettist einer der liebenswertesten, aber auch begnadeter Schauspieler, Geschichtenerzähler, Identitätenschöpfer und eben Musiker, der all diese Berufungen gerne verbindet, weil ihm sein „echtes“ Ich (als das er mit dem Liederalbum „Der dritte Montag“ 2000 leider nicht den verdienten Ruhm erntete) halt nicht genügt.
Authentizität aber ist keine Frage der Her- oder Hinkunft, der Haut- oder Augenfarbe, keine Frage der Person, sondern schlicht eine Frage der Musik, die in und aus ihr lebt. Und daß auf diesem Album die famoseste, meisterhafteste, mitreißendste, authentischste, schlicht beste Teufelsmixtur aus Soul, Funk und Jazz lebt, die der Autor dieser Zeilen je gehört hat – diesen Satz hat nicht der dünne Mann erfunden. Der läse ihn sicherlich errötend und sanft lächelnd und hätte dabei schon wieder was Neues im Sinn.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.