Samstag, 22. Februar 2014

Belästigungen #428: Horrorcrash: Bulldogfräser tot! („Hä?“)

Eines der wichtigsten Wörter, habe ich neulich erfahren, ist „Hä“ – und zwar nicht das „Hä“, das ertönt, wenn man auf einem ostniederbayerischen Gemeindefasching dem Vorsitzenden der örtlichen Traktorfriseurinnung (vulgo: „Bulldogfräser“) aus Versehen die Zigarette in den Hemdkragen fallen läßt. Dieses „Hä“ ist nur ein Warnsignal, daß keine Zeit mehr bleibt, sich ein Taxi zu bestellen.
Das wichtigere „Hä“ zieht ein Fragezeichen nach sich – und zwar nicht das übliche, grazil geschwungene Fragezeichen, das gerne mit Worten wie „Wie bitte“ flirtet, sondern eines von der Anmut der ostniederbayerischen Bulldogfräsertochter: Wenn die das brabbelnde Geplärr überhaupt nicht mehr stoppen kann, schmeißt man ein solches „Hä?“ dazwischen und bringt den Schwall zum Kollabieren.
Drum übrigens ist das „Hä?“ eine der ersten kommunikativen Handlungen, derer ein Kleinkind fähig ist: Weil Mama oft allein ist, plappert sie gerne wirres Zeug vor sich hin, imaginiert dabei Babylein als Ansprechpartner, und wenn dem das Tutsi-tutsi-bitsi-batsi-Theater zu viel wird, platzt ihm das „Hä?“ von selber aus dem Mund, freundlich noch, aber schon in der Gewißheit, daß den meisten Erwachsenen statt einem Hirn eine Rassel unter der Schädeldecke gewachsen ist. Hunden geht es übrigens ähnlich, daher die Erfindung des Bellens, das nichts anderes als ein artikulatorisch angemessenes „Hä?“ darstellt.
Bisweilen genügt dafür ein scheinbar lautloser Ansprechpartner. Zum Beispiel tapste ich kürzlich auf dem Weg zu einem Rendezvous mit meiner Kaffeekanne an einer aufgeschlagenen Ausgabe der sogenannten „Abendzeitung“ vorbei, die irgend jemand aus unerklärlichen Gründen auf dem Küchentisch liegengelassen hatte und die mir mit wuchtigen Lettern entgegenschrie: „Horrorcrash: Deutsche tot“.
Freilich: Daß der Crash eines Tages kommt, weiß ich, seit ich als Teenager in „Grenzen des Wachstums“ geblättert habe – wenn’s so weitergeht, geht es irgendwann nicht mehr weiter, sondern wumms. Aber so plötzlich? und mit einer solchen regionalen Trennschärfe?
Spontan wollte ich eine Rundmail nach Afrika schicken: Die Deutschen sind weg, Kumpels, ihr könnt kommen! Andererseits ist Armutsmigration – das wissen wir aus den Zeiten der Völkerwanderung, als große Teile der ostniederbayerischen CSU und anderer Vertriebenenverbände hierher geschwappt sind – eine aufwendige Sache; zudem wird aufgrund einer rätselhaften Erd- und „Bild“-Strahlung jeder zweite, der sich auf deutschen Boden begibt, über kurz oder lang zum Nazi. Und dann ist es ja so, daß ohne deutsche Entwicklungshilfe in Form von Pipelines, Tötungsgerät und gefrorenem Hühnerklein Afrika in absehbarer Zeit bewohnbarer sein könnte als unsere vergifteten Betonwüsten.
Und wer glaubt schon der „Abendzeitung“? Tatsächlich stellte ich bei einem Rundgang durch Schwabing fest, daß die Deutschen alles andere als weg waren, sondern nach wie vor emsig damit beschäftigt, den Crash, der offenbar doch noch nicht eingetreten war, herbeizuführen. Und zwar im gleichen Habitus wie gewohnt: graugesichtig, mißmutig, eingepanzert in ihre Blechrüstungen und stets mit einem bösen Wort auf den Lippen für den, der seinen Geist und Körper dem gesamtkollektiven Prozeß der Wachstumserzeugung entzieht.
Nämlich konnte ich mich einer gewissen Erleichterung nicht erwehren, bestellte in einem Straßencafé ein Bier, trank und rauchte fröhlich lächelnd – und wurde überschwemmt mit bösen Blicken, weil ich ostentativ nicht tat, was man zum Zwecke der Wachstumserzeugung in erster Linie tun muß: sich um jeden Preis gesund, fit und tauglich erhalten, bis man eines Tages (idealerweise mit Erreichung des Rentenalters) umkippt und entsorgt wird – in den Worten des großen Liederdichters C. Theussl: „gesund gestorben, perfekt verreckt“.
Nein, ich werde mich nicht schon wieder über das Rauchverbot aufregen oder darauf hinweisen, daß es die sinnloseste Dummheit der Welt ist, ein langweiliges Leben so lang wie möglich auszudehnen – erst fünfzig Jahre zu warten, daß es besser wird, und dann fünfzig Jahre langsam zu vergessen, daß es nicht besser wird. Aber eines frage ich mich halt schon: Am gesündesten (und am längsten gesund) sind die Menschen nachweislich dann, wenn sie glücklich sind. Und am glücklichsten sind die Menschen nachweislich dann, wenn die „sozialen Unterschiede“ so gering wie möglich sind – das heißt: wenn möglichst alle gleich viel Geld haben, Punkt. Warum rackert sich dann seit vierzig Jahren eine rot-grün-schwarz-und-vor-allem-gelbe Regierung nach der anderen ab, um mit Gewalt dafür zu sorgen, daß die sozialen Unterschiede immer größer und die Menschen somit immer unglücklicher werden?
Steckt dahinter die Fitneßindustrie, die ihren Krempel verkaufen will? oder einer der vielen grundsätzlichen Denkfehler, die man den Menschen leider immer wieder bescheinigen muß? „Gut geht es mir nur, wenn es mir schlecht geht! und schlecht geht es mir nur, wenn es den anderen noch viel schlechter geht!“? So geht es dann allen schlecht: den Armen, weil sie arm sind, und den Reichen, weil es ihnen Hirn und Magen zersetzt vor Angst und Gier. Bis zum Crash.
Da sollten sie lieber rauchen. Denn der Raucher hat, weil ihm jahrzehntelanges dementes Siechtum in vielen Fällen erspart bleibt, eine größere Chance, gesund zu sterben – früher zwar (obwohl unter den ältesten Menschen aller Zeiten erstaunlich viele Qualmer waren und sind); aber was ist schon Zeit? Geld, eben. Leider gilt die Gleichung umgekehrt nicht: Geld läßt sich nicht gegen neue Zeit eintauschen. Was weg ist, ist weg. Und das letzte „Hä?“ (beim Eintreten dieser Erkenntnis) hört niemand mehr.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Samstag, 8. Februar 2014

Frisch gepreßt #308: Lacrosse „Are You Thinking Of Me Every Minute Of Every Day“


Das Schlimmste am Winter ist seine Länge: Er dauert und dauert, kommt zurück, wenn er weg scheint, dauert und dauert wieder und will nicht mehr weggehen. Das ist aber auch das Schöne am Winter: wenn die Hoffnung auf den Frühling immer wieder wie ein hellblauer Schleier in die Seele weht, greifbar scheint, mit einem milden, melancholischen Lächeln vergeht, sobald man ihn fassen möchte. In diesen Momenten pulsiert die Seele, schwillt das Herz, und eigentlich kann man davon kaum genug bekommen – wie schnöde dagegen der „echte“ Frühling, wenn er dann brettlbreit in den Schlammpfützen der Schneeschmelze sitzt.
In Schweden ist der Winter nicht nur schöner, sondern auch länger, deshalb gibt es dort auch mehr Hoffnung, mehr fröhliche Melancholie. In Schweden dauert überhaupt alles länger, was automatisch dazu führt, daß es vieles gleichzeitig gibt – zum Beispiel sind dort die 70er, 80er, 90er und andere Epochen der Musikgeschichte selbstverständlicher Teil der erweiterten Gegenwart, die wie ein hellblauer Schleier um die Rasierklingenkante des Augenblicks weht. Man lacht und weint dort zur selben Zeit, oder zumindest möchte man das meinen, wenn man schwedische Popmusik hört, der wie kein anderes Regionalidiom der Seiltanz zwischen Genie und Banalität, zwischen Peinlichkeit und hinreißender Vollkommenheit, zwischen Plagiat und Zeitlosigkeit gelingt – von Abba bis Monster, von Komeda bis Mando Diao, von Popsicle bis Lykke Li, von den Cardigans bis … sagen wir mal:
Lacrosse, deren drittes Album wie eine auf Genregrenzen pfeifende Zufallscompilation wirkt. Eine Portion Sandstranddisco, ein Batzen Schäfchenwolkengitarrenpop, ein Haufen Elektroindie, eine Scheibe Post-New-Wave, ein Hauch von fast klangloser Balladerie – man meint, es sei eine ganze Batterie von Bands und Projekten, die hier ihre vor Hoffnung und Lust überströmenden Demos zusammengestellt und manchmal – etwa in dem hinreißenden „If Summer Ends“ – auch miteinander verklinkt und ineinander gemixt haben. Einziges verbindendes Merkmal: Es müssen Songs sein, aus denen sich theoretisch Spielmaterial für sämtliche Radiosender der Welt und Futter für die Top ten des Gesamtplaneten destillieren ließe.
Theoretisch? Demos? Genau, das nämlich ist das Schöne an diesem Album: Es klingt so charmant unfertig, offen und experimentell suchend – es ist alles das noch drin und dran, was bei einer „richtigen“ Produktion wegfällt und rundgeschliffen wird. Keine Idee, von der irgend jemand dachte „Das könnten wir doch auch noch machen, und zwar am besten ganz anders!“, ist ersetzt worden durch Gängigkeit, Schlüssigkeit und Kohäsivität. Instrumente, Effekte, Klänge, Breaks und Gimmicks rasseln derart wild durcheinander, daß man sich mit mundoffener Verblüffung fragt, wie ein derart disparater Brummkreisel so eins sein kann.
Das liegt vielleicht daran, daß der erste Eindruck täuscht: Es dauerte drei lange Jahre und Winter, diese Songs weniger zu schreiben als sie wachsen zu lassen wie wilde Gebüsche, die dann unter der pflegenden Hand des Produzenten Henrik Svensson (dem es schon gelungen ist, aus dem Erzplagiator Moneybrother einen echten Popstar zu machen) genau im richtigen Moment in einer Pracht erblühten, gegen die im Moment des Hörens alles andere wie fad-monochromes Geraniengestrüpp wirkt.
Aber was ist schon alles andere? „This Is Not A War, No Winners No Losers“ (das aktuelle Lieblingslied des Autors dieser Zeilen: Es beginnt als bezaubernd naives Lagerfeuer-Kammerpop-Minijuwel und wird zur Gebirge überspannenden Hymne, die in einer selbstironischen Stadionrock-Kanonade gipfelt) – wenn Popmusik wirklich „gut“ ist, steht sie in der erweiterten Gegenwart der Albumspielzeit ganz für sich allein, so als hätte es überhaupt noch nie etwas anderes gegeben. So wie dieses Album.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 5. Februar 2014

Belästigungen #427: So laßt uns denn ein Distelbäumchen pflanzen (wenn’s nicht anders geht)!

Lügen sind widerlich. Das merkt man, wenn man sich mal ein paar Monate der Berichterstattung über die sogenannte „Politik“ entzieht und dann wieder kurz hineinschaut: ein Blick in so eine Phrasenvisage kann einem einen halben Frühling versalzen, und wenn man sich Gedanken macht über das, was da an vorgefertigtem Sprechmüll herausverklappt wird, wundert es einen nicht mehr, daß neunzig Prozent aller auf diesem Planeten verschickten Mailnachrichten den Erwerb von Viagra betreffen.
Es kann auch passieren, daß man an Menschen gerät, die den ganzen Tag und mit jedem einzelnen Satz lügen. Das ist enervierend: ihnen dabei zuzuschauen und zu -hören, wie sie sich mit jedem weiteren Satz in neue Lügen verstricken, zurückweichen, rechtfertigen, Ausflüchte und Erklärungen zusammenschrauben, bis sie von einem Gestrüpp von Bullshit von derartiger moralischer Häßlichkeit umgeben sind, daß der einzige Fluchtweg in ein Landschaftsgemälde von Caspar David Friedrich hineinführt. Oder notfalls in tagelanges Schweigen.
Große Lügen können einem das Hirn zerfoltern und den Magen zerfressen. Da hilft es wenig, zu wissen, daß sie dem Lügner selbst das Hirn längst zerfoltert, die Haut gegilbt und das Leben zur Laufbahn einer Flipperkugel gemacht haben, die wähnt, sie entscheide selbst, welchen Bumper sie als nächstes küßt. Kleine Lügen immerhin kann man mit einem Zähneknirschen löschen, ohne in Gefahr zu geraten, sich auf das Spiel einzulassen und aus Notwehr oder gerechtfertigter Bosheit zurückzulügen.
Zum (abseitigen) Beispiel begegnen mir in meinem Nebenberuf als gastronomischer Praktikant immer mal wieder Figuren, die sich zum Zweck des Austauschs von Lügen in eine Schankwirtschaft begeben, ein Spezigetränk konsumieren und einem zur Bezahlung des fälligen Verzehrentgelts (3,10 Euro) einen Fünferschein auf den Tresen legen und erwartungsvoll glotzen. Fragt man sie, ob sie zufällig ein Zehnerl dabeihaben, entgegnen sie ohne mit der Wimper zu zucken: Nein, das hätten sie nicht, und dabei hört man ihren Geldbeutel rasseln wie eine Kettenhemdfabrik beim Erdbeben. Also legt man ihnen einen Zwickel hin, knirscht remedierend mit den Zähnen und sagt, der Rest sei Trinkgeld. Was übrigens nicht gelogen ist, schließlich wurde das Zehnerl zweifellos vertrunken.
Die ansonsten der Verbreitung nützlicher Informationen gänzlich unverdächtige „Apotheken-Umschau“, ein Relikt aus der Steinzeit der Bundesrepublik Deutschland, als man morgens nach dem Frühsport den Gartenzwerg polierte, hat in dieser Hinsicht unlängst eine bahnbrechende Erkenntnis verkündet: Nämlich habe die (zum Beleg der unverbrüchlichen Wahrheit noch der abstrusesten These gerne herbeizitierte) Harvard-Universität in einer „Studie“ herausgefunden, daß der Normalmensch morgens grundehrlich erwacht, sich aufrichtig aufrichtet und mit dem Lügen erst im Laufe des Tages beginnt, bis es endlich nach Einbruch der Dunkelheit beim Feierabendbier zu einem Delirium der Schwindelei eskaliert, das gerne mit einer Notlüge (auf Fragen der Kategorie „Wo kommst du jetzt her?“) endet.
Als Grund für dieses tägliche Absinken in den Sumpf moralischer Wurmartigkeit postulieren die verantwortlichen Forscher: Um Lügen zu vermeiden, brauche es Selbstkontrolle, und die ist höchst anstrengend. Weil der Mensch nun mal eine faule Sau ist, hat er irgendwann keine Lust mehr, den natürlicherweise aus ihm heraus erumpierenden Lavastrom von verlogenen Salm und Seim zu unterbinden.
Man möchte meinen, so sei zu erklären, daß in den Redaktionen einstmals als aufrichtig zumindest geltender Zeitungen heutzutage bis in die späte Nacht hinein in die Tastaturen gedroschen wird: Vormittags könnte das, was in einem üblichen „Wirtschafts“-Teil drinsteht, niemand absondern, ohne den dringenden Wunsch zu verspüren, den Nachmittag in einem Beichtstuhl zu verbringen.
Ebenfalls erklärbar wird auf diese Weise, was sich in dem Bereich abspielt, den man heutzutage für „zwischenmenschlich“ hält: Was abends damit beginnt, daß man sich mit treuherzigen Blicken gegenseitig in den Augen herumstochert und sich einen Backenmuskelkater zusammengrinst bei dem Versuch, eine Packung „Streicheleinheiten“ zu erwerben, endet gerne morgens mit der herausdiskutierten Erkenntnis, eine weitere „Arbeit“ an der „Beziehung“ sei nicht mehr zielführend und profitabel, der Austausch zweckstrategischer Körperberührungen daher umgehend einzustellen und auf ein neues Objekt zu richten, das man unter zukunftsökonomischen Ertragsgesichtspunkten aus dem verfügbaren Angebot wählt und nach eingehender Prüfung in den Warenkorb legt.
Vielleicht liegt hier eine tiefere Erkenntnis vergraben: Möglicherweise ist das, was der heutige Mensch zwischen Schlafstatt, Karrierefabrik und Freizeitpark, zwischen Konsumartikelabgabestelle, Wahlkabine und virtuellem Gebimse, zwischen Autobahn, Sexualmarkt und Talkshow und den Kultstätten diverser Religionen von „Marktwirtschaft“ bis Kundalini so zusammenlebt, insgesamt und sonders so falsch, daß aus seinem Hirn nichts anderes mehr herauskommen kann als Lügen – so wie aus einem Blumentopf, in den man einen Distelsamen legt, niemals ein Pfirsichbaum herauswachsen wird?

Aber ach: Da sehe ich den Herrn Adorno winken, und ehe er mir mit seinem Zaunpfahl wegen Disteldiskrimierung und des Exports von Eulen nach Athen zu Leibe rückt, werde ich nun lieber in ein Caspar-David-Friedrich-Gemälde entfliehen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.