Donnerstag, 15. November 2018

Belästigungen 20/2018: Demokratisierung soll allen nutzen! Damit Bayern stabil bleibt!


Was ein „Demokrat“ ist, weiß ja niemand so genau zu sagen. Irgendwie wohl ein Herrscher (griechisch: kraté͞in = „herrschen“, vgl. „Autokrat“), aber wie oder was der Demokrat be-herrscht, bleibt unklar. Das „Volk“ (griechisch „dḗmos“)? Könnte sein; wenn allerdings – wie das wohl erwünscht ist – jeder einzelne ein Demokrat ist, wie soll das dann gehen?
Beherrschen soll der„Demokrat“ jedoch vor allem eines: einen Stift in die Hand zu nehmen und auf einem Zettel ein Kreuzchen zu machen bei der Partei, von der er sich und seine Mitbürger in den nächsten paar Jahren be-herrscht sehen möchte. Drum fordert man auch mich dazu immer wieder freundlich auf: schließlich sei ich, auch ohne es zu wissen, ein Demokrat und müsse das tun, weil die Demokratie sonst irgendwie geschädigt werde.
Dieses Ankreuzen, das wird selten erwähnt, ist eine verantwortungsvolle Tätigkeit: Macht man das Kreuzerl versehentlich oder aus Lust und Laune an der falschen Stelle, hat (zum Beispiel) die CSU plötzlich 0,00001 Prozent mehr! Daher ist man streng verpflichtet, sich zuvor genauestens zu informieren, was der Haufen, für den man sich entscheidet, genau will, anstrebt und bezweckt und was ihn von den Zielen der anderen Bagagen unterscheidet. Sonst ist man hinterher schuld, weil man (zum Beispiel) eine Nazipartei gewählt hat, die euphorisch Frieden, Wohlstand und Glück versprach und hinterher Völkermord, Krieg und Elend bewirkt hat. Oder eine Sozialdemokratie, der es in jahrzehntelanger Täuschungsarbeit gelungen ist, den Neoliberalismus als alles be-herrschende und durchsetzende Ideologie durchzusetzen.
Allerdings habe ich angeborenerweise keine Lust, seitenweise blumiges Bullshitgeschwätz zu lesen, und halte mich daher als sicherlich nicht untypischer bayerischer Staatsbürger an das, was die Kandidaten auf ihren allüberall durch die Gegend leuchtenden Plakaten propagieren. So was muß man ja nur mal genau lesen, dann erfährt man schon was.
Fangen wir bei den Wirtschaftsfaschisten an. Deren örtlicher Haupt-Mann schreibt neben dem für seine Partei typischen pseudohippen Kinderbamslerfirlefanz: „Digitalisierung statt Bürokratisierung“.
Ins Deutsche übersetzt bedeutet das: Ausbeutung statt Entfremdung. Letztere, das wissen wir von Franz Kafka, ist keine schöne Sache. Andererseits hilft gegen wahnsinnige Innovatoren, die Natur, Menschen und gesellschaftlichen Strukturen zerstören möchten, um ihren Profit zu steigern (neudeutsch: „Arbeitsplätze zu schaffen“) nichts so gut wie eine anständige Bürokratie. Und selbst der schlimmste Stempelfetischist im amtlichsten Amt ist harmlos gegen die alles erfassende Mühle der modernen Wirtschaft, die Menschen zu Ameisen macht, sie knechtet und entrechtet und ihnen ihre Lebenszeit raubt. Das auch noch zu wählen, geht also von Haus aus nicht.
Ein Stück weiter fordert ein weiterer Verein aus der ultraneoliberalen Ecke, in der mittlerweile etwa 95 Prozent der Parteien mit einer bis zwei Arschbacken sitzen: „Mehr München, weniger Brüssel“. Wenn man bedenkt, daß München trotz den wuchtigen Bemühungen der gleich-schlecht-macherischen Kräfte von Handelskonzernen bis Architektur immer noch zu gut zehn Prozent München und aber abgesehen von ein paar Schokoladenläden zu genau null Prozent Brüssel ist, verfängt ein solches „Argument“ nur schwerlich. Zumal dieselbe Partei (sie heißt LKR und ist „für ein Deutschland und eine EU, wie Sie es sich vorstellen“ – ich frage mal nicht, welches „es“ ich mir da vorstellen soll) an anderer Stelle entsetzt fragt: „Adé Ausland?“ Ja, da liegt Brüssel zweifellos, und wenn ihr da nicht hinwollt, dann laßt es eben. Schließlich verpestet die Herumreiserei sowieso die Luft und kostet Geld, von dem der typische LKR-Wähler laut Plakat „gern mehr im Geldbeutel behalten“ möchte. Daß in so einen Geldbeutel erst einmal was hineingehen muß und wieso da nicht genug hineingeht, mag ich solchen Leuten nicht erklären; dafür ist der Tag zu schön.
Gleich um die Ecke fordert die optisch im Gegensatz zu FDP und LKR immerhin sympathische Spitzenkandidatin der SPD: „Flexible Arbeitszeiten sollen allen nutzen. Nicht nur Unternehmen.“ Klingt erst mal nett. Und mutig, schließlich sind spätestens seit Helmut Schmidt (auch) für die SPD die Unternehmen und ihre Profiteure das einzige, dessen Nutzen Ziel und Inhalt aller Politik sein muß. Aber aus diesem „Sollen“ wird ja sowieso nichts, die Durchsetzung der gesamten Lebenszeit mit Arbeit wird ganz bestimmt nicht ausgerechnet die SPD bremsen. Ausführliche Erläuterungen, weshalb das, was Unternehmen (meinetwegen) „nutzt“, ihren Lohnsklaven automatisch schaden muß, können wir uns daher sparen und einfach sagen: Tun sie aber nicht, basta.
Aus einem anderen Plakat erzählt die Kandidatin, die Busse und Bahnen der Zukunft seien „kostenfrei“. Was wohl kostenlos heißen soll, aber egal: Wir leben auf ewig in der Gegenwart, und da sind Busse und Bahnen leider schweinsteuer und werden in kürzestmöglichen Abständen noch schweinsteurer.
Die auf den ersten Blick etwas unangenehm dynamische, aber auch nicht unsympathische CSU-Kandidatin teilt mit: „Digitales Lernen: mehr als reine Technik“. Das ist – falls sie nicht unter Mißachtung der Großschreibregeln meint, irgendwer solle irgendwas Digitales lernen – purer Unfug und maximal irrelevant. Weil (oder solange) das menschliche Hirn ausschließlich analog funktioniert, können digital höchstens Computer lernen. In denen ist nichts drin außer reiner Technik, und wählen dürfen sie (vorläufig) ebensowenig wie Autos und Brennesseln, also ist’s wurst. Das nächste Plakat derselben Kandidatin spricht: „Schneller Ausbau: Nahverkehr weiter denken“. Ebenso sinnvoll, nämlich nullkommanull, klänge das Gegenteil: langsamer Einbau, um den Fernverkehr enger zu denken.
Zusätzlich widersprüchlich wird der Unfug mit dem schnellen Ausbau (womit bei der CSU immer landschaftszerstörende Schnellstraßen gemeint sind) durch die daneben gleich fünffach hingeprotzte Bitte des so gut wie nicht zu verhindernden Ministerpräsidenten alias „Bavaria One“ („Mission Zukunft“ – noch so einer, den die Gegenwart nicht interessiert), man möge ihm vertrauen, „damit Bayern stabil bleibt“, womit ein „schneller Ausbau“ von was auch immer kaum zu vereinbaren ist.
Aber vielleicht geht das in Richtung der „Freien Wähler“, die „anpacken“ und nicht nur die diesbezügliche ehemalige Hauptstadt, sondern gleich ganz Bayern „bewegen“ möchten, aber leider nicht mitteilen, wohin. Da fällt mir ein, daß das schon mal jemand tun wollte, nämlich diverse Preußen und Österreicher, und zwar nach Belgien, was der Brüssel-Parole der LKR doch wieder eine gewisse Plausibilität verleiht.
Aber es ist ja wahrscheinlich alles gar nicht so gemeint, sondern irgendwie anders oder am ehesten überhaupt nicht. Das gilt auch für das, was ich auf meinem Weg in den nördlicheren Münchner Norden an diesem Vormittag noch so alles vorgesetzt kriege: „Zurück zum Rechtsstaat!“ fordert die AfD und meint wohl nur unbewußt den tausendjährigen ganz rechten Staat. „Neustart Bayern“ plappert ein offensichtlich „verwirrtes Blumenkind“. „Mut geben statt Angst machen“ wollen die Grünlinge von der Ersatz-CSU, außerdem in Ich-Form „bezahlbare Mieten“, was die Frage aufwirft, wie diese einstmals so radikale und visionäre Partei derart verwahrlosen konnte, daß sie übers Bezahlen nicht mehr hinausdenken kann.
Das gilt insgesamt und allgemein. Was nötig, wünschenswert und gut wäre, fordert und verspricht niemand: die Abschaffung der Lohnsklaverei, das Ende des Wachstums … doch, die frömmlerischen Rauchverbieter von der ÖDP fordern letzteres tatsächlich, versprechen ansonsten aber lediglich: „6 Prozent, das schaffen wir!“ Da wird ein bisserl Wachstum dann doch nicht schaden.
So oder so: bin ich vielleicht ein Demokrat, aber eine Wahl habe ich wieder mal nicht. Schade eigentlich, ich hätte meine 0,00001 Prozent gerne jemandem gegeben, der Vernünftiges will, tut und sagt. Vielleicht das nächste Mal.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 10. November 2018

Frisch gepreßt #424: Anna Calvi "Hunter"


Die Tragödie, das wissen wir aus dem Schulunterricht, ist die Mutter der Farce. Was historiographisch bedeutet: Alles kehrt zurück, aber dann eben als „derbes, komisches Lustspiel“, wie das Lexikon meint. Als „Posse“.
Das stimmt manchmal nicht. Die Farce nämlich ist bisweilen etwas anderes, Kulinarisches: eine raffinierte „Füllung“ (so die französische Wortbedeutung), die aus einer Speise erst das macht, was sie ist oder ihr mindestens Würze, Esprit, Feinheit, Schärfe, Tiefgang, Süße, Bitternoten, Aroma und mancherlei weitere Details hinzufügt.
Die Tragödie wiederum hat bei Anna Calvi mehrere Facetten: Ihr epochales erstes Album von 2011 ist zweifellos ein Inbegriff des Tragischen, so überrandvoll mit tobenden, taumelnden, zerbrechenden, auf einem dünnen Seil über unfassbaren Abgründen tanzenden Emotionen, mit Schrecken, Hitze, Eis und Verführung, daß es unbedarft frohsinnige Menschlein überfordern, ja erschlagen kann. Wer indes die anderen, die dunklen Seiten des Lebens kennt, sich zum Volk der Verlassenen, Einsamen, Unbeachteten, Verwundeten zählt, für den ist die Platte nach wie vor und für alle Zeiten ein unerschöpflicher Quell von Stolz, Kraft, Trost, intensivsten Emotionen und erotischem Selbstmitleid, der alles ähnliche überstrahlt und in der Popmusikgeschichte ziemlich allein dasteht. Hinzuzufügen, so schien und scheint es, ist dem nichts.
Tragödie zwei: „Anna Calvi“ hatte damals einigen Erfolg, erntete Preise, erreichte hier und da die Top 40, in Frankreich, wo man offenbar tiefer fühlt, sogar die Top 20. Trotzdem wird der wahre Liebhaber nie verstehen, wieso ein Album, das mindestens vier Songs für die Ewigkeit enthält (sagen wir: „Desire“, „Blackout“, „Suzanne & I“, „Morning Light“, mindestens), nicht mindestens 400 Millionen Menschen gekauft haben.
Nach dem „intimeren“ (oder sagen wir: etwas unerheblichen) zweiten Album „One Breath“ von 2013 (das seine Stärken hat, zweifellos, aber wie soll es die im Schatten des Debüts deutlich zeigen?) folgten fünf Jahre Pause. Und jetzt: das dritte. Eine Farce?
Ja, in gewisser Hinsicht, und auch das ist tragisch: Unbedarft frohsinnige Menschlein (von denen es aufgrund fortgesetzter Beschallung mit Plastikmuzak heute ein paar Millionen mehr geben dürfte als 2011) werden vor der Platte stehen wie der Ochs am Berg und nichts verstehen. Ein hymnischer Ohrwurm wie „Desire“, der sie überzeugen könnte, sich näher ranzuwagen, ist nicht drauf.
Für uns andere aber ist „Hunter“ tatsächlich eine Füllung: wieder aufscheinende Fetzen vertrauter Melodien offenbaren vieles über Anna Calvis Einflüsse, Leidenschaften, Lieben, auch die Geister, die sie in ihrem künstlerischen Wirken verfolgen, was wir bislang nur ahnten oder fühlten. In dem elegischen, schwülen, düsteren, intensiven Gewitter, in dem ihre Gitarre und die (weit in sphärische Höhen gewachsene) Stimme Blitz, Donner und thronende Wolkengebirge zugleich sind, finden wir die Klangphilosophie ihres Mentors Brian Eno, die impressionistische Weite von Morricone, Debussy, Messiaen, den ekstatischen Fluß von Jimi Hendrix, den verletzlich-verletzten, trotzig triumphalen Stolz von Siouxsie, PJ Harvey und Patti Smith, aber auch ein geisterbahnartig schockierendes Zitat von Suicide. Wir spüren ihre italienischen Wurzeln, den Twang von Duane Eddy, selbstverständlich Bowie, Morrissey, Cave und Scott Walker, aber auch ihre orchestralen, sinfonischen Ambitionen (2017 schrieb sie die Musik für eine Oper nach E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“-Novelle). Und einiges mehr.
Es ist ein weites, tiefes, atmosphärisches, streckenweise enorm dichtes, dann wieder nebulös schwebendes drittes Album, das, wie gesagt, seinen ganzen Reiz und Zauber nur in amalgamierter Verbindung mit dem ersten (und möglicherweise dem zweiten) entfalten kann. Aber, liebe Novizen: Wagt es. Holt euch alle beide (oder alle drei), verzichtet auf alles (oder vieles) andere. Ihr werdet es nicht bereuen. Der Herbst wird lang und düster, und ihm werden viele weitere folgen, die ohne Anna Calvi nur halb so schrecklich und schön, traurig und trostvoll sein werden.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 8. November 2018

Belästigungen 19/2018: An jeden Satz eine Blödphrase dranhäng! Stichwort Grunzglocke!

In letzter Zeit ist mir aufgefallen, daß die Leute, deren Job es ist, unsere Meinungen zu „bilden“ und uns ideologisch bei der neoliberalen Stange zu halten, kaum mehr einen Satz aussprechen können, ohne als verbale Interpunktion die Phrase „Stichwort Digitalisierung!“ hinterherzubellen. Was sie zuvor an „Info“ o. ä. ausgestoßen haben, erhält dadurch irgendwie eine ganz andere Schattierung. Zum Beispiel: „Die Arbeitswelt wandelt sich. Stichwort Digitalisierung!“
Sagte man statt dessen: „Die Arbeitswelt wandelt sich. Arbeiter werden immer rücksichtsloser und brutaler ausgebeutet und ihrer Lebenszeit und des Ertrags ihrer Schufterei beraubt“, käme das zwar einer inhaltlich wie sprachlich sinnvollen Aussage wesentlich näher, aber als Propaganda für den Wirtschaftsfaschismus ist derartiges (wie die meisten sinnvollen Sätze) nicht zu gebrauchen.
Derartige sprachliche Zwangshandlungen sind spätestens seit der Erfindung der Fernsehreklame, in der so was besonders oft vorkam („Da weiß man, was man hat! Guten Abend!“), keine Seltenheit. Wahrscheinlich gab es sie aber schon früher. Ich weiß, wie das ist, weil ich selber mal von so einem Virus befallen war: In der dritten oder vierten Grundschulklasse konnte in meiner gesamten Peer Group plötzlich niemand mehr einen Satz aussprechen, ohne ein „Hey!“ dranzuhängen. Also nicht „Ich schraub mir jetzt ein Dolomiti in den Hals und check ins Michaelibad!“, sondern „Ich schraub mir jetzt ein Dolomiti in den Hals, hey, und check ins Michaelibad, hey!“ Damals, in den Zeiten vor Whatsapp und Facebook, wurde viel geredet, vor allem im Unterricht, und so schafften wir an guten Tagen mühelos bis zu tausend „Hey!“s.
Eltern, Lehrer und Kollateralbetroffene erlitten einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen und flüchteten sich in wüste Drohungen: „Wer noch einmal Hey! sagt, fliegt an der nächsten Ampel naus!“ hieß es zum Beispiel auf einer Fahrt an den Starnberger See mit meinem Freund H bereits nach zwei Minuten, als wir noch nicht mal die Grenze zwischen Ober- und Untergiesing überquert hatten. In Possenhofen saßen immer noch alle fünf Besatzungsmitglieder im Opel Rekord: eine kopfschüttelnde, vor Überdruß schlotternde Mutter, ein Vater, der innerhalb der ersten Viertelstunde Fahrt seinen gesamten Nachmittagsbiervorrat in sich hineingeschüttet hatte, um im Trommelfeuer des Hey!-Hey!-Hey!-Kichergeplappers keinen Schlaganfall zu erleiden, und drei Rotzlöffel, die ebenso hilflos waren. Weil man so was, wenn man‘s sich erst mal angewöhnt hat, genauso leicht wieder los wird wie eine Warze am Zeh oder eine fünfzehnjährige Heroinsucht: Es geht, aber es erfordert Vernunft und dauernde Aufmerksamkeit. Und wie jedermann weiß, hat ein durchschnittlicher Neunjähriger alle möglichen Fähigkeiten und Talente. Aufmerksamkeit und Vernunft gehören aber ganz bestimmt nicht dazu. Es kostete uns ein gutes Jahr, die Hey!-Gewohnheit durch eine neue, in Elternaugen noch wesentlich schadhaftere und schädlichere zu ersetzen (die Donald-Duck-Infinitivsprache: „Ich gestern: lern, spiel, Musik hör! Schluck, Hausaufgabe vergessen hab! Eh total scheiße sei! Sonne schein! Baden woll! Lehrer deppert sei! Einfach blau mach!“).
Damit sei klargestellt, daß ich mir keine Sorgen um die Degeneration der deutschen Sprache durch kindliche Plappermoden mache. Ich glaube nicht, daß es für Zustand und Qualität eines Idioms oder Dialekts von großer Bedeutung ist, ob man „geil“, „cool“, „hübsch“, „groovy“, nice“ oder „dufte“ sagt. Daß praktisch die gesamte neu erschienene deutsche Literatur der letzten zwanzig Jahre ein einziger See von hirnloser, legasthenischer Gülle ist, könnte da schon eher eine Rolle spielen, aber mei: Außerhalb einschlägiger Seminare liest den Seim ja sowieso kein Mensch. Stichwort Digitalisierung!
Sorry, das ist mir jetzt rausgerutscht, hey! Aber vielleicht sollte ich‘s mir angewöhnen. Nämlich stelle ich fest, daß die Leute, die an jeden Satz ein „Stichwort Digitalisierung!“ dranhängen, dabei zwar hirnlos, aber auch ziemlich fröhlich wirken. Und wenn ich mich recht erinnere, waren wir in Zeiten von „Hey!“ und „Bumm! Explodier! Scheibe einschieß! Hausmeister durchdreh!“ auch meistens ziemlich fröhlich. Also: Was soll‘s! Stichwort Digitalisierung!
Blödphrasen wie diese haben zwei enorme Vorteile. Erstens: Sie passen immer und können notfalls als sinnlose, aber prägnante Rechtfertigung dienen: „Wir müssen Ihren Arbeitsvertrag kündigen! Stichwort Digitalisierung!“ - „Schatz, ich komme heute nicht nach Hause! Stichwort Digitalisierung!“ - „Geben Sie mir Ihr gesamtes Geld! Stichwort Digitalisierung!“ - „Mir egal, ob Sie diesen Sitzplatz reserviert haben! Stichwort Digitalisierung!“ - „Leider haben wir kein Bier mehr! Stichwort Digitalisierung!“
Und zweitens: Wenn man die Blödphrase oft genug ausstößt, merkt niemand mehr (man selber schon gar nicht), daß sie absolut keinerlei Sinn, Bedeutung, Inhalt und Aussage hat und absolut niemand auch nur ansatzweise erklären könnte, was „Digitalisierung“ eigentlich sein soll. Einziger Nachteil: Irgendwann wird‘s langweilig. Aber dann finden wir schon was neues, was der gleiche Bullshit ist, genauso bescheuert klingt, ebenso fröhlich macht und denselben Zweck erfüllt. Wie wär‘s zum Beispiel mit „Stichwort Sockenwurst“, „Stichwort Grunzglocke“, „Stichwort Hans Georg Bing“ oder „Isarkanalisierung, hey!“?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.