Sonntag, 23. März 2014

Frisch gepreßt #311: Neneh Cherry "Blank Project"


Der Jargon, in dem heutzutage über Popmusik verhandelt wird, ist wie ein ziemlich schlechter Witz, den sich tausend Leute gegenseitig erzählen, und zwar in einer Sprache, die keiner von ihnen beherrscht und von der die meisten höchstens ein paar Wörter ungefähr kennen. Darüber sollte man sich nicht beklagen, denn manchmal ist das Ergebnis recht erheiternd. Was Verben wie frickeln und schrammeln sowie die automatisch mit dem Salzstreuer im Text verteilten Adjektive von atmosphärisch bis deep, fett bis satt, nuanciert, affektiert, fein, klein, spröde, rund, kantig usw. usf. bedeuten, wird nie ein Mensch erklären oder auch nur herausfinden können, aber ein Schmunzeln mag man sich auch nicht verkneifen, wenn wieder mal ein gealterter Wollmützennerd mit päpstlichen Pathos litaneit, es werde auf einem „Werk“ dies und das und diese und jene angebliche Stilrichtung (von denen mangels Beschreibungsfähigkeit wöchentlich mindestens zehn postuliert werden müssen) nicht etwa gemischt, sondern verschmolzen, neuerdings geblendet und dabei doch stets zuverlässig versöhnt, ohne indes – das ist enorm wichtig, weil es ausnahmslos gilt – ins Irgendwiehafte oder -artige „abzudriften“.
Zum Beispiel kann von Neneh Cherry, der sicherlich begabten (eine der beliebtesten Beleidigungen) Tochter des ziemlich irren Jazztrompeters Don Cherry, niemand erzählen, ohne zu betonen, was sie in ihrem auch schon recht langen musikalischen Berufsleben so alles verschmolzen und versöhnt hat: von der Soulballade bis zum scheppernden Hinterhof-Hip-Hop, vom (immer) düsteren Trip-Hop bis No-Wave-Krach, vom Kaugummi-Popserl bis zum, freilich, hochintellektuellen Jazz. Und keiner wagt es mal festzustellen, daß das alles nicht stimmt und daß sie eigentlich immer das gleiche tut, für das es halt leider keinen (logisch!) „griffigen“ Begriff gibt, noch. Und daß sie dabei keineswegs nie, sondern immer abdriftet in Extreme, die man dann festnagelt und etikettiert.
Die 18 Jahre, die „die Welt auf ihr neues Werk warten mußte“ (der nächste Schmarrn: Wer tatsächlich gewartet hat, möge sich bitte melden), „schüren“ (puh) „Erwartungen“. Wäre „Blank Project“ das Debüt einer jungen Künstlerin, würde man es gänzlich anders hören und verstehen also so; und wenn nicht ihr Name draufstünde, käme auch kaum jemand von selbst drauf, daß dies ein Neneh-Cherry-Album ist – seien wir ehrlich: Ihre Stimme war und ist alles andere als unverwechselbar, und ein identifizierbar eigenes musikalisches Idiom hat sie bei all dem Driften, Verschmelzen und Versöhnen seit 1988 (zuletzt 2012 auf dem chaotisch-wilden Kollektivprojekt „The Cherry Thing“) nie gefunden und vielleicht auch nicht gesucht.
Weil: „good things come to those who wait“, so lautet das Schlußwort des Albums, wobei „warten“ nicht zeitlich gemeint ist (die zehn Tracks entstanden in fünf Tagen!), sondern mental, als Offenheit des Sammlers, der für alles ein Auge hat, weil man alles mal brauchen könnte, und sei es nur zum Ausprobieren. „Blank Project“ ist daher genau das: eine anfangs vollkommen leere, dann randvolle Kruschkiste mit unterschiedlichsten Fundstücken, die der Zufall zusammengebracht hat. In „Across The Water“ ist außer einem entspannten Klopfen und Cherrys Stimme nichts zu hören, im Titelstück wird das Trommeln manisch, dazu versuchen grimmige röhrende Minimalsynthesizer die Sängerin aus dem Konzept zu stören, die derweil recht ungerührt von einer ziemlich blöden, verfahrenen Beziehung erzählt.
Es knackt und zirpt viel, manchmal schweben Töne vorbei, Melodien gibt es so gut wie nichts, und wenn doch mal, sind sie ziemlich entstellt (wer seine Nachbarn nicht mag, darf gerne mal den Chorus von „Naked“ laut mitsingen). Das meiste, was dieses Album an Klang enthält, könnte man durch etwas ganz anderes ersetzen, durch fast alles andere. Pop? Null.
Das macht aber gerade den Reiz der Platte aus: ihre Zufälligkeit. Dies ist Musik, die durch den Raum staubt, perlt, rieselt und schwadet, während eine unergründlich sympathische Frau Geschichten erzählt, entspannt und gelassen. Die Emotionen, die man darunter ahnt und hin und wieder spürt, halten die Spannung, ohne sich aufzudrängen, selbst in den Passagen, wenn die Töne sich Mühe geben, bedrohlich zu wirken.
Das Paradoxe an dieser randvollen Kruschkiste ist ihre gleichzeitige Leere: In die paßt das eigene Leben des Hörers, und zwar so gut wie jedes. Ein Kritiker nannte das Jazz; Quatsch: Es ist das genaue Gegenteil, aber ich werde jetzt nicht in die Falle tapsen, einen Begriff dafür zu finden.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 19. März 2014

Belästigungen #430: Ich bin nur ein Symbol, mein Schatz!

„Warum liest du das?“ frage ich das Mädchen, das am Nebentisch sitzt und ein Taschenbuch von Thomas Mann liest und dabei schaut, als wären die Buchstaben zu klein oder irgendwie frech. Über uns leuchtet der Himmel, wie er das im Februar am frühen Nachmittag tut: golden, weiter entfernt, als es scheint.
„Ich mag seine Symbolik“, sagt sie und blickt mich an wie eine überraschend erblühte Blume auf einer winterlichen Wiese.
„Oh“, sage ich und weiß nicht weiter. Eine Horde von Vögeln fliegt plötzlich auf und bildet für einen flüssigen Augenblick eine Sichel um uns, die sich als Wolke auflöst.
„Ja“, sagt sie, beugt sich zu mir herüber und hält mir das aufgeschlagene Buch vors Gesicht. „Zum Beispiel gleich zu Beginn dieser Wandersmann, der steht in seiner Wanderhaftigkeit fürs Verreisen. Und sein Blick, das ist der Tod. Der kommt dann immer wieder, der Tod: als Gondel, als Sänger mit Adamsapfel, als Hermes-Inkarnation.“
„Verstehe“, sage ich und lächle ihr direkt in die Augen: scheu, aber bestimmt; eine schlechte Angewohnheit. „Und was bringt das?“
„Es weckt Ahnungen im Leser“, sagt sie und strahlt zurück. Unter dem Nebentisch kopulieren zwei Tauben. Ich denke mir nichts dabei.
„Man ahnt“, sagt sie, „daß der Hauptperson eine Reise bevorsteht, die vielleicht tödlich endet.“
„Das“, sage ich, „würde man bei einer Geschichte, die ’Der Tod in Venedig’ heißt, natürlich nie erwarten.“
Ein weiteres Lächeln, weniger scheu diesmal, soll den despektierlichen Sarkasmus dämpfen, aber sie hat offenbar sowieso beschlossen, ihn als charmante Ironie zu interpretieren. Am Nebentisch nimmt ein junges Paar Platz und unterbricht den Geschlechtsakt der Tauben, die in entgegengesetzter Richtung davoneilen. Der junge Mann zieht einen Ring ab und massiert seinen Finger. Sie hält derweil nach etwas Ausschau, was ihr mißfallen könnte, findet aber offenbar nichts.
„Genau“, sagt das Mädchen und präsentiert mir bewundernd das Buch, als wäre es unser gemeinsames Kind. Ich stelle mir einen Fernsehkrimi vor, in dem nach zwei Minuten sehr prominent eine Windmühle und ein Doktorhut im Bild erscheinen, um zu symbolisieren, daß der Mörder niemand anderer sein dürfte als jener Doktor Müller, der im weiteren Verlauf des Films aller möglicher Unschuldiger vernachlässigt wird.
„Das ist so spannend“, sagt sie.
„Genau“, sage ich, berühre wie zufällig mit der Zeigefingerspitze ihren Handrücken und halte Ausschau nach einer Gondel. Zum Glück fahren die den Viktualienmarkt nicht allzu oft an. Nicht mal ein Hermes-Lieferwagen ist zu sehen.
„Und was liest du da?“ fragt sie und deutet auf mein Buch.
„Pitigrilli“, sage ich. „Da gibt es leider keine Symbole. Alles kommt, wie es kommt, manchmal sehr überraschend, manchmal zwangsläufig der Logik des Lebens folgend.“
„Das hört sich eher trivial an“, sagt sie, und ich sage: „Ja, das kann sein.“
Drei Monate später wohnen wir mehr oder weniger zusammen, weil ihre WG in Freimann nachts schwer zu erreichen und tagsüber ungemütlich ist. Aus dem Vorfrühling ist ein drückend feuchter Mai geworden. Noch immer liegt das Pitigrilli-Buch auf dem Küchentisch, seit damals, als wir unser Gespräch über Thomas Mann schließlich in meinem Bett fortsetzten.
Inzwischen schreibt sie darüber eine Magisterarbeit und wird nicht müde, nach immer neuen Symbolen zu suchen. Ihre Funde füllen einen unüberschaubar großen Ordner auf unserer gemeinsamen Festplatte.
„Gehen wir ein Bier trinken?“ frage ich, aber sie hat keine Zeit.
„Ein Nagel“, sagt sie und deutet auf eine Zeile. „Könnte für einen Sarg stehen.“
„Könnte durchaus“, sage ich und gehe.
Als ich spätnachts heimkomme, liegt sie schlafend auf dem Sofa im hellblauen Strahlennebel des Fernsehers, in dem zu sehen ist, wie ein junger Forscher die Kralle einer Taube mit einem Ring versieht und sie dann fliegen läßt.
„Das ist seltsam“, sage ich.
„Oh“, sagt sie erwachend, „du bist da? Hast du gewußt, daß wir uns an Thomas Manns 108. Hochzeitstag kennengelernt haben und daß Thomas Mann heute vor 80 Jahren emigriert ist, also ungefähr?“
„Im Leben“, sage oder denke ich, „gibt es keine Symbole. Alles ist, was es ist.“
Es ist der 9. Mai 2013, seit zwei Stunden, die ich anderweitig verbracht habe. Ich rieche an meiner Hand.
„Was ist das?“ fragt sie und deutet auf den Fernseher, in dem jetzt eine mäandernde Sichel aus Vogelleibern den jungen Forscher umschwirrt und sich in ungewisser Ferne als Wolke auflöst.
„Manche davon“, sage ich nach einer unbestimmten Weile, „tragen einen Ring.“ Sie ist wieder eingeschlafen.
Als ich am nächsten Vormittag erwache, finde ich die Wohnung leer. In der Küche, auf dem Pitigrilli-Buch, liegt ein Zettel aus ihrem Taschenkalender mit dem Datum des 80. Jahrestags von Thomas Manns Ankunft in Frankreich.
„Sei nicht böse“, hat sie geschrieben. „Das bringt uns beiden nichts.“
„Genau", sage ich laut vor mich hin und verbringe den Rest des Tages auf dem Sofa damit, das Pitigrilli-Buch zu lesen, während draußen der Regen rauscht und die Welt ertrinkt. Es ist der 120. Geburtstag von Pitigrilli, der einen Tag vor seinem 82. Geburtstag starb.
Das Buch heißt „Der falsche Weg“. „Spezialisten“, lese ich auf Seite 120, „nennen sich Gelehrte, die ihre Eselei auf ein eng begrenztes Feld beschränken.“ Und ich denke noch einmal: „Genau.“ Und ich weiß nicht, wen ich meine, aber ich weiß, warum ich das gelesen habe.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Donnerstag, 13. März 2014

Frisch gepreßt #310: Morrissey "Your Arsenal" (Definitive Master)


Call me Unbeholfenheit: Der Junge ist von Anfang an verdorben. Wird kaum überleben, sagen die Ärzte, tut es aber doch. Aufgewachsen im grauen Staubdreck von Manchester, frühe Sechziger, ein Einzelgänger, viel zu intelligent, dazu völlig unbegabt zu Uneindeutigkeit, Unehrlichkeit, Un … unzugänglich, unzulänglich. Papa begleitet Steven aufs T.Rex-Konzert, das sein Leben prägt: Da, Bühne, will, muß er hinauf und der Welt zeigen, wie sie ist, was er ist, daß das Leben mehr ist als das, was man im grauen Staubdreck von Manchester für eine Existenz hält.
So wird er jugendlich, ohne Freunde, Kumpels, Clique, Sozialität, mit dem Traum im Kopf, der sich nicht erfüllt. Zunächst. Weil er nicht aussieht wie Jimmy Pursey, sich nicht bewegen kann wie Adam Ant, nicht Johnny Rotten, Paul Simonon, nicht mal Howard Devoto ist. The boy least likely too; daraus macht er keine Tugend, sondern eine Art Kunst – ein ungeheuer anstrengendes Aufbäumen gegen sich selbst, einem Bryan Ferry nicht unähnlich, aber ohne dessen Eleganz phantasierten Adels.
Ein zweiter spielt Gitarre, spielt unglaublich Gitarre, grundiert ihm die Leinwand, die er für die Songs braucht, in die er seinen Haß und seine Verzweiflung kotzt, „Meat Is Murder“, „Still Ill“, „Panic“; alles ist böse, und als Song klingt es so schön, so unwiderstehlich schön. Er wirft Blumen von der Bühne, die Medien schweigen entsetzt, und eines Tages sind die Smiths die neuen Beatles. Und lösen sich auf, einfach so, aus Überdruß. Es ist alles gesagt.
Dann die Solokarriere, die explosionsartig beginnt mit „Viva Hate“, den Aufschreien um „Margaret On The Guillotine“, wechselnden Co-Autoren, immer unentschiedeneren Singles, die bald nur noch in den Top 40 dümpeln. „Kill Uncle“ klingt wie vom Flohmarkt, „Piccadilly Palare“ mag er nicht bei Top Of The Pops singen, weil er den komischen Song selber nicht versteht. Sackgasse. Call Me Unbeholfenheit.
Also: finito? Popmusik ist sowieso over, Marc Bolan tot, Roxy im ewigen Winterschlaf in Avalon, Bowie von Graphikdesignern, schlechten Ideen, Produzenten und einer gläsernen Spinne massakriert. Im Moor von Saddlewood begegnet Steven einem Gespenst. „Angel, Angel, Down We Go Together“. -- „Du brauchst eine Band“, sagt ein Freund, „ruf Boz an.“
Boz: Rockabillygitarrist, dritte Liga, hat mit den Polecats nie was gerissen, kennt aber paar Leute. Alain ist Straßenkehrer in Camden, Spencer hat irgendwo ein Schlagzeug stehen, Gary haust bei seinem Vater in Neasden. Und Boz und Alain wissen, um was es geht: Sie zerlegen „Hot Love“ von T.Rex und töpfern daraus einen neuen Song, und mit „Certain People I Know“ ist eine Band geboren, eine Gang, die ein paar Wochen später von einer Flutwelle manischer Hysterie durch Amerika geschwemmt wird, wie man sie tatsächlich seit den Beatles nicht erlebt hat.
Der Dreh- und Angelpunkt ist „Your Arsenal“ – kein Meisterwerk, nicht einmal ein wirklich rundes und schlüssiges Album, aber die Wurzel, auf die letztlich alles zurückgeht, was in den nächsten zwanzig Jahren passiert. Produziert von Mick Ronson, Bowies Gitarrist und Alter Ego der unbegreiflichen Ziggy-Stardust-Jahre, nein: -Wochen. Ronson ist bald darauf tot, Bowie covert „I Know It’s Gonna Happen Someday“. In Hollywood begegnen sich die beiden beim Frühstück. „Du willst das nicht wirklich essen, oder?“ fragt Steven entsetzt. Bowie betrachtet den Wurstaufschnitt auf seinem Teller: „Oh, es muß die HÖLLE sein, mit dir zusammenzuleben.“
Die Meisterwerke folgen dann, als Boz und Alain den Geist, den sie gemeinsam mit Steven geschaffen haben, gänzlich entfesseln und tun lassen, was er will, muß, kann. „Vauxhall & I“, „Southpaw Grammar“, „Maladjusted“: immer gegen alle und alles und die angebliche Welt, die ihn nicht will, im Gegensatz zu den Menschen, die begreifen. T.Rex sind inzwischen nur noch ein paar Brösel in einer Schublade; selbst der Britpopkarneval geht an ihm vorbei wie ein kleiner Schauer im Frühsommer. Eine lange Zwangspause, ohne Label, ein enervierender Prozeß, dann folgt mit „You Are The Quarry“, „Ringleader Of The Tormentors“ und „Years Of Refusal“ die Vollendung. Größer kann Popmusik nicht sein, vorläufig.
Und hier hat alles angefangen, im Sommer 1992, mit diesem Arsenal von Träumen, Verletzungen, Sehnsüchten, Enttäuschungen, von Haß, Trotz, Verachtung und nicht zu erstickender Liebe. „We Hate It When Our Friends Become Successful“, „You’re The One For Me, Fatty“ – Slogans, anyone? Und Angelhaken für gesuchtes Falschverstehen? Galore: „We’ll Let You Know“ (Verherrlichung von Fußball-Hooligans), „Glamorous Glue“ (Antiamerikanismus), „The National Front Disco“ (sowieso).
Kinkerlitzchen, längst vergessen. Manchmal aber gibt es nichts Schöneres, als noch mal von vorne anzufangen, „this time for real“ und so. Also kaufen wir uns „Your Arsenal“ ein zweites Mal und machen diesen Frühling zum wunderbarsten, den es je gab: Call Me Ewigkeit.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Dienstag, 11. März 2014

Frisch gepreßt #309: Nina Persson "Animal Heart"


Wie, wann und warum aus temporärer Verknallung Liebe wird, ist eine komplizierte Frage. Wahrscheinlich irgendwas mit Gewohnheit, die neben Langeweile, Neugier und Dummheit eine der wichtigsten Motivationsquellen unseres gesamten Handelns, Denkens und Fühlens ist. Man gewöhnt sich an fast alles, vom eigenen krummen Zehennagel bis zum nächtlichen Piepsgeräusch eines anderen Menschen, den ein Zufall (noch so ein Faktor, s. o.) an den Strand der Lebensinsel geschwemmt hat: Irgendwann verwächst das Fremde mit dem Eigenen und wird eins.
Es braucht sich aber nur ein Detail zu ändern und ein dringlicher Vorfrühling hinzuzukommen, schon verschwören sich Neugier und Überdruß (vgl. Langeweile) und machen das ganze Strandgut zum Fremdkörper, den man ausgraben, abtrennen und möglichst spurlos verschwinden lassen möchte, wofür es scharfe, üble, verzweifelte Vorgehensweisen gibt. Zurück bleibt ein vages Schwummern, weil man sich an Gefühle nur auf der Schwelle zwischen Traum, Rausch und Deja-vu erinnern kann.
Das alles soll uns nicht weiter interessieren, weil es jeder kennt und niemand erklären kann. Eigentümlich wird die Sache erst, wenn sich die Verknallung und der folgende Verwachsungsprozeß auf ein einziges Detail beschränkt und alles andere ausblendet oder gar nicht wahrnimmt. Zum Beispiel eine Stimme. Zum Beispiel die Stimme von Nina Persson, die zum Beispiel mich an einem trüben Oktobertag 2005 mit solcher Vehemenz überwältigt hat, daß die üblichen Bilder von Tornados, Fluten und Feuerstürmen nicht im Ansatz zur Allegorisierung hinreichen. Nach wenigen Minuten war mir durch und durch klar: Ohne diese Stimme wollte, konnte, durfte ich nicht mehr leben, und daß ich mich mit einem anderen Menschen und dessen nächtlichen Piepsgeräuschen verwachsen durchaus zumindest wähnte, spielte dabei und insgesamt nicht die geringste Rolle.
Dabei kannten wir uns längst, jahrelang, waren uns sogar schon mal in echt begegnet, ohne daß sich da mehr ergeben hätte als eine gewisse, angenehme, nicht weiter erhebliche Sympathie. Mag auch sein, daß die Situation eine Rolle spielte – man ist manchmal empfänglicher für so etwas als anderswann. Aber das war mir wie allen Verliebten und hinfort Liebenden vollkommen egal. Egal auch, daß der verwachsene Echtmensch irgendwann ausgegraben und abgetrennt wurde und spurlos verschwand, wie das Echtmenschen halt tun. Andere kamen und verschwanden auf selbige Weise, ohne viel zu hinterlassen, höchstens ein gelegentliches, anflugweises Schwummern; aber die Stimme von Nina Persson auf „Super Extra Gravity“ blieb und bleibt und veredelt jede Situation, die sie mit mir teilt, zur silbern bestrahlten, golden strahlenden Erinnerung.
Seltsam, so was. Es ist ja nämlich nicht so, daß Nina Perssons Stimme nicht Fehler gemacht hätte, zuvor und seither, und weiterhin Fehler machen würde, mit Sicherheit. Aber Liebe setzt zum Glück die Vernunft außer Betrieb und erzwingt bedingungsloses Verzeihen (weil sie sich sonst selbst außer Betrieb setzt, aber solche Feinheiten sollen uns jetzt nicht weiter interessieren). Man leidet mit, freilich, nimmt die Verzettelung in Belanglosigkeiten ebenso hin wie eine halbscharige Vorgeschichte und plumpsende Ausrutscher: Der Kern, von dem alles ausgeht und an dem alles hängt, bleibt unberührt.
Geduld gehört auch dazu. Seit „Super Extra Gravity“ hat die Stimme von Nina Persson wenig getan: kein neues Album mit den Cardigans, ein hübsches Duett mit den Manic Street Preachers, ein paar Belanglosigkeiten mit A Camp, ein halber Ausrutscher mit Dangermouse und Sparklehorse – nichts, dessen Jahreszahl an dritter Stelle „1“ lautete. Eigentlich ist das egal. Die Sucht, von Schönem immer mehr haben zu wollen, statt das Leben mit dem zu füllen, was man hat, endet oft im Wahn. Aber die Neugier (s. o.) ist ein schlimmer Verführer …
Ich gebe zu: An „Super Extra Gravity“ kommt „Animal Heart“ nicht heran. Aber es kommt auch kaum etwas, was die Stimme von Nina Persson zuvor und danach gemacht hat, an „Animal Heart“ heran, und endlich, endlich klingt sie hier wieder so, wie sie klingen muß: schwer, tief, schwerelos schwebend, leicht verletzt und leicht gezeichnet, melancholisch stolz, ewig weise und naiv, alles erfüllend und durchsichtig schimmernd, groß und bescheiden, traurig, hilfreich, einsam und vertraulich … ach, Worte. Ich kann nicht versprechen, daß jeder oder auch nur jemand, der dieses Album hört, erlebt, was ich an jenem trüben Oktobertag 2005 erlebt habe. Aber einen Versuch ist es wert.

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Sonntag, 9. März 2014

Belästigungen #429: Hilfe! Killerplapperer und Todesfasler greifen die Freiheit an!

Aus allen möglichen Richtungen wird mir derzeit mitgeteilt, meine Freiheit sei in höchster Gefahr, unter anderem weil ein amerikanischer Geheimdienst meinen SMS-Austausch mitliest und unsere Regierung irgendein Handelsabkommen aushandelt oder irgendwie so. Hinzu kommen dann noch diese und jene anderen Bedrohungen und Dings und Dongs, und summa summarum – schwupps, ist die Freiheit weg.
Das ist blöd, weil eine Freiheit ist schon schätzenswert und auch ganz chic, und wenn sie weg ist, sitzt man plötzlich im Gefängnis und kann sich gar nicht mehr erinnern, wie und wieso man da hineingekommen ist. Am Ende hat man bloß mal zufällig eine falsche Partei gewählt, die dann irgendeine Zwangsplanwirtschaft oder so was eingeführt hat, was ganz doof ist und die Freiheit kaputtmacht und so weiter. Oder, auch das wird gern genommen: irgendwas „Ideologisches“. Zum Beispiel ist es total „ideologisch“ und freiheitskaputtmachend, wenn eine Regierung „den Staat aufbläht“ und ihren Bürgern – zu denen nun mal auch internationale Großkonzerne gehören, „Steine in den Weg legt“, die sie am „freien Wirtschaften“ hindern und all so was. Denn merke: Wenn erst einmal der Großkonzern nicht mehr tun und lassen und ausbeuten und zerschreddern darf, wen, was und wie er will, dann ist irgendwann auch das kleine Kleinbürgerlein dran!
Sowieso ist der Mensch gerne frei, weshalb es eine ungeheure Errungenschaft ist, daß er heutzutage jederzeit alles über den Haufen werfen und einen „Neustart“ hinlegen darf und kann – etwa indem er sich einen supi Billigjob in einer Plattenbaumetropole am Arsch der Welt sucht und diesen bei Bedarf wieder hinschmeißt, um fünfhundert Kilometer weiter einen noch billigeren Billigjob anzutreten. Wem dabei Arbeitsrecht, Tarifverträge, Gewerkschaften, Beziehungen, Freundschaften, Familie, Menschenrechte und sonstige lästigen Verstrickungen hinderlich sind, der darf solchen Tand rückhaltlos über Bord werfen und seine Freiheit genießen. Wenn ihn halt nicht grad ein amerikanischer Geheimdienst abhört. Oder so ähnlich.
Gefährlich wird es indes auch dann, wenn ein hungernder Elendsflüchtling daherkommt und dem freien Deutschen seinen Billigjob streitig macht, indem er sich als noch billigeres Ausbeutungsmaterial zur Verfügung stellt. Da ist es schnell vorbei mit der Freiheit, und deswegen freut es den freien Deutschen, daß seine Regierung derlei Armutsmigration einen Riegel vorschiebt und das gierige Lumpenpack schon weit vor der deutschen Freiheitsgrenze ins Meer schmeißen läßt oder notfalls, wenn es doch mal einer schafft, durch den Stacheldraht zu schlüpfen, diesen in ein Sammellager sperrt und bei nächster Gelegenheit ins hinterste Hinterbulgarien verschafft. Wo kämen wir sonst hin!
Hingegen ist es absolut freiheitskaputtmachend, wenn der narrische Schweizer neuerdings per Volksabstimmung eine „Masseneinwanderung“ von deutschen Milliardären und Steuerbetrügern verhindern will, weil das geht schließlich gar nicht. Ein freier Mensch darf hingehen und -ziehen, wo er will, solange er nicht arm ist und vom Balkan oder aus Afrika oder sonst wo herkommt!
Bedenken muß man da nicht haben, und dumm daherreden tun auch generell bloß Blockierer, Besitzstandswahrer und sonstige „Ideologen“. Zum Beispiel: „Kapitalistische Ordnungen sind potentiell faschistisch.“ Das behauptete 1971 der Generalsekretär der FDP (für die Jüngeren: Das war mal eine Partei), an den sich nicht nur die FDP am liebsten überhaupt nicht mehr erinnern mag, weil solche infamen Behauptungen die Freiheit bedrohen und deswegen streng verboten sind. Ein wahrer Freiheitsliebhaber würde so etwas nicht mal denken, ohne sich in Grund und Boden zu schämen!
Querulanten wie ich hingegen denken so was schon mal ganz gerne und kommen dann noch auf ganz andere Gedanken. Dann fragen wir uns zum Beispiel, was „Freiheit“ eigentlich ist und wieso im Zusammenhang damit gewisse Leute ständig Vokabeln wie „Leistung“, „Wachstum“ und „Wettbewerb“ herumblöken und es am Ende noch als Einschränkung der „Freiheit“ anprangern, wenn sich irgendein Würstchen darüber aufregt, daß ein Sarrazin mit seinen widerwärtigen „Meinungen“ sämtliche Medienkanäle zukleistert.
Und dann denkt so einer wie ich: Freiheit als Ergebnis irgendeiner schwammigen Idee von „Leistung“ zu definieren ist nicht etwa liberal, sondern faschistisch. „Arbeit macht frei“ lautet hierzu der weltbekannte Slogan, und es hilft wenig, aus Gründen der Inklusion des Kapitaladels in die Volksgemeinschaft zu behaupten, auch Geld könne neuerdings arbeiten, wenn das schon seine Besitzer nicht tun. Das „Bürgerrecht“ beginnt keineswegs erst dort, wo jemand durch den Einsatz von Muskel- oder Gehirnkraft oder deren geraubtem Niederschlag in Form ererbter Moneten irgendwelche angeblichen „Werte“ schafft, die dann an der Börse auf wundersame Weise immer größer werden.
Auch wer seinen terroristischen Ehepartner oder eine verrückt gewordene Regierung loswird – sei es durch Mord, Flucht oder innere Emigration –, ist damit noch lange nicht frei, selbst wenn sämtliche Geheimdienste dieser Welt hoch und heilig versprechen, nie mehr eine SMS mitzulesen. „Die Ausspähung“ nämlich, um meinen lieben Freund und Gleichgesinnten Kay Sokolowsky zu zitieren, „beschädigt Menschen nicht mehr als die Halluzination, sie könnten unter dem Diktat des Marktes autonom über ihr Leben verfügen.“
Bisweilen lohnt es sich auch, mal wieder in alte Bücher hineinzuschauen und zum Beispiel von Adorno zu erfahren: „Die Menschen haben den Begriff der Freiheit so manipuliert, daß er schließlich auf das Recht des Stärkeren und Reicheren herausläuft, dem Schwächeren und Ärmeren das wenige abzunehmen, was er noch hat.“ Und sowieso gibt es „keine Freiheit, solange ein jedes Ding seinen Preis hat“.
Schwupps - schon ist die Freiheit wieder da: indem wir nämlich über den ganzen Käse, der diesbezüglich zusammengefaselt wird, nicht mehr weiter nachdenken müssen.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.