Donnerstag, 28. Juli 2016

Belästigungen 14/2016: Vom Rand und seinen Bewohnern (eine sommerliche Elegie)

Was ist eigentlich mit dem Münchner Stadtrand geschehen? Früher konnte man den buchstäblich er-fahren, zumindest mit dem Radl, zumindest hier und da: Die Häuschen und Hütten wurden immer kleiner, ein letzter geduckter Schupfen, halb versunken zwischen gemütlich wucherndem Gebüsch, ein Bach in Bäumen; der Feldweg führte über eine kleine, katzenbuckelige Brücke, dann stand man auf einer scheinbar unendlichen Allee, links und rechts Wiesen, Felder, Wäldchen bis zum Horizont. Da war die Stadt aus.
Heute wuchern weiter hinten Klötze über die Baumwipfel, fondantbunt und normiert eckig. Da geht die Stadt weiter, meint man, und imaginiert, daß man ewig weiterfahren könnte und immer wieder solche Klotzhaufen auftauchen sähe. Auch Felder und Wiesen sind nicht mehr die alten, da stehen jetzt gigantische Baumaschinen, Blechhütten und wachsende Schutthügel zwischen tiefen, von der Sonne in den geschundenen Boden gebackenen Riesenreifenspuren.
L. wohnt dort draußen in einem der Klötze. Wobei „wohnen“ nicht ganz das richtige Wort ist: Sie fährt täglich abends nach der Arbeit dorthin zum Fernsehen, Essen und Schlafen, und morgens fährt sie wieder weg. Lebensmittel erhält sie in einem rechteckigen Discounter zwischen Parkbuchten, Bushaltestelle und einem gepflasterten Platz um etwas, das vielleicht Kunst sein soll und wahrscheinlich lieber ein Springbrunnen wäre; aber weil sich dort ohnehin niemand aufhält, ist das nicht so wichtig.
Der Klotz, in dem L. arbeitet, steht ebenfalls irgendwo zwischen ehemaligen Stadträndern herum; man müßte auf einer Landkarte nachschauen, ob er der eigentlichen Stadt näher oder ferner ist, aber auf dem Plan, den sich L. gekauft hat, als sie nach München gezogen ist, gibt es die Straße, in der der Klotz steht, noch nicht. Möglicherweise handelt es sich um einen der Feldwege, die zwischen den auf der Karte angedeuteten zerfransenden und wuchernden Stadträndern verlaufen. Das ist jedoch nicht mehr festzustellen; Menschen, die diese Feldwege noch gegangen oder gefahren sind, gibt es offenbar nicht mehr.
Wenn es L. dort draußen zu einsam und deprimierend wird, fährt sie in die Stadt hinein und nimmt an den Events teil, die Münchens selbsternannte Unterhaltungsbeauftragte inszenieren, um die frühere „Hauptstadt der Bewegung“ in Bewegung zu halten, damit ihre entmündigten Bewohner nicht auf abwegige Gedanken kommen. Wobei „teilnehmen“ nicht ganz das richtige Wort ist: L. bewegt sich auf ihren zarten, vom übermäßigen Gebrauch modischer Schuhe leicht entstellten Füßen unsicher zwischen Gestalten, die wie sie auf etwas warten, dabei Süßgetränke und Gewummer konsumieren und sich über Dinge unterhalten, die nicht stattfinden, dies aber könnten.
Wenn L. danach in ihren Klotz zurückgekehrt ist, fühlt sie sich wie nach dem Kotzen: erschöpft und euphorisiert zugleich, verängstigt und erleichtert. L. kotzt oft, weil sie das Zuckerzeug, den Schnaps und die Gemische aus Weißmehl und Billigfett mit Tomatenbrei nicht recht verträgt, vielleicht aber auch einfach so.
L. hat ein Geheimnis, das sie entdeckt hat, als sie einen ganzen leeren Sonntag damit verbrachte, aus dem quadratischen, toten Fenster ihrer Schlaf- und Fernsehstätte im zehnten Stock zu schauen: Nicht weit von ihrem Klotz sah sie zwischen dichten Bäumen etwas, was sie weder erklären noch zuordnen konnte. Sie zog ihre unmodischen Schuhe an, ging nachschauen und fand eine kleine Siedlung, einen Rest davon, ein paar Häuser nur, seit vielen Jahren verlassen, etwas heruntergekommen, aber nicht verloren. Menschen mit etwas Liebe und Geschick hätten sie in wenigen Wochen nicht nur bewohnbar, sondern zu einer Idylle machen können.
L. erkundete die Häuser, setzte sich vor einem davon auf eine alte Bank und stellte sich vor, dort zu leben, in einer Zeit, die es nie geben würde, aber vielleicht einmal gegeben hatte. Sie fand viele Dinge in den Häusern: Möbel, Öfen und Herde, Bilder, vergilbte Dokumente, aber keinen Fernseher. Manchmal nahm sie einen Schlafsack mit, den sie sich eigens dafür gekauft hatte, und übernachtete in einem der Häuser oder, wenn es warm genug war, auf der Bank davor.
Einmal überraschte sie in einem der Gärten hinter und zwischen den Häusern ein Mann, der sie fragte, was sie da verloren habe. Nichts, dachte L., und alles, und sie floh, ohne etwas zu sagen. „Hallo, Sie!“ rief der Mann, aber L. wandte sich nicht um. Danach wagte sie sich nicht mehr in die Siedlung.
„Du hättest mit ihm reden sollen“, sage ich. „Vielleicht hätte er dir das Haus geschenkt.“
„So etwas tun die Leute nicht“, sagt L., und da hat sie wohl recht, obwohl es im Grunde denkbar wäre, daß Menschen Dinge verschenken, mit denen sie nichts anfangen können und andere schon. Daß es die verfallende Siedlung noch lange gibt, ist hingegen unwahrscheinlich. Stadtplaner und Architekturfaschisten lauern auf solche Überbleibsel, weil sie weder Liebe noch Geschick, aber Visionen haben.
An einem leidlich sonnigen Frühlingstag haben wir einen Spaziergang durch die Stadt gemacht. Nicht durch die Stadt der „Events“, sondern durch die stillen, verzauberten und geheimnisvollen Nischen, Ecken und, ja: Ränder dazwischen, wo der Staub vieler ungelebter und gelebter Leben zwischen die Steine sinkt und anderswo verbotene Grashalme nährt. Als wir im Sonnenuntergang in einem zwischen verwilderten Schrebergärten verborgenen Biergarten saßen, der weitgehend stummen und ansonsten vollkommen unsinnigen Konversation der Gartler lauschten und den in uns hineingeflossenen Tag wieder herausfließen ließen, wollte L. tanzen und singen vor Freude, weil sie nun doch noch die Stadt gefunden hatte, in die sie vor drei Jahren angeblich gezogen war.
Nächsten Monat muß L. in die Nähe von Dortmund ziehen. Ihre Firma braucht sie dort, sagt sie, und: „In München braucht mich niemand.“ Ich könnte sagen, das sei nicht wahr, denke ich, aber ich möchte L. nicht belasten, und dann denke ich: Vielleicht gibt es in der Nähe von Dortmund ein zehntes Stockwerk, wo sie an einem langen, leeren Sonntag aus dem quadratischen Fenster schauen und etwas finden kann. Obwohl ich ihr diesen Tag nicht wünsche, denke ich.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 15. Juli 2016

Frisch gepreßt #368: Barclay James Harvest "Everyone Is Everybody Else"


Die Erinnerung ist eine Trickdiebin: Fühlig zwitschernd gaukelt sie ihrem umgarnten Opfer Dinge vor, an die es sich vermeintlich – eben – erinnert, die als krauses Gewolke vor einem inneren Horizont erstehen und (weil wir Kinder unserer Zeit und Methoden sind) hollywoodmäßig vertont sind. Einwänden statistischer und archivalischer Natur entgegnet sie schlau lächelnd, es gebe dem zufällig vor zwei Jahren (vielleicht in diesem Sinne nicht) verstorbenen Physiker Hans-Peter Dürr zufolge weder Materie noch Energie, sondern nur etwas Verbindendes ohne materielle Grundlage, was man Geist nennen könnte. Also alles hinfällig, (gedachter) Punkt
Die Mär der Erinnerung lautet: Das Jahr, in dem wir sechzehn wurden, war das Jahr des Dauerregens, dessen Soundtrack (weil es auch das Jahr war, in dem Punk endgültig vorbei war und alle Türen aus den Angeln flogen) von Magazines moosnebligem Ewigkeitsmeisterwerk „Secondhand Daylight“ nahtlos überging in die trotzige Betonsensibilität des ebenso ewigen Ruts-Debüts „The Crack“. Das Jahr, in dem man zum ersten Mal verlassen wurde und den Seelenbruch mit der filigranen Trauer von Roxy Music hinwegtanzte, zwischendurch mit Pere Ubu, Joy Division Tubeway Army, Wire und Siouxsie & The Banshees den graphitblauen Wolken schweren Sinn einhauchte und der dauerfeuchten Erde in permanenter Düsternis stets nahe war.
Wie immer gibt es eine vorsichtig, aber drängend aufscheinende Alternativerzählung: brutheiße Tage im wimmelnden Freibad mit einem schmelzenden Herz aus Glas, die in der Dämmerung in gemeinsamen Träumen am offenen Fenster vergingen; aus der Ferne wehten wehmütig-romantische Klänge einer Band namens Supertramp herbei – das Erröten des Erinnernden ähnelt dem Abendschein des späten Septembers. In dem wiederum (noch eine Luke, die plötzlich aufklappt) man tagsüber müßig in der Wiese sich aalte, mild besonnt, umspielt von einer sehnsuchtweckenden Brise und (es gab ja noch nicht mal einen Walkman, auch wenn die Erinnerung automatisch einen hinzufügt) dem zufällig per Rekorder aus dem Radio (Pop nach acht!) aufgeschnappten „Jonathan“ von Barclay James Harvest.
Selbstverständlich nur in heimlicher Einsamkeit, denn: Was auch immer Sechzehnjährigen an peinlichen Ausrutschern gestattet sein mag – BJH ging absolut nicht. Das war die Musik der flaumig Oberlippenbehaarten, der ungeplanten Vokuhilas, der Teestubenfreaks, die für Fliegerjacke, Löwenkopfgürtel und Wranglers zu feige und für „richtigen“ Progrock zu dumm waren. Das waren schleppende, in Mellotronteppichen sich suhlende Simpelharmoniefolgen mit Weltversöhnungstexten für den Jugendgottesdienst („You and me, our life is drifting along / Watching the world as it's singing its song / High above, someone is calling to me / Life is for living and living is free“).
Aber jetzt: haben wir tatsächlich den komplett verregneten Frühling der Erinnerung, möchten dieser eine hämische Nase drehen und stellen verblüfft fest, daß „Jonathan“ nichts von seinem filigran rührenden Zauber verloren hat. Wühlen tiefer und finden mit „Everyone Is Everybody Else“ von 1974 ein richtig schönes Album, das weit herausragt aus dem orchestralen Schmarrn und dem sülzigen Schnulz, mit dem die Band zuvor sich blamierte und hinterher eine halbe Generation in Zuckerwatte bettete, in glorreichen Zeiten der Piratenradios (die die Platte Tag und Nacht spielten) vom Black-Sabbath-Produzenten Rodger Bain mit gerade genug Wucht aufgeladen, mit dem Langhaarschneider auf den Punkt arrangiert und souverän tänzelnd auf dem dünnen Seil zwischen Bombast und Nichts. Ein Luftballon, na klar, aber so ein Ding kann einen grauen Tag mit einer schwellenden Ahnung von imaginärem Frühsommer füllen.
Die gerade erschienene Boxausgabe mit viel Bonusmaterial und einer DVD als Drittscheibe ist freilich eine zwiespältige Sache, wie das solche Unternehmungen immer sind: ein Konglomerat aus nicht existenter Materie und Energie, das indes die geträumte Erinnerung auf CD 1 nicht trüben kann.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Dienstag, 12. Juli 2016

Belästigungen 13/2016: Warnung vor dem Manne! oder: Vom Jäger und der Beute im Dampfkessel des Hormondrucks

Bisweilen gerät einem ein Wort ins Ohr, das aus dem Hirn nicht mehr hinauswill, sich vielmehr immer weiter hineinbohrt und immer neue Kapriolen schlägt. Literarisch Gebildete erinnern sich, wie Dagobert Duck eines Tages mit einem „Gullu-Gullu“ auf den, nun ja, „Lippen“ erwachte und es nicht mehr loswurde. Ähnlich ging es mir kürzlich mit dem von einem Vogelkundler unvorsichtigerweise geäußerten Begriff „Hormondruck“.
Das ist nicht etwa eine arg blumige, vom Verein zur Bewahrung der deutschen Sprache empfohlene Umschreibung für Pornographie, sondern eher das, was unter anderem dazu führt, daß derartige Bild- und Textwerke überhaupt eine nennenswerte Nachfrage genießen. Ins Spiel kam das Wort in Zusammenhang mit dem Kuckuck, einem possierlichen Tierchen, das dafür bekannt und notorisch ist, daß es das System der Kinderfremdbetreuung noch weiter treibt als der Mensch, indem es seinen Nachwuchs nicht mal mehr selbst gebären mag, sondern einfach in fremde Nester hineineiert und den meist überforderten, ungefragten Leiheltern von der Brut bis zum Abitur alles überläßt.
Ansonsten ist der Kuckuck nicht so faul. Nämlich wird es ihm schon Ende Juli in hiesigen Breiten zu klamm und zapfig, weshalb er umgehend nach Süden aufbricht. Und zwar nach Afrika, und weil der Kuckuck überraschenderweise noch nicht auf die Idee gekommen ist, Fremdvögel zu chartern, fliegt er selbst, vier Wochen lang. Da erblaßt der rekordwütigste Marathonläufer!
Im Frühling dann zieht es den Kuckuck wieder heimwärts, und weil nun der besagte Hormondruck einsetzt, braucht er für den Rückflug trotz Übergepäck in Gestalt schwellender Klöten nur noch zweieinhalb Wochen. Dann wird gebalzt, gekuckuckt und geeiert, und schon ist der Druck verpufft und jegliches Interesse am Resultat der herbeigesehnten Paarung verflogen.
Unter Hormondruck steht nicht nur der Kuckuck, sondern jedes Lebewesen auf Erden, sogar die Schnecke, die herzlich gerne schmust und moppelt, obwohl sie das gar nicht nötig hat, sogar der brünftig in Blüten explodierende, mit Pollen um sich stäubende Baum, der sich dem angehimmelten Partner selbst bei tüchtigstem Recken und Strecken kaum je genug nähern kann, um ihn wenigstens zu streicheln. Und selbstverständlich der Mensch.
Dessen männliche Variante indes ist Weltmeister im Sublimieren. Zwar – diese Tatsache darf seit zehntausenden von Jahren als bewiesen gelten – geht ihm Tag und Nacht so gut wie nichts anderes im Kopf herum als sich zu paaren. Dafür hat er aber oft (angeblich) keine Zeit, und selbst wenn, ergibt sich meistens keine günstige Gelegenheit. Andererseits hat das Menschenmännchen im Gegensatz zum Kuckuck ein nicht zu übersehendes Geschlechtsorgan, mit dem es, wenn es schon nicht bestimmungsgemäß zum Einsatz kommen kann, zumindest symbolisch seine gesamte Welt füllen muß.
Deshalb stellt der Mensch seine Städte mit Penissen voll. Ursprünglich, man vergesse das nicht, lebte er in Höhlen, und im Grunde hat selbst das Einzimmerapartment mehr von einer Vagina samt Gebärmutter als von einem protzenden Ständer. Verläßt man sie, sieht man sich jedoch sofort von selbigem umstellt: Vom Maibaum bis zum Fernsehturm, von der Mariensäule bis zum Obelisken am Karolinenplatz, vom „Vierkantbolzen“ (G. Kronawitter sel.) am Stadtrand bis zum spitzkuppeligen Kirchturm findet sich kaum ein Gebäude, das einer Brust, einer gerundeten Hüfte, einer schwellenden Lippe oder sonst etwas von dem ähnelt, was das Menschenmännchen angeblich so ersehnt.
Damit nicht genug. Statt müßig zu flanieren, penetriert der Mensch Erdboden, Berg und Landschaft mit röhrenden Tunnelröhren, und wenn er am Wochenende seinen Arbeitsplatz verlassen muß und nicht mehr die Konkurrenz ficken darf, packt er Bohrmaschine, Preßlufthammer und den dauereregierten Laubbläser aus und unterwirft, züchtigt und mißbraucht alles, was ihm in die Quere kommt. In anderen Erdteilen bewaffnet er sich mit tödlichen Stahlschwengeln und ballert los, wenn irgendwas seine Alphastellung im Revier antastet.
Wohin das vom Hormondruck geplagte Menschenmännchen auch blickt – es findet nichts als Jagdbeute und Opfer. Das hat gefälligst willig zu sein, weshalb der Mensch seinen Paarungsakt nicht einfach Sex nennt, sondern als dringend notwendige nähere Bezeichnung „einvernehmlich“ hinzufügt. Ein deutlicher Hinweis: Es geht auch anders!
Weil dieser ganze Wahnsinn mit der „Vernunft“, die den Homo sapiens im Laufe der Evolution angeblich befallen hat, nicht in Einklang zu bringen ist, hat das Menschenmännchen zur Rechtfertigung Religionen und soziale Ordnungen erfunden, die der Beute ihren Platz zuweisen. Den darf das Weibchen im Rahmen einer sogenannten Emanzipation bisweilen sogar verlassen, aber nur wenn es sämtliche Gehirnbereiche abschaltet, die nicht mit Penetration und Unterwerfung befaßt sind, und sich in eine Art rudimentäres Ersatzmännchen wandelt.
Nun ist die Natur nicht ganz so simpel strukturiert, wie das Menschenmännchen mit seinem retardierten Hormondruckdampfkessel im Schädel meint. Zum Beispiel gibt es das in diversen Varianten weit verbreitete Phänomen der Homosexualität, das ihm erst mal einigermaßen wurst ist, solange es sich auf die Damenwelt beschränkt. Zwar gehen dadurch einige potentielle Beutestücke verloren, die ihm aber in den meisten Fällen sowieso nicht attraktiv erscheinen (und wenn doch, dann wird es sie schon irgendwann kurieren, notfalls „einvernehmlich“).
Hingegen der Schwule bringt allein durch sein Auftreten die gesamte Welt des Menschenmännchens ins Wanken: Plötzlich ist es nicht mehr Jäger, sondern mögliche Beute, und diese Vorstellung ist schlimmer als ein weltweites Verbot von Fußball, Bier und dröhnenden Blechkarren. Da erwacht eine existentielle Angst, die die Wissenschaft Homophobie nennt. Die wächst zur Wut, und wenn man dem von ihr befallenen Männchen per Erziehung die Vernunft amputiert und ihm einen Schießpenis in die Hand gibt, dann ballert es los.
Was ich sagen will, ist: Wenn ein Mensch in einen Schwulenclub hineingeht und dort Menschen umnietet, dann tut er das nicht für Gott, Allah, Christus, Maria oder sonst wen, er tut es auch nicht im Dienste des IS, der katholischen, anglikanischen oder sonst einer Kirche, Miliz oder Vereinigung. Sondern er tut es unter dem Dampfdruck einer bis zum Wahnwitz falsch verstandenen Maskulinität, auf die er nicht von selbst gekommen ist, sondern die ihm anerzogen, eingebleut, Tag für Tag aufs Neue von der gesamten ihn umgebenden Welt eingeimpft wurde. Es handelt sich dabei nicht um ein amerikanisches, arabisches, russisches, asiatisches, sondern um ein menschliches und vor allem männliches Phänomen. Der Kuckuck läuft nicht Amok, der Baum schießt keine Morddrohnen in fremde Wälder, die Schnecke kümmert sich einen Dreck darum, ob ihre Nachbarin sich selbst oder sonst wen befruchtet.
An dem, was einer tut, ist er selbst schuld. Aber den Wahn, die Wut und die Waffen, die haben ihm andere besorgt.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Mittwoch, 6. Juli 2016

Frisch gepreßt #367: Annett Louisan "Berlin - Kapstadt - Prag"


In der geschlossenen Abteilung für schwere Fälle von Konsensverweigerung herrscht Unruhe, weil ein Langzeitpatient prominenten Besuch empfängt, dessen Zahl den bescheiden bemessenen Mediationsraum für Begegnungen von Drinnen und Draußen zu sprengen droht. Der zum Zwecke einer friedlichen Übereinkunftsanstrebung hinzugezogene Therapeut weist zunächst auf ein nicht unwesentliches Faktum hin:
„Geteilter Meinung zu sein, meine Damen und Herren, bedeutet nicht, wahllos bei Facebook geposteten Bullshit im Chor nachzuplärren.“
„Aha!“ plärrt der Chor der Indie-Neoklassizisten aus der hinteren Reihe. „Und wozu wären wir demnach gut?“
Der Besuchte selbst: lächelt milde. Das Antlitz der nicht mehr normjungen Dame, das seinen Argumentationsordner ziert, entspricht nicht gänzlich dem von ihm gewohnten (allerdings weitläufigen) Stereotyp, zudem werfen Vertreter der Dummphrasenfraktion ihre üblichen Blendgranaten der Modelle „Power-Fee“, „Pop-Lolita“ und „Kraftbündel“, die wie stets gehört verhallen. Was ihn anfechte, sich mal wieder dem gebotenen Konsens zu entziehen, der doch gerade jetzt leichtgängige Alternativen böte, von Bob Dylans prachtvollem Sinatra-Coveralbum über Marissa Nadler, Richard Ashcroft, Moop Mama, Thrice sowie, nun ja (ein kurzes Bärterauschen), Eric Clapton und Ziggy Marley bis hin zur 20th-Anniversary-Edition des Manic-Street-Preachers-Klassikers „Everything Must Go“, wird der Besuchte gefragt, und sein Lächeln mildert sich weiter.
„Genau darum geht es“, haucht er versonnen. „Enttäuschte Erwartungen erweitern die Genußfähigkeit. Zudem ist es mir seit eh und je ein Anliegen, Inkompatibles zu kombinieren und Erwartungen zu konterkarieren. An einem Album mit Liedern von Rammstein, Tokyo Hotel, Kraftwerk, Wanda, Marteria, Udo Jürgens, Münchener Freiheit, Ich & Ich und David Bowie komme ich daher natürlicherweise nicht vorbei.“
Nun erklingen: schwebende Gitarrenklänge, ein fast demütig bescheidenes Schlagzeug, perlendes Klavier, impressionistisch getupftes Beiwerk und, davon zärtlich umrüscht, die bekannt kindlich-rührende Stimme, bei der man glaubt, die Lippen der Sängerin am Ohr zu spüren.
Brauen heben sich, Haare sträuben sich, und aus dem Hintergrund werden wirre Stimmen und Reaktionen der beteiligten Musiker laut bzw. sichtbar: Till Lindemann knurrt, er fühle sich mißinterpretiert, „Engel“ sei gänzlich anders oder notfalls gar nicht gemeint, und er werde diese Schlampe bei nächster Gelegenheit an einen Stuhl fesseln. Wanda wehren sich gegen den aufkeimenden Verdacht einer in „Bologna“ versteckten ironischen Zwischenebene. Philipp Poisel trocknet der Mund aus, weil er nicht ahnte, wie schön „Wie soll ein Mensch das ertragen?“ ohne Schmalzaufstrich plötzlich ist. Marteria schmollt, weil „OmG!“ plötzlich fast ein Lied ist, dessen entwaffnende Langeweile von der Nacktheit indes noch unterstrichen wird, was alle anderen zu hämisch-wissendem Kichern animiert. Stefan Zauner schmunzelt zufrieden, weil er mit „Solang man Träume noch leben kann“ auch diesmal gewinnt. Ich & Ich erröten in unterschiedlichen Schattierungen, weil sich der zufällig hierher geratene Anwalt von Robbie Williams bei „Stark“ ostentativ Notizen macht und „You think that I'm strong ...“ trällert. Und leise summend bebt die Erde, was als wohlmeinende Zustimmung von Udo Jürgens zu seinem aller Brachialität und Hölzernheit entlaugten „Merci Cherie“ gedeutet wird. David Bowie schwebt als Weltgeist im Raum, weil sich das körper-, zeit- und haltlos romantische „Helden“ ja gewissermaßen selbst singt.
Am Ende zeichnet Entsetzen die Züge des Patienten, weil den unbemerkt herbeigeschlichenen Konsens niemand mehr verweigern möchte und der Therapeut ein grünes Häkchen ins Protokoll malt. Aber tief im Innersten freut sich sein Herz.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 3. Juli 2016

Belästigungen 12/2016: Integration: Komposthaufen statt Tomatensauce! (und jetzt sind wieder alle beleidigt)

Man kann tun, was man will, immer ist irgendwer beleidigt. Nehmen wir zum Beispiel mal diese eigentümliche blaue Partei von Ultraneoliberalen, die derzeit von den Medien zum absoluten Superthema aufgebauscht wird, damit die armen Würstchen, die am meisten unter dem neoliberalen Terror der letzten dreißig Jahre leiden und deshalb die anderen neoliberalen Parteien nicht mehr recht wählen mögen, sie in noch viel größerer Zahl wählen: Dieser abstruse Haufen ist sozusagen ein Epizentrum der Beleidigerei und Beleidigtseierei, von dem ständig neue Schockwellen ausgehen.
Zuletzt drehte sich das Karussell der aufgescheuchten Hühner mal wieder um den brandenburgischen Vorsitzenden dieser sogenannten Alternativpartei, einen wahrhaft paradox schillernden Mann, der sich abwechselnd als bröckelnder Fels und kreischender Pfau in die Medienschlacht wirft und in den letzten fünfzig Jahren so gut wie jeden Unsinn behauptet hat, um ihn anschließend zu widerrufen, das Gegenteil zu behaupten und auch das umgehend wieder in Frage zu stellen, solange nur alles in einem anständig ultrarechten Diskursrahmen blieb.
Nun wurde dieser Mann – wir sparen uns Witze über seinen Namen, die schon bei seinem gehabemäßig zumindest früher weitläufig verwandten Peter Gauweiler doof waren – von einer deutschen „Sonntagszeitung für die Elite“ (Selbstbeschreibung für Anzeigenkunden) zum ubiquitären Plapperschlagwort „Integration“ befragt. Kurz zur Erklärung: „Integration“ bedeutet laut Definition neben „Wiederherstellung, Vervollständigung“ auch „Verbindung einer Vielheit von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen Einheit“. Integration ist demnach ein Vorgang, der geplant und gesteuert werden muß und an dessen Ende alles ganz anders herauskommt als es ursprünglich war.
Wenn man beispielsweise Tomaten, Zwiebeln, Öl und diverse Gewürze mittels Pfannenbrand zu einer Nudelsauce integrieren möchte, bräuchte es dafür neben Pfanne und Herd auch einen Koch und, wenn der sich gar zu blöd anstellt, ein Rezept. Vor allem aber wird niemand auch nur das geringste Verständnis zeigen, wenn eine der solcherart verwandelten Tomaten hinterher demonstrieren geht und behauptet, es sei ihr historisches Grundrecht, so zu bleiben, wie sie mal war, und das unerschämte Zwiebel-Öl-Gewürz-Kroppzeug solle sich gefälligst so „integrieren“, daß ihre tomatige Identität dabei nicht angetastet werde.
Man könnte die Tomate dann fragen, welche Identität sie denn meine und ob sie tatsächlich schon immer eine Tomate und nicht vielmehr vor kurzem noch eine diffuse Gemengelage aus Erde, Samenkorn und sonst was und ein bisserl früher gar nichts oder ganz was anderes gewesen sei. Aber das führt jetzt zu weit und am Ende nur zu der Einsicht, daß irgendwann in der Geschichte des Universums alles und jedes in einer zeit- und ortlosen Singularität integriert war und eines fernen Tages vielleicht wieder sein wird.
Sobald indes ein Medienheini das Wort „Integration“ in den Mund nimmt, ist damit ziemlich genau das gemeint, was auch die Tomate meint: Eingliederung, Anpassung, Selbstverleugnung, Unterwerfung. Und damit sind wir wieder bei Herrn Gauland, der von dem Eliteblatt den Namen eines deutschen Fußballspielers hingeworfen bekam und in seiner typischen Art, etwas zu sagen, was dies und das und ganz was anderes und doch dasselbe (aber nicht so) bedeuten könnte, daraufhin geäußert haben soll: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben“
Und schon waren und sind alle beleidigt: Gauland ist beleidigt, weil er zwar seit fünfzig Jahren „Publizist“ und nach zehntausenden Interviews mit allen Wassern des Pressebetriebs gewaschen ist, aber irgendwie falsch zitiert worden sei und irgendwie gar nicht mitbekommen habe, daß er interviewt wurde. Die Elitezeitung ist beleidigt, weil das gar nicht stimme, Mennö!, und weil sie, wenn genug über den Quatsch berichtet wird, die nächsten Sonntage eine größere Auflage drucken und ihre Anzeigenpreise erhöhen darf. „Die Leute“ sind beleidigt, weil sie zwar tatsächlich keinen Bimbo und auch sonst kein durchraßtes Gesocks in der Nachbarschaft haben wollen, weil man ihnen so was aber gefälligst nicht nachzusagen hat, sonst wählen sie erst recht neoliberale Faschisten und überhaupt! Die anderen Leute sind beleidigt, weil sie plötzlich ihr Herz für einen beleidigten Fußballmillionär entdeckt haben und ihre millionenfachen dumpfen Solidaritätsposts auf Facebook aber vor lauter dumpfen Solidaritätsposts niemand mehr sieht.
Die Kanzlerin ist beleidigt, weil Jerome Boateng schließlich (auch) für ihre Wiederwahl spielt oder zumindest dafür, daß man sie die nächsten fünf Wochen nur als Jubeltante mit Fähnchen wahrnimmt. Jerome Boateng ist angeblich auch beleidigt (worden), mag aber gar nicht beleidigt sein. Der türkische Präsident ist beleidigt, weil sich keiner mehr dafür interessiert, daß er vor ein paar Wochen viel schlimmer beleidigt worden und deswegen immer noch beleidigt ist. Und die übrigen Hanswurste und GretelwurstInnen in der Blaupartei sind beleidigt, weil man sie mal wieder „ins falsche Licht rückt“ und als blöd hinstellt (und weil sie dieser unverschämte IN-MÜNCHEN-Kolumnistenbengel auch noch gendert, igitt!).
Halten wir mal fest: Was wir meinen, wenn wir in diesen Zeiten von „Integration“ sprechen, ist nicht die oben erwähnte Tomatensauce (weil wir weder Koch noch Rezept und auch keinerlei Ahnung haben, was sich in dieser Pfanne so an Zutaten tummelt), sondern eher ein Komposthaufen, auf dem durch zufällige Vermengung unterschiedlichster Sachen etwas Neues, eventuell Fruchtbares entsteht. Wenn in diesem Fall das verbindende Merkmal die allgemeine Beleidigtheit ist – nun ja, was soll's. Typisch deutsch, möchte man meinen, schließlich ist der Deutsche traditionell lieber beleidigt als zum Beispiel fröhlich, gelassen, entspannt, friedlich und freundlich. Aber immerhin ist er damit endlich: integriert.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Freitag, 1. Juli 2016

57, 58, 59 ... 60 Jahre Lach & Schieß!

Als ich ein kleiner Bub war, habe ich mich immer auf Silvester gefreut. Nicht weil es draußen geknallt und geblitzt hat, das schon auch, aber vor allem weil dann diese merkwürdigen Leute im Fernsehen kamen und diese merkwürdigen Sachen sagten, die sonst niemand gesagt hat und bei denen ich am Boden herumrollen und lachen und kichern mußte, ohne zu wissen warum. Da hat es in meinem Kopf geknallt und geblitzt, und dabei habe ich gelernt, daß Klugheit, Witz und Scharfsinn was anderes sind als ein Lexikon hersagen zu können, sämtliche Scherze von Kare und Lucki zu kennen und bei einem Buch von Enid Blyton nach fünf Seiten zu wissen, wer's war. Das war sogar noch schlauer und lustiger als die Tollsten Geschichten von Donald Duck, und das, liebe Germanisten, will ganz schön was heißen.
Wovon ich spreche ist: das Ensemble der Lach- & Schießgesellschaft, das und die mich irgendwie zu allem gemacht haben (und immer noch machen), was ich bin, ohne daß ich es gemerkt hätte. Selbst hineingeraten in den "Laden", in diesen unvergleichlichen Schlund der Weltkultur, wo Bosheit, Witz und Geist Blüten treiben, Schwerter schlucken und Feuer speien, bin ich "erst" vor zehn Jahren. Und seitdem aber geblieben, fast jeden Tag zumindest in unmittelbarer Umgebung (sagen wir: höchstens einen Tresen weiter). Weil ich hier ganz nebenbei mehr Freunde, liebe Menschen, sozusagen geistig-moralische Schwestern und Brüder gefunden habe als im ganzen Leben zuvor. So kann das gehen, wenn man nicht aufpaßt. Und großes Glück hat.
Ich hatte sogar noch das Glück, mit Dieter Hildebrandt, den ich dazumal als Bub im Fernsehen sah und der schneller sprach, als ich je denken könnte, auf einer Bühne herumhampeln und ihm mitzuteilen zu dürfen, was er da angerichtet hat. Aber das ist schon wieder Geschichte, und damit genug von mir. Als die Lach- & Schießgesellschaft vor sechzig Jahren gegründet wurde, kannten sich ja noch nicht mal meine Eltern. Ohne die ich mir die Welt ebenso wenig vorstellen mag wie ohne die Lach & Schieß.
Sechzig ist eine große Zahl. Da könnte man an die Rente denken oder an den Abstiegskampf in der zweiten Liga, aber beides ist hier vollkommen fehl am Platz. Vor kurzem habe ich das neue Ensemble der & Schieß gesehen und mußte genau so lachen, kichern und (im Geiste) am Boden herumrollen wie damals als kleiner Bub.
Legende? Ja, schon. Aber halt auch: immer neu, aktuell, zwei Schritte weiter als der Rest. Gegenwart, in der es im Kopf genau so knallt und blitzt wie eh und je. Suchen Sie ruhig was Vergleichbares. Oder lassen Sie's bleiben, Sie haben's ja (hoffentlich) schon gefunden.

geschrieben am 6. Mai 2016 auf einer Bank hinter dem Münchner Rathaus als Vorwort für das Programmheft der Lach & Schieß zu eben diesem Anlaß