Sonntag, 26. April 2015

Thunders, Johnny (ein Lexikoneintrag)


Trug die höchsten (ernstgemeinten) Absätze der Menschheitsgeschichte und den wunderbarsten Künstlernamen, den man sich für einen Popstar erträumen könnte; dabei hieß er schon in Wirklichkeit Johnny Genzale und sah nicht einfach nur gut aus, sondern strahlte mit seinem Gesicht solche Mengen an verdorbener Unschuld, Einsamkeit, Tragik, Rebellion und Sex-appeal in die Welt hinein, daß daneben ein Würstchen wie James Dean wie ein behaarter Salzstreuer wirken mußte. Johnny Thunders war schon Gott, bevor er auch nur einen Finger an die Saite legte.
Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, was er mit den Saiten anstellte. Hatte sich der Beitrag der Glamrocker zur Gitarrengeschichte bis 1973 im wesentlichen darauf beschränkt, Chuck-Berry-Riffs auf Düsenjet-Volumen aufzupumpen und ein paar scheppernde Harrisonereien zwischen die Refrain-Wiederholungen zu brettern (damit keine Ekstase-Pause entstehen konnte, während Noddy Holder sein Nebelhorn mit Neuluft füllte bzw. Marc Bolan seine Haare schüttelte bzw. Brian Conolly zur Herzmassage hinter die Bühne mußte), so wurde mit dem Erscheinen der ersten New-York-Dolls-Platte plötzlich und schlagartig klar, daß das Leben in der Großstadt kein Halligalli-Ferienlager und Rock 'n' Roll weder der Nebeneingang ins Opernhaus noch eine vorzüglich am friedlichen Lagerfeuer genossene Feldfrucht ist. Johnny war nicht nur "The Wild One", er verband seine private Haltlosigkeit und Abenteuerfreude mit einer tiefen Liebe zu den schwarzen Wurzeln der weißen Krachmusik und ihrer dunklen Essenz (und einer nicht genug zu lobenden Abneigung gegen alle Sorten von Effektgeräten, Verzerrern und ähnlichem Klimbim). Als Radikalkur versuche man den (erst viel später veröffentlichten) Gulli-Blues "Down, Down, Downtown": Mehr stolzer Schmutz und hoffnungslose Sehnsucht pro Quadrattakt war vorher nie und nachher kaum je zu hören (und wenn Onkel Strubbelbart nun einwendet, der Kerl habe doch ausgesehen wie die Original-Torte und sowieso so richtig gar nicht spielen können, wenden wir dagegen, daß Jimmy Page schon gleich ganz zu Anfang so begeistert von Johnnys wütend heulender Brachial-Dramatik war, daß er ihn zu seinem einzigen legitimen Erben erklärte und das Bürschchen auch gleich zum Jammen einlud - Johnny brachte neben seiner Gitarre eine großzügige Menge Pulver mit, das Jimmy gar nicht gut tat; aber das ist eine andere Geschichte. Oder eben nicht, denn es geht das Gerücht, Pete Townshend und Eric Clapton hätten sich jeweils nur deshalb heroinsüchtig gemacht, um einmal im Leben spielen zu können wie Johnny Thunders, vergeblich selbstverständlich).
Leider tat ihm selber die lebenslange Liebe zum Lähmungsmittel auch nicht immer gut. Bei den New York Dolls hatte er mit Album eins seine Wutschmerz-Melodie-Arbeit praktisch getan: "Personality Crisis", "Subway Train", "Jet Boy", "Vietnamese Baby", "Bad Girl", "Lonely Planet Boy" ... nehmen wir vom Zweitaufguß "Too Much Too Soon" noch "Babylon" und das wahrhaft titanische (aber schon lange vor der ersten Dolls-Platte im Repertoire befindliche) "Human Being" hinzu, so ist die Sache rund, komplett und gut, und Johnnys Gitarre singt für die Ewigkeit. Die restlichen Jahre seines Lebens verbrachte er damit, in die Geschichte einzugehen als zähester, erbärmlichster, heroischster Junkie aller Zeiten. Manch funkelnder Rohdiamant fiel dabei ab (vornehmlich auf dem Heartbreakers-Album "L.A.M.F.", obwohl da die satanisch sanfte Ballade "You Can't Put Your Arms Around A Memory" gar nicht drauf war), aber zum Schleifen hatte Signore Genzale nicht mehr den Nerv, verzettelte sich statt dessen auf sporadisch rausgeleierten Platten in anrührenden, aber musikalisch weltraumleeren Akustik-Aufkochungen, zog ansonsten als todtraurige Karikatur seiner selbst durch die Keller der Welt und bewies mit jeder neuen Live-Platte, daß es ihm schon wieder ein bißchen schwerer fiel, von "Born To Lose" bis "Chinese Rocks" seine alte honiggelbe 58er Les Paul T.V. einigermaßen festzuhalten, während Thunders-Fan Joe Perry mit der New-York-Dolls-Tribute-Combo Aerosmith die rohen Riffs auf Marktformat schliff und von Hanoi Rocks bis Guns N'Roses buchstäblich tausende von Dolls-Imitations-Kapellen den schmerzhaften Wahnsinn als billigen Jahrmarkts-Stunt nachklapperten, ohne von einem Geniestreich wie "Personality Crisis" auch nur träumen zu dürfen.
Unterbleiben aber soll das übliche Branchengeplapper von all dem Zeug, das angeblich ohne "sein Wirken" schon gar überhaupt "undenkbar" gewesen oderund noch sei. Ist ja alles Quatsch: Ohne Johnny Thunders' Gitarrenspiel ist die gesamte Popmusik des 20.Jahrhunderts und der Folgejahre ohne weiteres denkbar - irgendeiner wäre schon drauf gekommen, aus Versehen oder im entsprechenden Zustand. Aber eine anständige Glamrock-Jugend, eine zünftig "ruinierte Erziehung" (Morrissey), nein, die wäre ohne ihn nicht möglich gewesen; und das ist ja auch viel mehr. Dafür verzeihen wir dem bekanntermaßen warm- und weichherzigen, in späteren Jahren bisweilen massiv gefühlsduseligen und (mindestens) dreifachen Italopapa sogar, daß er sich im Zustand finaler Umnachtung von den Toten Hosen ins Studio schleppen ließ (es ging ja bloß ums Taschengeld). Und daß Thunders die ganze Geschichte gleich danach stilgerecht zu Ende brachte, indem er sich am 23. April 1991 in einem Schmuddelhotelzimmer in New Orleans sehr böse, qualvoll und sinnlos umbringen ließ, ohne selbst zu wissen und, logisch, irgendwem zu verraten, daß ihm der Krebs sowieso bloß noch ein paar Wochen Zeit gelassen hätte - dafür weinen wir ab und an beim Wiederhören eine große Träne.


geschrieben als Gastbeitrag für Michael Rudolfs definitives und in allen Zweifelsfällen maßgebliches Gitarristenlexikon "Shut Up And Play Your Guitar"


Samstag, 18. April 2015

Belästigungen 06/2015: Das gibt es auch als Buch! (inkl. Nabokov, Fix & Foxi und Lagerfeuer)

Wenn im frühen Frühling der weiche Regen die Fenster wäscht, verkrieche ich mich gerne in die Welt der gedruckten Buchstaben. Dies ist eine extrem verniedlichende Umschreibung für ein schlimmes Problem: die galoppierende Büchersucht, an der ich leide, seit ich eines Tages von einem lieben Menschen sozusagen die Einstiegsräuberleiter hingehalten bekam. Wir hatten uns gemeinsam einen schönen Film angeschaut, und sie sagte, das gebe es „auch als Buch“.
Eine unverschämte Untertreibung. Es gab den Film nicht etwa als Buch, sondern es gab ein Buch, aus dem irgendwer ein Filmchen herausgewrungen hatte, so wie man aus einer jahrelangen Beziehung ein „Fazit“ herauswringt oder Witzchen über Sex macht, von denen man in verzweifelten Momenten zwischen Klo und Tresen meint, sie seien genauso gut wie Sex.
Ich war angefixt und wurde Junkie. Irgendwann jedoch ließ ich mich überreden, eine und dann gleich zwei Tageszeitungen zu abonnieren, um wieder mit der Welt in Kontakt zu treten, deren graugründampfige Ausdünstung via Fernsehen ich längst nicht mehr ertrug. Ein großer Fehler: Die Bücher blieben fortan weitgehend im Regal, während ich mich in der Badewanne und im Liegestuhl mit legasthenischem Propagandamüll quälte und ab und zu sehnsüchtig ihre Rücken streichelte: keine Zeit, ihr Lieben.
Gott sei Dank: vorbei. Seit sich die deutschen „Printmedien“ durch impertinentes wirtschaftsfaschistisches Indoktrinationsgehampel und kriegstreiberisches Gelärme endgültig disqualifiziert haben, seit vom sogenannten Journalismus nur noch zwei, drei Fossilien übrig sind, mit denen man lieber hin und wieder ein Bier trinkt, ist die alte Sucht zurückgekehrt und hat eine strahlende, nie vollständig zu ergründende Welt mit sich gebracht, in der es um gänzlich anderes geht als das angeblich so wichtige Geseier. Und trotzdem muß ich ein Geständnis ablegen: Ich tue hin und wieder etwas, was „Kulturmenschen“ für schlimmer erachten als Kinder zu watschen oder in die Ukraine einzumarschieren: Ich schmeiße Bücher weg.
Die Büchersucht ist eine elitäre Angewohnheit, auch wenn es auf den ersten Blick anders scheinen mag. So läuten etwa seit Jahren (oder Jahrhunderten?) in regelmäßigen Abständen die entsprechenden Multiplikatoren ihre Alarmglocken und behaupten, das Lesen seit eine untergehende Kulturtechnik, das Buch sterbe aus usw. usf. – dabei wurden in der gesamten Menschheitsgeschichte nie so viele Bücher ver- und gekauft wie heute. Zugleich strotzen und platzen sämtliche Medien vor Kaufempfehlungen, die offenbar auch befolgt werden, und in den Biergärten und Kneipen plärren sich die Leute gegenseitig zu, welche aktuellen Schwarten man unbedingt kaufen kaufen kaufen muß, um dranzubleiben, in zu sein und nicht den Zug zu verpassen.
Kein Zweifel also: Es gilt als ungeheuer erstrebenswert, Bücher zu lesen. Keine Ahnung, wieso. Neunzig Prozent aller Bücher, in die ich je hineingeschaut habe, waren scheiße, und es waren zehntausende, und neunundneunzig Prozent aller Bücher, die heute im Handel sind und angeblich „sellen“, sind ebenfalls scheiße. Wieso also soll es sinnvoll sein, sich irgend so einen Thrillerdreck namens „Blutrünstig“, „Opfer“ oder „Zerstückelt“ zu kaufen, ein paar Seiten zu lesen und den Scheiß dann jahrelang irgendwo herumliegen zu haben, weil „man Bücher nicht wegschmeißt“?
Aber nein, Lesen ist toll, Buch ist supi, und deswegen betreibt man in Deutschland sogar amtlich „Leseförderung“, freut sich wie ein Leberknödel über jeden abverkauften Haufen Papier und betoniert die Kaufhäuser nur so zu mit immer neuen Bestsellerlawinen, die immer dasselbe sind: Müll.
Daß derweil die Bücher, die es wert wären, gelesen zu werden, seit Jahrzehnten vergriffen, nur in übelsten Ausgaben verfügbar, in Kleinstverlagen oder gar nicht erschienen sind, ist die Kehrseite einer verlogenen Kulturfurzerei, die uns klarmachen möchte, jeder noch so minder- bis nullwertige Sprachschleim sei ein dringend zu wahrendes „Gut“ und nicht das, was es ist: eine erbärmliche, wertlose, vollkommen überflüssige Ware, die sich als etwas gaaanz anderes als ein Erfrischungsstäbchen aufführt, nur weil ein Verlag daran verdient und weil Lesen (im Gegensatz zu Wichsen) eine kulturelle Tätigkeit sei. Der Kapitalismus kennt keinen Unterschied zwischen Nabokov und Fix und Foxi, abgesehen von dem kleinen Detail, daß Nabokov, weil „zu literarisch“ und „anspruchsvoll“, heute keinen Verlag mehr fände, und Deutschlands große Verlage kennen nicht nur keinen Unterschied, sondern überhaupt nichts mehr. Außer Summen.
Ein Vergleich: Ebenso dringlich gefördert und gefordert wie das Lesen wird seit Jahren das Wählen, und der Grund ist derselbe: Wenn ich in eine Buchhandlung hineingehe und dort mit Lawinen von identisch blödsinnigem Dreck zugeschüttet werde, gehe ich unverrichteter Dinge wieder hinaus, und wenn ich in ein Wahllokal gehe und auf dem Stimmzettel keine Partei finde, die nicht ausdrücklich für Wachstum, Wettbewerb und „Nachhaltigkeit“ „eintritt“, habe ich eben keine Wahl und schenke mir den Scheiß. Auch hier reagieren die auf meine Mitwirkung angewiesenen Profiteure wie gewohnt: Anstatt sich zu fragen, ob ich mir den Scheiß deswegen schenke, weil es für mich nichts zu wählen gibt, wollen sie mich animieren, verleiten, verführen und drängen. Es ist mir aber nun mal ehrlich ehrlich ehrlich egal, ob die Exekuteure des Ausbeutungsterrors CDU, SPD oder sonstwie heißen. Wenn ich etwas, was zum Kotzen ist, nicht ändern kann, werde ich den Teufel tun und es auch noch durch meine Mitwirkung absegnen. Wer das „schlimm“ findet und meint, es gerate „die Demokratie“ in Gefahr, sollte sich fragen, ob er „Demokratie“ nicht mit einer Staubsaugermarke verwechselt.
Ähnlich ist es bei den Büchern, aber immerhin: Da habe ich eine Wahl. Da kann ich ein vergriffenes Bändchen eines von den Feuilletons mit Ignoranz gekillten Autors für zehn Cent beim Straßenhändler erwerben und einen vergnüglichen bis wunderbaren Nachmittag damit verbringen, während ich an den Megaklötzen der Rummelverlage mit einem herzlichen „Bah!“ vorbeiflanieren und sie, wenn sie mir ungefragt ins Haus fluten, frohgemut ins Lagerfeuer schmeißen darf.
Und ich kann sogar hin und wieder, wenn mich jemand auf die angebliche Welt da draußen und ihren fürchterlichen Zustand hinweisen möchte, freundlich sagen: Das gibt es auch als Buch, und da ist es ganz anders. Wer könnte so etwas von Politik, Journalismus oder Heroin behaupten?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Frisch gepreßt #337: The Cribs "For All My Sisters"


Oft geht die Klage, es sei alles schon dagewesen und nichts neu. Vor allem aber sei alles nicht nur schon dagewesen, sondern ja immer noch da: 1964 zum Beispiel habe es den letzten Urknall (circa Elvis usw.) nur noch als ferne Erinnerung und auf ein paar zerkratzten Antiquitäten in Papas Kinderkoffer droben im Speicher gegeben – leichtes Spiel für Rolling Stones und Konsorten, denn mit so was läßt sich eine zünftige Teenagerrevolte nicht gestalten. 1972 das gleiche Spiel, diesmal zum Beispiel von Marc Bolan mit genialischem Augenblicksgespür und ohne Arg (sie meinten es ja alle ernst!) betrieben, 1976 dann von Punks und Hip-Hoppern. Ein scheinbar unendlicher Spiralkreislauf von Wellen, die anrollen, versanden, verebben, von der nächsten überschäumt werden, deren ideeller Schwester am Meeresstrand man ja auch nicht ansieht, wie sehr sie der in Sekunden vergessenen Vorgängerin ähnelt.
Geht nicht mehr, weil es heute nur ein paar Klicks braucht, um alles gleichzeitig zu erleben, den ganzen Rock ’n’ Roll, ein veritables Jahrhundert an Krach, Posen, Attitüden, Melodien, Akkorden, Klamotten, Settings und philosophischem Begleitmaterial inklusive fast nichtexistenten Raritäten und Zillionen an Alternativversionen. Hach! seufzt der Kulturpessimist, zu Ende sei die Geschichte und Neues nicht mehr drin.
Na und? fragen wir zurück und weisen auf gerne ausgeblendete Argumente hin: Neuigkeit als solche mag leidlich spannend sein (oder gewesen im Zeitalter der Science Fiction, als es per se cool war, mit Roxy im Ohr zum Mars zu fliegen, ohne zu wissen, was man da eigentlich sollte), wirkungsvoller aber ist die Sache selbst (als zum Beispiel „For Your Pleasure“ ganz ohne Marswahn). Und viel mehr noch: wird das klickweise erlebte Alles-auf-einmal zum Schaum, aus dem sich Grundformen bilden, die diese Sache selbst (oder eine bestimmte Variante davon) verkörpern und definieren.
Vorteil: Theoretisch läßt sie sich somit emulieren und neu (!) herstellen, ohne all die Ausrutscher, Peinlichkeiten, Mängel, Fehler, Leerstellen der behaupteten „Originale“ – Rock ’n’ Roll in Idealform, perfekt und sofort nutzbar ohne Vorsicht und Bedenken. Ein Traum. Nachteile, Risiken und Nebenwirkungen sind zu vernachlässigen – im Zweifelsfall schmeißt man’s eben wieder weg, und es versinkt rückstandslos im Schaum, dem es nichts hinzugefügt hat.
Jetzt sind wir bei den drei Jarman-Brüdern, die genau das seit bald 15 Jahren tun oder versuchen: die Essenz des britischen Indie-Spirits auszukochen wie einen Teebeutel und herauszudestillieren wie hundertprozentigen Brand, von Song- und Albumtiteln über optisches Auftreten, Assoziation mit dem New Musical Express und sämtliche weiteren Ingredienzen (wozu selbst der lachhafte Stunt von Ryan Jarman gehörte, der sich bei den NME-Awards 2006 auf den Tisch der Kaiser Chiefs warf, ohne die Getränke vorher wegzuräumen, und mit erheblichen Schnittwunden im Krankenhaus landete) bis hin zu … nun ja, den Songs, da mußte man Abstriche machen. Die waren zum größten Teil immer eher halbgar, nichts Besonderes, manchmal nett, oft nervig, frei von Genie, Witz und Originalität, die auf diesem gebiet dann eben doch von Bedeutung sind. Da half es auch nichts, mit einer kaum zu überbietenden Liste von Beteiligten, Mitarbeitern und Unterstützern aufzuwarten (was so weit ging, daß Smiths-Legende Johnny Marr ein paar Jahre lang richtig offizielles Bandmitglied war).
Was man nicht hat, muß man ersetzen, und Ideen und Ambition haben die Jarmans tatsächlich im Überfluß. Drum haben sie für dieses Jahr gleich zwei neue Alben angekündigt, die dann aber auch wirklich das gesamte Spektrum abdecken sollen: Der widerborstige Rebellenlärm (produziert von Steve Albini, klar) folgt später. Vorläufig gibt es die Poplieferung, produziert von (klar!) Ric Ocasek (da hagelt es Namen, die sich aus schierer Vielfalt zum Urbild der Geek-Rock-Coolness sammeln: Bad Brains, Weezer, Suicide, No Doubt, Hole, Bad Religion, Wannadies, Jonathan Richman, Nada Surf, Guided By Voices …).
Und? Nein, wirklich geniale Songwriter sind die Jarmans immer noch nicht. Der Funke, der die Evergreens etwa der Manic Street Preachers (an die man sich hier stellenweise erinnert fühlt) zu solchen machte, bleibt aus. Dafür gibt es schöne Anspielungen zuhauf, von Fifties-Power-Pop bis Brit-New-Wave, von Oasis bis Costello, von Springsteen bis Gene Pitney, und es gibt wahrhaft große Momente, traumhafte Arrangements, breite Gitarren, Donnerdrums, hübsche Slogans und nette Andeutungen in den Texten, ein Siebenminutenepos als Finale grande. Mag sein, daß wir die Platte (und The Cribs überhaupt) in zehn Jahren vergessen haben. Im und für den Frühling 2015 aber sind sie dann doch das Coolste, was sich aus dem Schaum destillieren läßt.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 1. April 2015

Frankfurt: Ins Verhältnis gesetzt


Frankfurt hat mir mal das Leben gerettet.
Aber so kann ich nicht anfangen, das wäre unverhältnismäßig, also unpropotional; und Frankfurt ist die Stadt, die Welthauptstadt der Proportionen, in denen sich hin und wieder auch die anderen, die wahren Verhältnisse diesseits aller Proportionalität abbilden.
Nirgendwo als in Frankfurt zeigt sich der Kapitalismus so aufrichtig. Während man in München einen wohligen Seufzer läßt, wenn man im Biergarten idyllischen Genrebildern begegnet, in deren güldnem Rahmen man Geldarsch, Karriere-Infarktling und Opferruine friedlich am Tischensemble hocken und minderwertigen Dreck verzehren sieht (den der eine mit der Platinkarte bezahlt, der andere aus dem Mülleimer klaubt beziehungsweise aus Neigerln zusammenschüttet, was die Gleichmacherei gewissermaßen quersinnig noch mal steigert), ragt in Frankfurt der nutzlose Monetenplempel derart schamlos schroff in die Stratosphäre, daß die Botschaft beim ersten Blick klar ist: Wir machen mit eurem Leben, das wir euch gestohlen haben, was wir wollen, und wenn uns nichts zum Wollen einfällt, stapeln und betonieren wir es einfach in der Gegend herum. Den Proportionen wird man dabei zwangläufig nicht ganz gerecht: Eigentlich müßten die Stahlglastürme der Mörderbanken mindestens eine Million Kilometer hoch sein, aber da käme ihnen der Mond in den Weg; und den wegsprengen dürfen sie vorläufig nicht, weil er ihnen (wahrscheinlich) noch nicht gehört.
Um dennoch zumindest einen ahnungsweisen Eindruck zu vermitteln, hat man Frankfurt verkürzt. Wer mit dem Fahrrad am einen Ende losfährt, ist noch kaum im Schwitzen, wenn er hinten schon wieder hinausrollt. Aus Gründen des Prestiges (von dem sonst niemand weiß, was es ist und soll, weil man es nicht zählen kann) schwindelt die Verwaltungsgeographie, indem sie Orte hinzurechnet, die (vgl. Offenbach) Frankfurt gar nicht haben will, aber auf solcherlei Gegaukel fällt niemand herein (sonst müßte München seine Ortsschilder nordwärts jenseits von Ingolstadt aufstellen und im Süden durch Österreich hindurch schmuggeln), und falls doch, rücken ihm die brutalstmöglich zusammengekrüppelten Baumkrüppel am anderen Mainufer den Sinn gerade. Zwar müßten zur korrekten Darstellung der Ausbeutungsbesitzverhältnisse wiederum eigentlich die Hochhausmonster auf einer Fläche von etwa einem Quadratdezimeter Platz finden, dies aber verliehe ihnen eine grazile Eleganz, die ihnen nicht zukommt.
Belassen wir es dabei und wenden wir uns einer Verhältnismäßigkeit zu, die in der Tat einst mein Leben gerettet hat.
Dazumal weste ich in wahrhaft schlimmen Verhältnissen: ebenso disproportional wie dysfunktional verehelicht, einem „Beruf“ samt Arbeitsstätte verpflichtet, in namenloser Fadheit vorstädtisch vegetierend, dabei von brennender Sehnsucht und stürmender Verliebtheit in kontemplativen Augenblicken förmlich zerbröselnd, starrte ich in Bildschirme und aus Fenstern, wünschte kaum und wagte nichts, weil zu ändern doch nichts war. Wer sich einmal verpflichtet hat, muß den Topf auslöffeln bis zum Grund, bis ans Grab, so wollte es scheinen, und jedem Aufbegehren hätte es an Recht und Macht gebrochen. Der Nachbar prügelte die Nachbarin, man putzte den Mercedes, schlug Kupfernägel in unliebsame Bäume, ließ den Hund parieren, den Sittich „Bazi!“ plärren und abends das Fernseh hineinfließen ins Hirn, um die dräuende Furcht vor der Welt auch in jenen Regionen zu täuben, wo Ethanol nicht hinreicht.
In dieser grausen Lage wurde zwecks Ausgestaltung der Freizeit eine Fahrradtour beschlossen und, interessierte Partizipation vortäuschend, sich in den Beschluß gefügt. Führen sollte das selbstverständlich nicht an landschaftlichen, sondern „sportlichen“ (i. e. in Kilometern zählbaren) Gesichtspunkten ausgerichtete Gestrampel den Main entlang und anheben in Frankfurt, wo Freunde eingesammelt wurden, mit denen man sich den Schweiß der Raserei und nach vollbrachter Leistung ein abendliches Krüglein säuerlichen Apfelgärsud in der Ausflüglerherberge am Flußufer teilen wollte, vielleicht noch ein Langnese-Eis und eine Spitztüte Pommes frites.
Indes hatten wir Frankfurt noch nicht verlassen, als es zu einem folgenschweren Zwischenfall kam: Die Exklusivität der aus Motiven der Freizeitwertgestaltung eigens so angelegten Velorennbahn mißachtend, trat ein mutmaßlich leicht angedröhnter Angehöriger der Menschensorte Rocker (ohne Motorrad, aber trotz drückender Sommerschwüle in schwerer Ledermontur und Kutte, bestickt und beklebt mit grimmen Drohgebärden) einem Radraser in den Weg, dessen körperliche Ausmaße vermuten ließen, daß er unterwegs zu einem Fitneßstudio in Koblenz oder („Kleiner Schlenker, hä hä!“) Bielefeld war, wo er die restlichen zehn Stunden des Tages in schweren Geräten zu verbringen plante.
Dem Radfahrer gelang es, auszuweichen. Wenige Sekunden später, nach einem Bremsweg von kaum zweihundert Metern, wendete er sein Gefährt, um die Sache zu klären; auch der Rocker blieb, seinem Ehrenkodex (Unfug oder Tod oder beides) folgend, stehen.
Da ward der zugereiste Münchner mit all seiner Daseinsfurcht in einer Portion konfrontiert; eine solche Szene mündet, dies wußte er, mittels Dialogen wie „So, Spezi! Jetzt rauchts!“ – „Di back i, du Drecksau!“ unausweichlich in einem Blutbad zersplitterter Schädel zwischen sirrenden Polizeikugeln und mit anschließender Sicherungsverwahrung.
Nun hat aber Frankfurt neben viel anderem auch einen durchaus angemessenen Dialekt; in diesem starrten sich die Kontrahenten zunächst an, ohne daß einer der beiden plangemäß in Grund und Boden versunken wäre. Dann öffnete einer (war’s der Rocker?) den Mund, und heraus kam folgender Satz:
„Isch buddel disch gleisch ein, Aldä. Dann kann disch dei Frau wiedä ausbuddeln!“
Ich konnte nicht anders: lächelte, grinste, zuckte, ließ mein Fahrrad fallen, den Rucksack, warf mich zu Boden und wälzte mich (während die beiden Kontrahenten entwaffnet starrten, sich schließlich die Hand reichten und ihrer Wege zogen) in einem halbstündigen ekstatischen Lachkrampf, der noch anderntags als Schluckauf reprisenhaft nachwirkte und mein Leben teilte wie der Blitz den Fels. Wochen später war alles – Ehe, Vorstadt, Job – eine lächerliche Erinnerung, lächerlich wie alles, wenn man es nur ins rechte Verhältnis setzt.
Hätte mir das in Stockholm, London, Wien, Paris, Ulan-Bator, Tanger, Havanna passieren können? in Hebramsdorf, Staffelstein, Burton-on-Trent, Atlanta oder am Nordpol?
Nein, hätte es nicht. Danke, Frankfurt.


geschrieben im Frühjahr 2014 für das von Jürgen Roth und Stefan Geyer herausgegebene Buch "Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten" (Verlag Waldemar Kramer)