Sonntag, 29. März 2015

Frisch gepreßt #336: Jesper Munk "Claim"


Ja mei, der Blues, gelt. Treibt sich seit bald 150 Jahren in der Weltgeschichte herum, schaut dementsprechend aus, der Lotterhaderlump, und ist kein Stück gescheiter geworden: Noch immer jault er den Mond an, wenn die Herzensdame mal wieder garstig ist, das Haus abbrennt oder der Hund stirbt, und noch immer nimmt er dazu eine Gitarre in die Hand, die am besten genauso alt ist und sauber blechern schnarrt, zieht sich in eine klapprige Holzhütte zurück, läßt sich auf scheppernden Töpfen begleiten und raspelt sich beim Plärren die Stimmbänder wund, daß es eine Art hat.
Drum heißt es ja so: nicht „der“, sondern die Blues eigentlich nämlich, Mehrzahl und Vielzahl der Leiden, die der elendige Verpaarungstrieb und seine grimmigen Brüder (Überdruß, Frühling, Neuverpaarungstrieb und die ganze Sippe) in die Welt gesetzt haben und deren literarischer Ausfluß in einem schmalen Bändchen Platz findet: You turn me on, you don’t have to go, please come back etc. sowie freilich Woke up this morning. Weil das tut er (belassen wir’s aus Gewohnheit dabei) immer wieder: Kaum scheint er überwunden und verdrängt von seinen Kindern und Kindeskindern, von Jazz, Swing, Schlager (auch der; achten Sie mal auf die Akkordfolgen!), Rock, Pop, Punk, whatever, da kehren die schon müde von ihrer Party heim und legen sich schlafen, und schon wacht er wieder auf und sitzt traurig in der demolierten Küche und füllt die Welt mit seinem Gram und Zorn.
Das Lebensalter des jeweils Befallenen spielt kaum eine Rolle, außer beim elektrischen Blues, einem besonders ruppigen Gesellen, der Anfang der 60er aus dem blauen Ei schlüpfte: Eric Clapton, Johnny Winter, Rory Gallagher, Peter Green, Jimi Hendrix, Jimmy Page – alle kaum Teenager, da lärmten sie schon auf Bühnen herum von Liebesqualen, die sie höchstens aus dem Kino kannten. Aber er war halt einfach so schön laut, der Krach, damit ließen sich Eltern und Nachbarn prima erschrecken und später auch die Mädels hinreißen, die dann für eine Fortsetzung des ewigen Kreislaufs sorgten.
In den letzten Jahren ist es um den jungen, elektrischen Blues etwas still geworden. Lag vielleicht auch an Überfüllung: Zu viele einstmals Junge noch am Leben, die unablässig durch die Schuppen und Beizen der ganzen Welt rumpelten, doch längst zu milde und starr, um noch für den Funken zu sorgen, der das Herz entflammt. Jetzt (oder sagen wir: seit zwei Jahren) kommt Jesper Munk daher (mit 23 fast schon ein Veteran, aber dies sind andere Zeiten) und will das ändern, wieder da anknüpfen, wo der rostige Eisenfaden Anfang der 70er riß und höchstens von Jon Spencer (die hier mitproduziert hat) noch mal zusammengedengelt wurde. Will wegblasen die genormten Popschaufensterpuppen, die heutzutage mit militärischen Drilltänzen die Teenies beglücken. Das Loch wieder aufreißen, in das die Beladenen, die Schwarzromantiker und Herzgebrochenen stürzen und sich suhlen.
Und das macht er auf seinem zweiten Album nicht nur angesichts des zeitlichen Abstands erstaunlich gut. Denn selbstverständlich ist die historische Mimikry eine der schwersten Disziplinen im Musikgeschäft (weil sie gar so leicht im Retroschmonz versumpft), zudem aber versteht er das Genre sehr offen und gleitet ohne Verrenkung in benachbarte (und einige ferne) hinein.
Vieles auf diesem schönen Album wirkt notwendig unfertig, unentschlossen bisweilen auch, vom Songwriting bis hin zur Produktion, die stellenweise etwas sehr auf Props und clevere Kostümierung abzielt. Aber das ist einerseits zu erwarten, andererseits läßt es für die Zukunft viel erwarten. Und vor allem macht es die Momente, in denen es wirklich annähernd so knallt, wuchtet und hemmungslos rummst wie einstmals bei den ganz frühen Fleetwood Mac (empfehlen wir dem Trackhörer: „101 Proof“, „White Picket Fence“, „Smalltalk Gentlemen“) um so besser. Da zittert er, der Mond, da klappert die Hütte.
Ja mei, der Blues halt, gelt.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Sonntag, 22. März 2015

Belästigungen 05/2015: Vom plötzlichen Hervorblühen der Gegenwart aus der stillen, großen, leeren Welt

Es gibt Zeiten, da wird es plötzlich still. Da erwacht man vormittags in einen Tag hinein, der angeblich schon läuft, und hat beim ersten Blick aus dem Fenster das Gefühl, dieser Tag sei stehengeblieben, so wie der Wecker und die Küchenuhr, die man manchmal nicht aufziehen mag, weil sie ja doch jeden Tag das gleiche erzählen.
Da bleibt man dann stehen und betrachtet ihn, diesen stehengebliebenen Tag, in dem offenbar gar nichts passiert, und während man sich fragt, ob man vielleicht über Nacht in ein Paralleluniversum transferiert worden ist oder die Grüne Wolke verpaßt hat (das, liebe Leser, müßt ihr jetzt selber recherchieren), wird einem klar, daß der Tag gar nicht wirklich stehengeblieben ist (weil sich etwas bewegt: eine überdrüssige Amsel, die auf irgendeinem zähen Zeug herumpickt, auf das sie offensichtlich keine Lust mehr hat). Sondern daß dort draußen eine Jahreszeit herumlungert, die da eigentlich nichts mehr verloren hat und auch nichts mehr taugt, so ähnlich wie die Mango im Kühlschrank, die man unvorsichtigerweise vor Wochen gekauft hat (weil man doch mal wieder auf die neuerdings so populäre Lebensmittelhändlerlüge „eßreif“ reingefallen ist, die die fiesen Lügenlebensmittelhändler auf alles draufkleben und -kritzeln, was drei Wochen vor Beginn der Reifung vom Baum gerissen worden ist) und die nun traurig vor sich hintrocknet, weil man sich nicht überwinden kann, ein Stück davon abzusäbeln und darauf herumzupicken wie die Amsel auf dem Ding, das sie vielleicht für einen Wurm hält und das aber auch ein Kaugummi aus dem Sommer 2011 sein könnte. Man kann sie aber auch nicht in den Kompost werfen, weil man das mit Lebensmitteln nicht tut und so weiter und so fort und pipapo.
Und während man so sinniert, bemerkt man, daß das opake, starrsinnige Grau da draußen langsam dunkler wird, und dann haut er schon wieder ab, der Tag, und läßt nichts zurück außer leicht schmerzender, in unbestimmbare Ferne gerichteter Sehnsucht und eben der Stille, die einem plötzlich wieder bewußt wird und von der man vermutet, daß sie so ähnlich wirkt wie Aspik oder Baumharz – noch ein paar solche Tage, denke ich, dann werde ich mich selbst als Bernstein am Fensterbrett ausstellen können, und Passanten werden mich flüchtig betrachten und sagen: Tja, kein Wunder, wenn der Kerl in sein Leben keine Dynamik hineinbringt.
Und dann kommt ein neuer Tag, und die Sonne strahlt, und trotzdem geht die Stille nicht weg, sitzt man wieder da und läßt die Dinge und Gedanken durch den inneren Nebel ziehen wie verirrte Pendler auf einer nutzlosen Landstraße zwischen Nichts und Nirgendwo, bis die Stille plötzlich ein fieses Grinsen aufsetzt und einem ein Gesicht zeigt und man sich an den Geburtstag erinnert, den man an diesem vorvorletzten Februartag feiern wollte und der aber nicht stattfindet, weil es den Menschen, mit dem man da auf sein zweites Vierteljahrhundert trinken und lachen und sonst was wollte, nicht mehr gibt. Und man hört ein Echo, hört sich selbst fragen, damals, im unwirklich fernen Februar vor zwei Jahren: Was soll aus uns denn werden? Und man hört sie ins perlende Sonnenglitzern hinein antworten, die Stimme, die es nicht mehr gibt: „Das ist egal. Wichtig ist nur, was wir sind.“
Wundert es einen noch, daß all die Themen, Ereignisse, Daten, Meinungen, Fakten, die Bewertungen, Folgerungen, Einschätzungen, Mahnungen, die Witze und Beschimpfungen, großen Worte und kleinen Bemerkungen, die man unbedingt oder wenigstens anlaßweise in die Welt setzen wollte, die Sachen, die man anpacken, erledigen, zersägen oder zusammennageln zu müssen glaubte, damit was weiter oder überhaupt geht, daß die irgendwo hinter den Horizont gerutscht sind und die Welt groß, leer und strahlend sinnlos vor einem liegt?
Das ist das Schreckliche und das Schöne am Tod (was immer man darunter versteht, und das gilt natürlich nur für die Überlebenden, die ja auch die einzigen sind, die er betrifft): Schön, daß er einem bewußt macht, was im Leben wichtig ist, daß unreife Mangos, kaputte Küchengeräte, Zukunftspläne, Küchenuhren, beschissene Fußballtabellen und selbst der Krieg der NATO gegen Rußland lächerliche Nichtigkeiten sind gegen die Nähe, den Witz, die Zärtlichkeit eines geliebten Menschen. Schrecklich, daß einem das meistens erst und genau dann einfällt, wenn es den geliebten Menschen nicht mehr gibt, weil ein anonymer Lastwagenfahrer eine Hundertstelsekunde lang mit seinen Gedanken irgendwo war (oder sonst was). Und man plötzlich nicht mehr weiß, was man statt dessen tun sollte. Was man überhaupt noch tun sollte. Außer am Fenster zu sitzen, in Bernstein zu gerinnen oder notfalls auf irgend etwas Zähem herumzuhacken und sich zu wünschen, die Hand festzuhalten, die es nicht mehr gibt.
Aber das ist das Schreckliche und Schöne an der Gegenwart: Schrecklich, daß sie alles, was sie soeben noch erfüllt und geprägt und bestimmt hat, liegen und fallen und in die Erinnerung entschwinden läßt. Und schön, daß es dort für immer bleibt.
Und sowieso: sind das nur Binsenweisheiten, die ebenso dorthin entschwinden, wo sie hingehören, wenn Föhnsturm und Frühlingsregen die überständige Jahreszeit wegblasen und -waschen und hinter dem Horizont der großen, stillen, leeren Welt eine neue Gegenwart hervorblüht, von der man noch nichts weiß, nur das: daß sie schön sein wird. Nein: ist.


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Sonntag, 15. März 2015

Frisch gepreßt #335: Bilderbuch "Schick Schock"


Es gibt ja so vieles. Zum Beispiel gibt es auch Menschen, die sich an Popmusik abarbeiten, im reinsten und direktesten Wortsinn, weil sie zum Beispiel meinen, das, was an deutschsprachiger solcher Musik „relevant“ sei, komme 2015 (immer noch oder überhaupt) aus Berlin oder/und Hamburg oder/und irgendwo dazwischen. Die müssen sich dann zum Beispiel an Heinz Strunk und Jens Friebe abarbeiten und in das halbgare Wichtiggetue irgendwas hineinwichtigtun oder etwas daraus herausarbeiten, womit sie eine Zeitungsseite füllen können, inklusive Claim für den taz-Titel.
Das macht nur leider keinen Spaß, höchstens wenn man Freude an der knirschenden Selbstentlarvung und -verarschung mittelalter Pseudohipster hat, denen so was selbstverständlich auch keinen Spaß macht, die das aber halt müssen, weil sie sonst, wenn sie keine Sätze mit „schon mal“ und „Gender“ mehr bilden und damit Zeitungsseiten vollbullshitten, nicht wissen, wo sie hingehören.
Andere tauchen tausend Kilometer tiefer und springen tausend Kilometer höher und kommen in Wien heraus, wo sich Dinge abspielen, die damit und mit vielem anderem überhaupt nichts zu tun haben. Die Initiation ist meist ein Zufallstreffer: „Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind / und Schuppen von den Augen geregnet“, da fing was an, womit ein Suchen begann, nach Spuren, Zeichen, nach Wundern. Den Initiierten mit ihren stanniolblechern strahlenden Augen braucht man nicht erklären, daß der Nino kein Spanier (und Bulbureal kein Fußballverein) und Wanda kein Babe und Pille kein Schiffsarzt und Bilderbuch kein analoges Gerät zur Weltöffnung für Nichtalphabeten ist.
Oder vielleicht doch; wir machen ein Geheimnis draus und lächeln sanft, wenn einer fragt, weil er nichts versteht: Ausgerechnet Wien? Wo der Tod eine Mehlspeis und jede Mehlspeis ein kleiner Tod ist? Wo zwischen Heisl und Beisl eine Düsternis herumwest, die sich an schönen Tagen in knallenden Beats, in Riffs entlädt, die an eine Kreissäge mit halbmondförmig ausgefrästen Blatt erinnern?
Genau. Zum Beispiel gibt es da Bilderbuch, vier junge Männer, die zwei rätselvoll schöne Alben für die Eingeweihten gemacht und dann fast überall gespielt haben, wo man sie hören wollte (fast überall), derweil an einem dritten gearbeitet, das sie dann aber zu zwei Dritteln wieder wegschmeißen mußten, weil es irgendwie „zu indie“ geriet und sie das so nicht mehr wollten, sondern lieber was ausprobieren, und sich deswegen mit monatelanger Hip-Hop-Diät, Haarfärbepaste und allen möglichen Chic-Lumpen auch äußerlich so veränderten, daß sie sich selbst kaum wiedererkannten.
„Schick Schock“ ist, sagen wir es so: ein Blitz. Technisch ein Album von unterwegs für unterwegs, für das irgendwie auch Hamburg und Berlin und viele Autobahnen irgendwo dazwischen eine Rolle gespielt haben, aber das spielt keine Rolle. 2015 werden wir „Schick Schock“ hören und mit stanniolblechern strahlenden Augen durch eine Welt tanzen, in der vieles andere auch keine Rolle mehr spielt und das, was „relevant“ ist, gerade erst entsteht. Wir werden „Plansch“ sagen und „OM“ und Gigolos sein, „Softdrinks“ schlürfen und „Barry Manilow“ appreciaten.
Und niemand wird uns verstehen, das ist das Schöne an Popmusik. Mögen die, die nichts verstehen, weise Finger recken, von Prince, Falco, Roxy Music (Modell 1982), Kanye West, von Samples, Midi und sonst was schwafeln. Wir schweigen und lächeln und sagen nicht mehr. „Willkommen im Dschungel“.


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Freitag, 13. März 2015

Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren) #2: The Futureheads "The Futureheads" (2005)


Weil der Zeitgeist zur Zeit so geistert, druckte ein englisches Musikmagazin neulich eine Liste der 20 größten „Post-Punk“-Songs: „Permafrost“ (Magazine), „I Am The Fly“ (Wire), „I Found That Essence Rare“ (Gang of Four), „Complicated Game“ (XTC) – im emotionalen Gedächtnis einzementierte Unwiederholbarkeiten musikalischen Wagemuts aus der Aufbruchszeit von Herbst 1978 bis Herbst 1979, als im Windschatten der implodierten Punk-Rakete soviel Unerhörtes und Unfaßbares auf den Plattenteller kam wie nie zuvor und nie danach. Joy Division, Siouxsie & The Banshees, Cabaret Voltaire, Josef K, Suicide, Devo … Dekoriert ist die Liste mit zwei Photos: eins von den Talking Heads, eins von einem Quartett aus Sunderland, dessen Mitglieder damals noch nicht mal geboren waren – The Futureheads („Meantime“, Platz 7). Wie geht jetzt das?
Das geht, fand die Redaktion, weil die Futureheads den „wahren Geist“ des Post-Punk einfangen, der weniger (aber doch auch) mit eckigen-schroffen Gitarrenriffs zu tun habe als damit, die alltägliche Heuchelei unserer Welt aufzuzeigen und den richtigen Sound dazu zu finden. So kann man das vielleicht ausdrücken. Oder anders: Bei guter Musik geht es um Inspiration, Genie, Interaktion, die Umsetzung von Energie in Töne; gute Bands zeichnet aus, daß aus der Gruppendynamik etwas entsteht, was niemand allein und niemand sonst erzeugen oder nachahmen könnte, obwohl es so einfach klingt: ein paar Gitarrenakkorde (eckig-schroff), rasende, hypnotische Rhythmen, Gesangsmelodien, die wie Koboldbanden durch das Gestrüpp aus merkwürdigen Harmonien hüpfen und tauchen, und … na ja, dies und das – man kann es eben doch nicht erklären, sonst könnte man es ja auch nachmachen.
Aus Not werden die Futureheads verglichen; die Vergleiche sind alle unfair: Die frühen XTC wirken dagegen wie eine lahme Beatles-Revival-Combo, Gang of Four wie ein Gitarrenworkshop von K-Gruppen-Hippies, Franz Ferdinand wie eine zweitklassige Mainzer Karnevalstruppe, Devo wie Agitprop-Kabarett. Ein um Gegenargumente bemühter Bekannter bezeichnete die Band als „Streber“. Ganz falsch: Es handelt sich, um im Bild zu bleiben, um die unverschämten Kerle aus der letzten Bankreihe, die alles viel schneller kapieren als der schlaueste Lehrer, die Schulstunden dazu benützen, schrillen Unfug zu treiben und Antiwitze zu erfinden und sich nicht mal herablassen, Hochenglisch zu sprechen (der Sunderland-Dialekt klingt wie eine Art Anglo-Ostbaierisch). Das hat die biedere deutsche Plattenindustrie verschreckt, die so was nicht versteht und sich erst jetzt, nach fast einem Jahr, durchringen ließ, das Album auch hier zu veröffentlichen.
Guter Witz übrigens hat nicht immer mit Lachen zu tun. Und die besten Witze erzählen Leute, die selber nicht lachen. Die Futureheads hat öffentlich noch kaum je einer lachen gesehen.


geschrieben Anfang Mai 2005 für KONKRET


Donnerstag, 12. März 2015

Im Regal: Mark Twain "Meine geheime Autobiographie"

Eine Kindheit und Jugend ohne Mark Twain ist (nicht nur) für meine Generation unvorstellbar. Der „Wilde Westen“, Hintergrund so gut wie sämtlicher Rollenspiele und Tagträume, wäre ein in jeder Hinsicht schwarz-weißes, von blutleeren bis faschistoiden sozialstrukturellen Vorgaben geprägtes Terrain geblieben ohne jene zwei Ewigkeitsbücher, deren das erste und sowieso alles andere Verfügbare weit überragendes zweites mit dem so typisch ironisch verknäuelten Satz anhob: „Ihr könnt nichts von mir wissen, wenn ihr nicht das Buch über Tom Sawyer gelesen habt, aber das hat weiter nichts zu besagen.“ Ein solcher Satz bleibt hängen; der dreht sich wie ein Korkenzieher hinein in ein jugendliches Gemüt, das bald selbst kaum anderes mehr will als das: schreiben, Geschichten erfinden, Bücher machen, und wenn’s nur selbstgeheftete Broschüren mit blumigen Titeln ohne Inhalt sind.
Dabei trug das dicke, kinderfest gebundene und daher trotz hundertfachem Gebrauch auch unter freiem Himmel über die Jahrzehnte immer noch nicht zerlesene Buch den harmlos kleingedruckten Hinweis „für die Jugend neu bearbeitet“, was bedeutete, daß Passagen, die das Gemüt des deutschen Nachkriegs-Nachwirtschaftswunder-Nachwuchses in seiner euphorischen Grundhaltung beeinträchtigen mochten, mindestens „entschärft“ worden waren. Aber was drinstand, genügte uns allemal – daß der Neger und selbst der „edle“ Indianer sowie deren Lebensumstände nicht das und nicht so waren, wie und was wir von Karl May, „Bonanza“ und dem Micky-Maus-Magazin vorgegaukelt bekamen, wußten wir da her, ohne es bewußt zu erfahren. Auch fast alles andere, was wir von den Weiten, Tiefen, den Wundern und Schrecken des „Westens“ sahen, spielten, verinnerlichten, kam irgendwie von Mark Twain.
Da her kam freilich noch viel mehr: Überhaupt keine US-amerikanische Literatur hätte es gegeben ohne den „Huckleberry Finn“, meinte Ernest Hemingway, der ansonsten vielleicht nicht viel verstand, dies aber pfeilgrad. Möglicherweise auch das Lesen als Kulturtechnik, denn als wir das lernten, stand in vielen Stuben schon der Fernsehkasten, der fast alles (was wir kannten, etwa den erwähnten Karl May) besser zeigen konnte als das betüpfelte Papier, an den wuchernden, wunderbaren Bildern und dem Witz eines Mark Twain indes kläglich scheiterte – ich erinnere mich an die enttäuschte Ermüdung des Zehnjährigen angesichts der Wiederholung einer preisgekrönten ZDF-Verfilmung: Da war das Buch (anders als etwa auch beim „Lederstrumpf“) die bessere Wahl, zu der er zurückkehrte und bei der er (überwiegend) blieb.
Ich schweife ab, durchaus angemessenerweise: Das Geraten vom Hundertsten ins Tausendste unter Ausblendung des Ersten, Siebten, Dreihundertzwölften ist eine wesentliche „Technik“ des Twainschen Erzählens; das erfährt, wer nur ein paar Seiten seiner autobiographischen Konvolute überfliegt. Der (ehemalige) Dampferlotse, Goldgräber, Korrespondent, Reporter, Weltreisende, Geschäftsmann (und Bankrotteur), Stand-up-Komiker, der fanatische Raucher, Moralist, Spötter, Romantiker und Zyniker fängt stets irgendwo an, läßt sich treiben, wirft Namen und reale, nebulöse, erfundene Ereignisse hin wie Körner vors Geflügel, schweift wieder ab, und zwar genüßlich: „Der Leser, wenn er nur tief genug in sein geheimes Herz schaut, findet dort – aber vergessen wir, was er dort findet. Schließlich schreibe ich nicht seine Autobiographie, sondern meine.“
Es ist meist heikel, Tagebücher oder Erinnerungen zu lesen: Sind sie geheim, fühlt man sich selbst bei Toten als obszöner Eindringling; autorisierte Editionen ertränken einen gerne in narzißtischem Sud. Samuel Langhorne Clemens (dessen der Mississippi-Schiffahrt entlehnter Künstlername sich sehr frei ins Süddeutsche übersetzen ließe als „Zwoa Striech“), ein Meister (auch) der Selbstverspottung, bleibt beidem fern. Er drehte seiner Welt eine Nase, indem er die Veröffentlichung seiner „Autobiographie“ hundert Jahre in die Zukunft verschob, publizierte gleichwohl Teile daraus zu Lebzeiten selbst und kam auch nicht als Fluch darnieder über die, die immer mal wieder etwas daraus zusammenkompilierten. Nun, da das festgesetzte Jahrhundert sich verzogen hat, sollen drei Bände alles fassen, was verfügbar hinterlassen und ein angemessener Wirrwarr ist, über viele Jahre sporadisch begonnen, ab 1906 diktiert und gesammelt unter dem fruchtbaren Vorsatz, immer nur von dem zu sprechen, was ihn augenblicklich gerade interessierte. Eine Heldenarbeit für Herausgeber, aus diesem drei Aktenmeter breiten Vulkan von Anekdoten, Zoten, Ansichten und Geschichten (immerhin einem erschlossenen und im Vorwort der US-Ausgabe erläuterten Plan des Autors folgend) eine lesbare Edition zu machen.
Das ist indes im vorliegenden ersten Teil bravourös gelungen, und zwar für jeden Anspruch, vom zufällig Interessierten bis hin zum Werkarchäologen; die Texte sind sinnvoll angeordnet, der Apparat an Anmerkungen, Kommentaren, Dokumentationen, Deutungen, Querverweisen, Hintergrundinformationen und und und ist erschöpfend, aber frei von müßiger Klugscheißerei (zusätzliche textkritische Kommentare finden sich unter www.marktwainproject.org).
Lesen sollte man dieses Buch so, wie es entstanden ist: hineinflanierend, blätternd, sich vertiefend, es wieder beiseite legen, wenn das momentane Interesse erlahmt. Der Versuch, es als ganzes zu verdauen, wird vergeblich bleiben. Der Schatz ist schlicht zu überreich, zu disparat in jeder Hinsicht. Sowieso verbergen sich in manchen Episoden ganze Romane, etwa wenn vom aus der Ferne „gemieteten“ Sklavenjungen erzählt wird, einem „fröhlichen Geist“, der „den lieben langen Tag sang, pfiff, johlte, jauchzte, lachte“, was Mark Twain als Kind „nervtötend, zerstörerisch“ (im Original „devastating“, also ungefähr: „niederschmetternd“), „unerträglich“ fand, sich schließlich bei seiner Mutter beklagte, die ihm mit Tränen in den Augen und zitternder Lippe erklärt: „Der arme Kerl, wenn er singt, heißt das, daß er sich nicht erinnert, und das tröstet mich; aber wenn er schweigt, fürchte ich, daß er nachdenkt, und das kann ich nicht ertragen. Er wird seine Mutter niemals wiedersehen; wenn er singt, darf ich ihn nicht daran hindern, sondern muß dankbar dafür sein. Wenn du älter wärst, würdest du mich verstehen; dann würde dich der Lärm eines Kindes ohne Freunde froh stimmen.“
Die hundertjährige Frist befreite den Erzähler von der Furcht vor seinen strengen beziehungsweise vernagelten Zeitgenossen („Niemand mag gehaßt, niemand gemieden werden“, schrieb er 1905). Wie stark Twains Neigung zur radikalen Meinung in vielerlei Hinsicht – vom Kapitalismus bis zur Religion – war, ist ahnungsweise bekannt; in diesem Buch erweist es sich in seiner ganzen Tiefe und auch Ambivalenz. Frappant zudem, wie aktuell vieles klingt: Manche Anmerkungen etwa eben zur Sklaverei lassen sich ohne weiteres als Beschreibungen heutiger Lohnarbeit lesen.
Ein paar Anmerkungen zur deutschen Ausgabe, deren wesentlicher Vorzug die Aufspaltung von Text und Apparat in zwei Bände ist – das entlastet die Hände und erleichtert das Studium. Die Übersetzung des Textes selbst ist brauchbar, sieht man von einigen Patzern ab (etwa dem oben angeführten oder einem idiotischen, wie ein Betonklotz in einen stillen Weiher geschmissenen „nichtsdestotrotz“). Der Apparat hingegen trägt deutliche Narben von Anglistikseminaren; da hätte eine Nachbearbeitung durch einen des Deutschen auch stilistisch Mächtigen nicht geschadet. Rätselhaft bleibt: wieso der Zusatz „Teil eins“ gänzlich fehlt, was das Wort „geheim“ im Titel soll, weshalb die Reihenfolge von „Vorläufigen Manuskripten und Diktaten“ und „Autobiographie“ gegenüber der Originalausgabe umgestellt wurde und wieso man zugunsten von fünf Seiten schwurbeligem „Vorwort“-Dampfgeplauder auf ein ausführliches Inhaltsverzeichnis verzichtet hat.


geschrieben im November 2012 für KONKRET


Mittwoch, 11. März 2015

Im Regal: Ursula Krechel "Landgericht"

Es gibt einen Typus Buch, der in den meisten Haushalten ehemals geisteswissenschaftlich Studierender vegetiert: das sogenannte „Mängelexemplar“, das (außer Stempel bzw. Strich) nur den Mangel hat, daß es im angebotsrelevanten Zeitraum niemand lesen wollte; aus einer Ramschkiste geborgen, weil fabrikneu und schade und man sich doch für alles interessieren muß, gerne mal von Luchterhand o. ä., den Verlagen eben, die damals alles Deutsche druckten, was spröde, trocken, vermutlich „anspruchsvoll“ und unverkäuflich war. Alle paar Jahre zieht man es beim Abstauben aus dem Regal, liest eine beliebige Seite, findet sie indifferent bis unzugänglich und stellt’s zurück (vielleicht ist man in ein paar Jahren „aufgeschlossener“, und neu und schade ist es ja irgendwie noch immer).
So kam einst auch ein Buch von Ursula Krechel in mein Haus, „Zweite Natur“, 1981 erschienen und nie mehr als an- oder reingelesen, weil die wolkigen Sätze nicht hineinwollten ins Hirn und mangels literaturbetrieblicher Relevanzsignale auch nicht mußten. Nun aber hat Frau Krechel mit ihrem dreiundzwanzigsten Buch (dem zweiten Roman) den „Deutschen Buchpreis“ gewonnen, „Landgericht“ soll also der „beste deutschsprachige Roman“ des Jahres 2012 sein, und mögen solche Preise und das sie umflatternde Geplapper auch notorische Biotope für Schwachsinn und Bullshit sein: interessieren tut sie einen doch, die Geschichte von dem um die Jahrhundertwende geborenen, zum Protestanten konvertierten jüdischen Juristen, der vor den Nazis nach Kuba flieht, seine Kinder in England, die Frau im Nazireich zurückläßt und nach seiner Rückkehr nach einem knappen Jahrzehnt feststellen muß, daß er im notdürftig entnazifizierten Deutschland und im Leben seiner mittlerweile an den Bodensee umgesiedelten Frau keinen Platz findet.
Daraus hätte man ein Sachbuch machen können; das historische Material, mit dem Krechel den Leser im vollkommen überraschungslosen Verlauf des Buchs regelrecht zuschüttet, ist merklich authentisch. Man könnte daraus auch einen Roman machen, aber dann müßte man erzählen können, und, ich sage das ungern, das kann Ursula Krechel leider nicht. Ihr Text ist verkünstelt, verstiegen, leb- und gefühllos, ungenau, randvoll mit schiefen, bisweilen lachhaften Bildversuchen, sprachlichen Schnitzern, Fehlern (wenn etwa die Hauptfigur zwecks „Repatrisierung“ eine UN-Hilfsorganisation aufsuchen soll, die einmal UNRRA und zwei Seiten später UNRAA heißt – und die es 1947 gar nicht mehr gab), einem Unmaß an Redundanz, leeren Sätzen, mit denen eine unbestimmte Erzählstimme in weitem Abstand um das weitgehend belanglose Geschehen kreist. Die Autorin wühlt und stöbert in Worten und Wörtern, findet kaum je die richtigen, nie ein poetisches, mutet dem Leser aber den ganzen qualvollen, unablässig scheiternden Suchprozeß zu. Das ist unlesbar, unerträglich, und das kann nur für Literatur halten, wer – Verzeihung – keine Ahnung und noch nie Freude am Lesen hatte.
„Bewundernswert kühl und modern“, „bald poetisch, bald lakonisch“, „präzise“, gar „bewegend“ und „politisch akut“ fand diesen wirren Wortberg die Jury. Bullshit, wie befürchtet. Und wer meint, dies sei übertrieben, der öffne das Buch zum (beliebigen) Beispiel auf Seite 29, lese den letzten Absatz und lasse sich überzeugen.


Anfang November 2011 für KONKRET


Montag, 9. März 2015

Im Regal: Antonio dal Masetto "Als wär's ein fremdes Land"

Die Gegenwart, schrieb Vladimir Nabokov einst, sei nur die Spitze der Vergangenheit, und eine Zukunft existiere nicht. Merkwürdig, daß sich der Mensch seiner Vergangenheit oft erst entsinnt, wenn die Zukunftserwartungen rein statistisch auf unberechenbare Tagen, Wochen, Stunden zusammengeschrumpft sind – aber irgendwie auch logisch, schließlich soll das Leben immer irgendwann besser werden, angeblich, und die Erkenntnis, wie gut es einmal war, daß es überhaupt war und nicht sein wird, gilt modernen Vorwärtsstrebern als verdächtig-nostalgische Verweigerungshaltung.
Mit achtzig spielt das keine Rolle mehr, da ist es Zeit, sich zu erinnern, und Agata, gerade achtzig geworden, beschließt, mehr zu tun als nur daran zu denken, was war: „Ich fahre nach Italien.“ Von dort, aus der Kleinstadt Tarni, ist sie vierzig Jahre zuvor mit ihrem Mann Mario und den Kindern Elsa und Guido nach Argentinien ausgewandert; jetzt will sie die verlorene Heimat zumindest wiedersehen, mit diffusem (oder ohne) Ziel. Sehen, was sich verändert hat, wichtiger: was noch da ist. Menschen spielen dabei emotional (zumindest scheinbar) keine große Rolle, es geht um Orte, Situationen, Szenen, Dinge, die aufgeladen sind mit Erlebnissen. Gibt es das Haus noch, die Fabrik, den Walnußbaum (dessen Krone das letzte war, was sie damals sah)? Nein, alles ist anders, zerstört, vergessen. Ein Schlüsselmoment ist das Wiedersehen der Stelle am längst gesprengten Stauwehr, wo einst die Menschen im Fluß badeten. Agatas leise Verzweiflung über deren Verschwinden überträgt sich auf den Leser, und spätestens jetzt spürt und versteht man, worum es hier geht: tatsächlich um eine Weigerung, den Versuch, sich sein Leben nicht nehmen, es nicht verwehen zu lassen in der Raserei der Welt. Gibt es mich selbst noch?, lautet die eigentliche Frage.
Für Antonio Dal Masetto ist die Geschichte nicht beliebig gewählt. Er ist selbst 1938 im norditalienischen Intra (das Anagramm ist leicht zu erkennen) am Lago Maggiore geboren und als Zwölfjähriger mit den Eltern nach Argentinien ausgewandert. Und es ist nicht sein erster Roman zum Thema: In „Als wäre alles erst gestern gewesen“ (2008 auf deutsch erschienen) erzählte Agata von ihrem Leben bis zur Auswanderung (der folgenden Schiffspassage widmet sich ein kurzes, höchst intensives Kapitel in diesem Buch); diesmal „läßt“ sie sich erzählen, und der „literarische Sohn“ (der sich als solcher nicht zu erkennen gibt) folgt ihren Bewegungen, Blicken und Gedanken mit außergewöhnlicher Einfühlsamkeit und ebenso unüblicher Diskretion. Diese Erzählhaltung ist ein meisterhafter Seiltanz; wir erfahren, was Agata sieht und hört, wohin sie geht und was sie tut; wir erfahren auch, daß sie an etwas denkt, daß sie eine oder (gleich zu Beginn) „die“ Idee hat – aber was sie denkt, worin die Idee besteht, teilen uns nur ihre wenigen Worte mit, und meistens nicht einmal die. Das füllt die beiläufigen Dialoge, die ganze ruhige, scheinbar unspektakuläre, nüchtern, unaufgeregt, geradezu stoisch erzählte Geschichte mit Spannung, und es macht sie zugleich rätselhaft und offen, als könnte man hineinschlüpfen in diese Person, die einem so nahe ist und die man dennoch nicht fassen kann, um sie mit den eigenen Erinnerungen und Gedanken zu füllen, in dem sicheren Wissen, daß es die ihren sind.
Mit eitler Nostalgie hat das aber nichts das geringste zu tun, denn Agata erlebt nicht nur vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an die Kälte und Leere der Gegenwart; es schleichen sich bei ihren Ausflügen in die Gegend andere Erinnerungen ein, die sie bereitwillig aufblühen läßt, an Faschismus und Krieg, Gewalt, Unmenschlichkeit und Grausamkeit, mit denen sie beim Besuch einer Ausstellung von Folterinstrumenten und des „Denkmals der 42 Märtyrer von Fondotoce“ konfrontiert wird, die sich in harmlos beginnenden und sich rapide intensivierenden Episoden verbinden mit dem Schrecklichen der Gegenwart, dem Flüchtlingselend, dem bis zum Mord reichenden Haß und der Verachtung, mit denen nicht nur die Menschen in Italien Einwanderern begegnen, was Agata in einer besonders beeindruckenden Szene erlebt, als ein afrikanischer Straßenhändler „scherzweise“ von jungen Burschen aus der Stadt gehetzt wird und sich in den See flüchtet. „Er bewegte lediglich die Arme, um an der Oberfläche zu bleiben, eine undeutliche Gestalt, die sich mit den Wellen auf- und abbewegte. Agata fragte sich, was er wohl sah, was er dort draußen im Dunkeln fühlte, mit den Lichtern der Ortschaft vor sich und den Leuten, die ihn wie von einer Tribüne aus anstarrten. Was ging durch diesen Kopf eines Einwanderers, eines Heimatlosen? Ein schwarzer Junge, der von weit her gekommen war, aus einem warmen Land Afrikas, allein in eine kalte Bergregion im Norden, ausgestoßen aus der Welt, ohne jede Zugehörigkeit, der Zuflucht suchte im eisigen Wasser eines Sees, um der Gewalt zu entgehen.“ Es ist eine der wenigen Passagen des Buchs, deren Symbolik so eindeutig ist, die unmittelbar anrühren (oder erschrecken), aber selbst hier wird kein Pathos spürbar, nur Bedeutung, die sich wiederfindet in Agatas Gesprächen mit der jungen Silvana, die sie bei ihren Ausflügen begleitet, woraus sich eine spürbare, nie definierte Freundschaft entwickelt, die ihr von den so individuellen wie typischen Problemen mit ihrem Mann berichtet, in anderen Begegnungen, Beobachtungen, einem tödlichen Unfall, der „Hinrichtung“ eines Vogels, einem Diebstahl, der Suche nach einem vergrabenen Kindheitsschatz, einer unangenehmen Episode im Haus einer Verwandten, auch und vor allem in dem Brief, den Agata an ihre Familie schreibt und von dem wir wörtlich nichts erfahren, nur wie er seine Bedeutung ändert: Zunächst scheint es, als könnte sie nichts von dem beschreiben und mitteilen, was sie erlebt. „Und auf einmal geschah etwas. Sie erkannte ihren eigenen Brief fast nicht wieder. Es war ihre Schrift, doch hatte sie einen anderen Text vor sich, hatte den Eindruck, Sätze zu lesen, die jemand anders geschrieben hatte. Während des Lesens entdeckte sie, daß in ihrem Brief viel mehr steckte, als sie festgehalten zu haben glaubte. (…) Was sie als nicht greifbar empfunden hatte, hatte eine Form bekommen. Was sie zu sagen versucht und dann abgebrochen hatte, stand da. Es war, als wären die Worte, die auf diesen Blättern standen, gereift und hätten sich im Laufe der Tage mit Sinn gefüllt.“ Das ist das Geheimnis nicht nur des Briefs, sondern des ganzen Buchs, das ein stilles, kleines, unauffälliges ist, aber als eines der schönsten, beeindruckendsten und wiederlesenswertesten im Gedächtnis bleibt, die der Autor dieser Zeilen in den letzten Jahren gelesen hat.


geschrieben Anfang März 2010 für KONKRET

Sonntag, 8. März 2015

Frisch gepreßt #334: Jessica Pratt "On Your Own Love Again"


Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die sich noch an Margo Guryan erinnern. Es dürften nicht allzu viele sein, die aber seufzen um so wohliger, wenn sie zufällig mal wieder „Sunday Morning“ lauschen und der beliebige Tag sich in einen Idealsonntag verwandelt – was besonders gut geht, wenn die Welt unter einem Plumeau aus weißem Samt schlummert. Dann gerät die Zeit sanft ins Schweben und verharrt, und das müßige Gehirn erschlafft und verschiebt all die wichtigen Pflichten – Steuererklärung machen, Beziehungsstrategien entwerfen, sich eine Meinung zu Griechenland bilden, das neue Bob-Dylan-Album hören usw. – auf einen fernen Sanktnimmerleinstag.
Ach ja, die Zeit und die Erinnerung: Seit bald fünfzig Jahren geistert Margo Guryans Stimme durch die Anderwelt der Tagträumer, jung bis zur Kindlichkeit, entspannt-naiv und immer ein wenig unsicher in der Intonation, weil sie nicht „performt“, sondern direkt aus der Seele (oder schlicht: aus der unmittelbaren, unaufmerksamen Aufmerksamkeit) singt. Und dabei hat sie sich nie verändert, wie sich „performende“ Stimmen im Ohr verändern, was auch an Margos Weigerung, sich in den „Betrieb“ zu begeben, gelegen haben mag – sie wollte weder Manager, Agenten, Anwälte, Booker noch sonstige Bestimmer über und neben sich dulden, ging nicht auf Tour und ließ ihrer ersten Platte keine zweite folgen. Sie löste sich sozusagen auf.
Vielleicht noch schöner als sich an Margo Guryan zu erinnern ist es, unwillkürlich an sie erinnert zu werden, wenn unvermittelt eine ähnlich verträumte, träumerische, den Zeitläuften enthobene Stimme durch die Räume schwebt, von der man spontan weiß, daß kaum jemand sie bemerken wird, die wenigen, die es tun, sich aber nicht gegen das frohe Lächeln wehren werden können, wenn sie in vielen Jahren wieder erklingt und der Tag sich in ein Plumeau aus weißem Samt kuschelt.
Jessica Pratt hat wahrscheinlich auch noch nie von Margo Guryan gehört (sie ist 1987 geboren), aber sie ist so ein Fall: aufgewachsen in einem von den Eltern absichtslos mit Tim Buckley, The Gun Club und anderen Abseitigkeiten beschallten Nest, nahm sie mit vierzehn eines Tages die von ihrem Bruder weggelegte Stratocaster-Gitarre in die Hand und vertrieb sich ein paar Wochen lang die Zeit damit, das gesamte zweite T.Rex-Album (für Nerds: „Electric Warrior“) spielen zu lernen und frühe Marianne-Faithfull-Platten mitzusingen. Und dann schrieb sie eigene Songs, ohne damit irgendein Ziel zu verfolgen, ohne sie „performen“ zu wollen – Miniaturen verträumter Tage, ungezwungene Meditationen über Dinge, mit denen man sich nur beschäftigt, wenn man sich mit nichts beschäftigen muß: Wasserfarben, blaue Geranien, solche Sachen.
„Fachleute“ nennen so eine Musik gerne „Freak Folk“, weil sie nirgendwo hineinpaßt, nichts erreichen will, weder Ziel noch Funktion hat, außer die Zeit sanft zum Schweben und Verharren zu bringen. Die Aufnahmen auf Jessicas erstem Album lagen sechs Jahre lang herum, ehe jemand auf sie aufmerksam wurde (weil ihr Freund ein paar davon auf Facebook postete). Ihr war das wahrscheinlich ziemlich egal, gesungen, gespielt und aufgenommen waren sie ja schon, mit einem alten Tonbandgerät übrigens, was fast ein wenig nach Klischee riecht, aber so ist’s nun mal.
Das alte Tonbandgerät darf auch auf ihrem zweiten Album diskret rauschen und brümmeln, es darf sich auch mal (noch so ein Fast-Klischee) eine Gleichlaufschwankung erlauben. Das lenkt nicht ab von ihrem kristallinen, wassergrünen Gitarrenspiel, von ihrer federleichten, die Trauer der Welt als Hauch in sich tragenden Stimme, den seltsamen, verschrobenen Harmoniefolgen, durch die ihr Gesang weht wie ein verlorener Luftballon durch Wolken, Nebelschwaden und den strahlend blauen Himmel.
Die Geschichten, die sie erzählt, bleiben meist ungreifbar, selbst wenn und obwohl es um so Handfestes wie Verlassen und Verlassenwerden geht: „Deep inside my lonely room/ I cry the tears of never knowing you“ – besser kann man das nicht ausdrücken, denkt man, ehe man bemerkt, daß man gar nicht sagen kann, was „das“ ist. Aber da ist man schon verzaubert, verklärt und aller Schwere entledigt, geläutert und seltsam glücklich, wenn am Ende selbst die Stille zu singen scheint und die Welt, die sich unbemerkt aufgelöst hat, aus dem Tagtraum neu ersteht.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Samstag, 7. März 2015

Belästigungen 03/2015: Wo ein Volk herkommt und was es ist und sein kann (und wo es hingehört)

Da, wo ich aufgewachsen bin (nennen wir es mal generalisierend „Obergiesing“) gab es früher ein paar Lokale, an denen wir gelegentlich vorbeischlenderten (oder sagen wir: strawanzten) und einen Blick hineinwarfen und zusammenfassend feststellten, da sitze ja ein sauberes Volk drinnen. Manchmal kam dieses Volk auch heraus, das war dann nicht mehr so idyllisch anzuschauen. Da volkte es gewaltig, sozusagen, und ab und zu kam auch die Polizei. Oder der Sanker. Ein sauberes Volk halt.
War die Bezeichnung abwertend gemeint? Wer weiß; ein Stückerl Ehrfurcht (oder sagen wir’s moderner: „shock and awe“) wird schon dabeigewesen sein. Jedenfalls war es das, was wir unter der Bezeichnung „Volk“ verstanden: ein finsterer Haufen, zusammengeschmiedet durch das gemeinsame Trinken und Stinken, Glotzen und Motzen, Grölen und Nölen, wehrhaft noch im Delirium oder gerade dann, bisweilen von volkstümlicher (!) Freundlichkeit, der man jedoch besser mit einem gewissen Mißtrauen begegnete, wie man ja auch nicht jedem Wolf, der einem im bayerisch-böhmischen Grenzwald über den Weg läuft, umstandslos die Pfote und das Käsbrot reicht und ihm einen guten Tag entbietet. Wie man Teil dieses Volks werden konnte, blieb uns vollkommen rätselhaft. Es gab dieses Volk wohl schon immer, und es blieb immer unter sich.
An diese soziale Gemengelage mußte ich in den letzten Wochen oft denken, wo so viel vom „Volk“ die Rede war und ist. Da wollten die einen das Volk sein, andere es verstehen oder vertreten oder mit ihm reden, und insgesamt aber wollten ihm alle das beste, weil es nun mal das Volk ist und es nur ein einziges solches gibt.
Nein, nicht nur eines: Ein griechisches Volk zum Beispiel gab es auf einmal auch, das laut Ansicht der in der Krise geschmiedeten Einheitsfront deutscher Medien wahnsinnig geworden ist und nicht nur „Linkspopulisten“, sondern auch noch „Rechtspopulisten“ an die Regierung gewählt und damit ganz Europa, besonders aber das deutsche Volk an den Rand des Abgrunds gedrängt hat. Ja hm, was fällt dem denn ein, diesem Volk, diesem griechischen!
Interessant ist dabei erst einmal der „Populismus“, der sich begrifflich ja von nichts anderem herleitet als vom „populus“, also dem „Volk“, gelt, oder nicht?
Oder vielleicht nicht. Ich bewege mich da etymologisch auf dünnem Eis, ich weiß, aber mir ist aufgefallen, daß es ein „Volk“ im deutschen Sinne tatsächlich nur bei den Deutschen gibt. Das Wort kommt als „folk“ allerdings auch im Englischen vor, da bezeichnet es (fast immer leicht abwertend) eine regional verankerte Gemeinschaft von Stämmen oder Sippen, deren Mitglieder untereinander verwandt sind. Es käme aber kein Brite auf den Gedanken, sich als Teil eines britischen „Folk“ zu bezeichnen. Man sagt da „people“, wie der Italiener „popolo“ und der Franzose „peuple“ sagt – da hört man das „populus“ ebenso heraus wie den deutschen „Pöbel“ – die Bevölkerung eben, die „Leute“, im Zweifelsfall: die „einfachen“.
Und da liegt ein vielleicht entscheidender Unterschied: Die „Blutsverwandtschaft“ gilt den Welschen nichts, bei denen gehört zusammen, was aufgrund historischer Zufälle und Verwerfungen im selben Land herumsitzt und gemeinsame Interessen hat (die „res publica“, die eben nicht „res volkiga“ heißt). Dem Deutschen ist solch Vielvölkerei suspekt; er ist ein Volk und läßt auf Dauer nur hinein ins Land, was „deutschen Blutes“ ist und das auch nachweisen kann – da spielen selbst etwaige Sprachkenntnisse keine große Rolle mehr. Die verlangt man nur „Zuwanderern“ aus blutsfremden Versippungen ab, während der im zwölften Glied irgendwie Blutsdeutsche notfalls auch nach tausend Jahren Diaspora aus Kasachstan oder Kannitverstan anreisen kann und sofort Deutscher ist, weil er das nun mal schon immer war.
Deshalb hat der Deutsche, insbesondere der reinblütig-adelige Elitedeutsche, der gerne in Medienkanzeln herumsitzt und ein „Volksempfinden“ zusammenwolkt, ein solches Problem mit „Populisten“: Die wenden sich traditionsgemäß an „die Leute“ (die kleinen! auf der Straße! igitt!); der brave Deutsche hingegen hängt sich an die Blutsvolksgemeinschaft; er denkt und fühlt nicht populistisch, sondern völkisch. Und fragen Sie ihn bloß nicht, wo ihn das in den letzten hundert Jahren hingebracht hat!
Ich möchte da jetzt keinen „deutschen Sonderweg“ hineininterpretieren, wie ihn die Historiker in den letzten Jahrzehnten gerne mal an die Wand gemalt und dann so lange disputiert haben, bis das letzte Barthaar gezaust und der angebliche Sachverhalt dermaßen zerspleißt und zerspreißelt war, daß niemand mehr wußte, um was es ursprünglich ging. Aber vielleicht steckt da einfach ein solcher deutscher Sonderweg drin. Ich kann mich nämlich auch noch gut erinnern, was für einen Zoff ein ansonsten wenig bedeutender Künstler vor einigen Jahren bekam, als er in eine Auftragsarbeit für den Reichstag den Schriftzug „Der Bevölkerung“ einbringen ließ – nicht wegen dem vermeintlich falschen Artikel, sondern wegen dem Gegensatz zur Reichstagsaufschrift „Dem deutschen Volke“, wozu einst (1935) bereits der alte Brecht feststellte: „Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht.“
Da saßen sie mal wieder in den Schützengräben, die deutschen Volkslinge, und meinten, der Mann wolle (so die FAZ) dem deutschen Volk „die Selbstachtung und das Recht auf nationale Identität“ verweigern, gar „ebendieses Volk negieren“ – so richtig zaubertrickmäßig: einmal „Bevölkerung“ hingeschrieben, schon – puff! – ist es weg, das Volk!
Was vielleicht nicht die schlechteste Idee gewesen wäre, so insgesamt. Hat aber halt leider nicht geklappt, drum volkt es uns weiter am Hals herum und wird das wohl noch lange tun, wenn wir es nicht endlich doch mal so richtig effektiv negieren. Oder insgesamt in einen Giesinger Stehausschank hineinsperren und erst wieder herauslassen, wenn Polizei und Sanker da sind.


Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 5. März 2015

Im Regal: Aleister Crowley "Gilles de Rais. The Banned Lecture"

„Picasso des Okkulten“, „verruchtester Mann des Jahrhunderts“, „verderbtester Mann der Welt“ … die Liste der Werbesprüche, mit denen auf Aleister Crowley aufmerksam und mal wieder ein Produkt mit seiner auratischen Reizwirkung verkäuflich gemacht werden soll, ist schon deshalb so lang und absurd, weil ein „Ruch“ (d. h.: „umlaufendes Gerede“) ja meistens genau darin besteht, daß jemand jemanden als verrucht bezeichnet, wodurch er somit noch verruchter wird usw. – ein kulturbetriebliches Perpetuum mobile, das seit dem Esoterikwahn der 80er regelrecht ins Rasen geraten ist, sich aber halt leider immer nur im Kreis dreht um ein Zentrum, das niemand genau erkennt und das vielleicht leer ist.
Wer Aleister Crowley wirklich war, weiß und fragt niemand von den vielen, die uns drohgrummelnd mit Geschichten von seiner magischen Verruchtheit etc. beeindrucken wollen, die als Zeugen ihres Sehnens nach „Freiheit“ auf der anderen Seite auch gerne mal den Marquis de Sade herbeizerren und unter keinen Umständen einsehen wollen, daß durch die Hintertür von Esoterik und Libertinage die düsteren Monster Faschismus und Neoliberalismus hereinkriechen. Also: Wer und was war er, der Herr Crowley?
Der Enkel eines der ersten Fastfood-Millionäre und Sohn fanatisch christlicher Sektierer war durch den frühen Tod des Vaters schon als Kind so reich, daß er sich – wie das so geht – an den missionarischen Eltern „rächen“ konnte, indem er sie gespiegelt imitierte, sich mit pornographischem Verseschmieden und Bergsteigerei verlustierte und ein Studium der Geisteswissenschaften hinschmiß, um fürderhin mit Drogen und „schwarzer Magie“ ein wahres Leben hinter dem wahren Leben anzustreben, das sich wie so oft als reales Abbild zunehmender Gehirnzersetzung erwies. Er stritt sich mit allen möglichen Ordens- und Logengesellen herum, wie das die heutige Jugend so ähnlich aus „Buffy, the Vampire Slayer“ kennt, befehdete jeden, der ihn nicht als größtes Genie seit Shakespeare feiern wollte, heiratete gleichgesinnt, hatte in Ägypten ein Erweckungserlebnis, das ihn zu seinem „Buch des Gesetzes“ inspirierte, gründete auf Sizilien eine „magische“ Kommune, deren „Magie“ hauptsächlich in exzessivem Heroinkonsum bestand, ließ sich zum „Weltheiland“ ausrufen, malte auch noch ein bißchen und starb 1947 72jährig an Herzversagen. Hinterlassen hat er eine Halde von pseudoreligiösem Schwurbel, über dessen Deutung sich heute noch Menschen, die nichts besseres zu tun haben, in den Haaren liegen, was den erwähnten „Ruch“ am Leben erhält und jedem Popmusiker oder sonstwie Aufmerksamkeitsbedürftigen das ersehnte Kapital garantiert, wenn er nur in einem Interview den Namen Aleister Crowley raunt.
Was die von Studenten betriebene „Poetry Society“ der Universität Oxford bewogen haben mag, ausgerechnet Crowley, dem keinerlei wissenschaftlicher Ruf voraneilte (abgesehen von allen möglichen Angebereien, mit denen sein gewiefter Agent/Manager Freund, Feind und vor allem Presse fütterte), 1930 zu einem Vortrag über Jeanne d'Arcs Zeit- und wohl auch Gesinnungsgenossen Gilles de Rais zu laden, deutet Hans Schmid in seinem Nachwort an: Es war wohl neben vergeblichen Bemühungen, irgendeinen anderen Autor von Rang und Namen zu engagieren, Crowleys zwielichtige Prominenz, die den Hörsaal schon füllen würde – aber nicht durfte, weil der Unikaplan dessen Masche auf den Leim ging, mit disziplinarischen Maßnahmen drohte, die Gastvorlesung öffentlichkeitswirksam abgesagt wurde (aber keineswegs „gebannt“: Den Kaplan ging die Sache im Grunde nichts an, und sonst hatte niemand Einwände), was Crowley – damals weitgehend verarmt – wiederum medial ausschlachtete, indem er den Vortrag als Broschüre verkaufen und sich von der Oxford Mail zu der „sensationellen“ Absage interviewen ließ, wobei er sich mit der Mischung aus rückhaltloser Angeberei und der Demut des Verfolgten inszenieren darf, die er so gut beherrschte und zu der auch der Trick gehört, die absurden Vorwürfe, die man abstreitet, zugleich zu übertreiben: Irgendwas wird dann schon dran gewesen sein.
In seinem Vortrag ergeht sich Crowley zunächst in aufgesetzt witzigen, aber kreuzbanalen Ausführungen über das Problem des historischen Wissens, wohl auch als Rechtfertigung dafür, daß er auf jegliche Art von Nachweis, Beleg und Quelle verzichtet, sein eigentliches Thema in ein paar Nebensätzen abhandelt (in denen fast jede Behauptung falsch ist) und meist derart haarsträubend verallgemeinert und veroberflächlicht, daß sich solcherart wahrscheinlich auch beweisen ließe, daß das Universum eine Stubenfliege ist. Seine These lautet: es sei ziemlich unwahrscheinlich, daß Gilles de Rai zu magischen Zwecken 800 Kinder geopfert habe, weil sich selbst bei grober elterlicher Unachtsamkeit in einer dünn besiedelten Gegend kaum so viele Opfer finden ließen – daß in den Untersuchungsprotokollen nur von 140 Opfern die Rede war, stört ihn ebenso wenig wie daß Gilles keineswegs von der kirchlichen Justiz (die dafür gar nicht zuständig war) zum Tode verurteilt und auch nicht wie Jeanne d'Arc auf dem Scheiterhaufen endete, sondern am Galgen. Man setzt Unglaubliches in die Welt, bezeichnet es als unglaublich – quot erat demonstrandum, drum wird’s in Crowleys Nachbemerkung zum Vortrag wörtlich noch mal wiederholt, und die Folgerung gilt, na klar, für jeden, der sich je weitläufig ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt sah, also auch Crowley. Das ist weder Historiographie noch Religionskritik, sondern ziemlich plumpe Selbsthistorisierung, aber wirksam. So funktioniert sie, die Mystifiziererei.
Einer der wenigen originellen (wenn auch nicht neuen) Gedanken ist, der Ursprung der Ketzerverfolgung durch die christliche Kirche und ihrer Angst vor dem „jüdischen“ Bolschewismus liege darin, daß die Urchristen selbst Ketzer, Kommunisten (und sowieso Juden) waren, weshalb ihre staatsherrlichen Nachfolger fürchteten, dasselbe Schicksal zu erleiden wie einst das Römische Reich. Crowley indes verfolgt auch diesen Gedanken nicht weiter, sondern nutzt ihn nur als Rechtfertigung gegen einen Gegner, den er braucht, um weiterhin skandalisieren und wichtigtun zu können. Darum geht es: um den eigenen Ruhm und Ruch, das eigentliche Thema des Vortrags. Ein paar nette Wortwitze, etwas eitle Plauderei, und schon ersteht das Ergebnis der wissenschaftlichen Bemühung: Gilles de Rais war –
Derart knappe Texte als Buch zu veröffentlichen heißt behaupten, es liege in jedem Wort eine Sprengkraft wie anderswo in Kapiteln oder ganzen Bänden. Das ist nicht der Fall. In diesem Buch sprengt nichts, da pufft es nur so vor Banalität, und der Mythos Crowley wird vor den Augen des Lesers zum zerplatzten Bovist. Immerhin: eine Erkenntnis, aber auch die ist trivial. Gleiches gilt für die musikalische „Umsetzung“ in den „17 Songs für Aleister Crowley“, die als CD beigelegt sind und aus kontur- und kompositionsfreiem, uninspiriertem Gelärme zu assoziativem Geraune bestehen – man könnte eine ironische Absicht hinter dem „mystisch inszenierten“ Schwulst vermuten, aber der Eindruck, daß hier jemand sich selbst viel zu wichtig nimmt, um irgendeine Form von Witz zu entwickeln, liegt näher.


geschrieben im Januar 2011 für KONKRET

Sonntag, 1. März 2015

Im Regal: Richard Powers "Orfeo"

Was heutzutage auf und über Bücher geschrieben wird, könnte man als Schaumstoff bezeichnen: Es isoliert, erzeugt ein ungesundes Klima und verströmt giftige Dämpfe. Zum Beispiel: „Richard Powers stellt sich als Erzähler den großen Themen unserer Gegenwart: sei es der Kunst der Technik, der Musik der Gene oder dem großen Netz, das uns alle verbindet und alles verschlingt.“ Das ist kompletter Bullshit, und selbst wenn man es versuchsweise in eine Art Sprache übersetzt, bleibt davon, was dieses Buch betrifft, nur ein Wort, das Sinn ergibt: Musik. Allerdings nicht „die Musik der großen Fragen“ (wie ein Rezensent meint, der offenbar noch verblödeter ist als der Klappentextschreiber), sondern schlicht: Musik.
Über Musik zu schreiben, ist leicht, aber auch problematisch, denn der Zaubertrick, ein Musikstück per Sprache im inneren Ohr des Lesers erstehen zu lassen, gelingt nur in den allerseltensten Fällen; der Rest, der täglich die Feuilletons füllt, ist ebenfalls: Schaumstoff. Aber fangen wir mal so an: Richard Powers erzählt von einem alternden Komponisten, der durch „tote Flecken“ im Gehirn langsam seiner musikalischen Fähigkeiten verlustig geht und daher auf die „Idee der Biokomposition“ verfällt. „Hirnwellen, Hautleitung und Herzschläge: alles konnte überraschende Melodien hervorbringen. Streichquartette spielen die Abfolge der Aminosäuren in Pferde-Hämoglobin vor.“ Als Chemiker und Hobbygenetiker faßt Peter Els folglich einen künstlerischen Plan, der reichlich verstiegen klingt und ist, aber das macht ja den Reiz von Science Fiction aus, solange die Sache in sich plausibel bleibt. Um das zu erreichen, fährt Richard Powers allerdings ein derartiges Gebirge von Mystifizierung, wilden Assoziationen, Pathos, Fachbegriffen und sich selbst immer wieder zu überbieten trachtenden Übertreibungen auf („Mit jeder Bewegung schleuderte er Millionen von Bakterien, Pilzen, Protozoen, Mikroalgen, Aktinomyzeten, Nematoden und mikroskopisch kleine Arthropoden durch die Luft – Milliarden von Einzellern, von denen jeder zehntausende von Proteinen versprühte. Auch dies ein Sturzbach von chemischen Signalen, unvorstellbaren Tonkombinationen, ein ohrenbetäubendes Feuerwerk für jeden, der sich die Mühe machte, es wahrzunehmen“), daß irgendwann auch der geduldigste Leser auf den Griff zum Lexikon verzichtet, einfach weiterblättert und sich nicht mehr recht einlassen mag auf die Grundbehauptung: „Irgendwo in den Milliarden von Basenpaaren dieser Millionen von Arten mußten Lieder verschlüsselt sein, Sequenzen, die sich an all das wandten, was ihm je zugestoßen war.“ Ob sie das wirklich „mußten“ und wie diese „Wendung“ begründet sein mag, sei dahingestellt – Els jedenfalls möchte die „Lieder“ in DNS umsetzen und einem Bakterium „einpflanzen“, um sie für alle Zeiten zu bewahren: „Verschlüßle eine Komposition in einem quaternären Strang und lege das Band anschließend in den Player.“
Uff. Aus solchem Quark, könnte man zusammenfassend und durchaus beispielhaft feststellen, entstehen durch pfundige Aufschäumung (literarisch und medial) unweigerlich „große Themen“ und „große Fragen“, die „unsere“ tatsächlich großen Probleme (Armut, Krieg, das Ende des Kapitalismus etc.) locker in den Schatten stellen, weil sie in ihrer unfaßbaren Verquastheit nun mal so spannend und interessant schillern. Wenn es Richard Powers darum gegangen ist, dies per Parodie aufzuzeigen, ist sein Roman, wenn auch anstrengend, zweifellos gelungen.
Das ist jedoch fraglich, es könnte auch ernst gemeint sein. Die Geschichte weist gewisse Ähnlichkeiten mit der des „Biokünstlers“ Steve Kurtz auf, der 2004 durch einen Notruf nach dem Tod seiner Frau ins Visier des FBI geriet, das aufgrund von in seinem Haus gefundenen (harmlosen) Bakterienkulturen „Bioterrorismus“ vermutete. Bei Peter Els ist es der Hund, der stirbt, und die Homeland Security, die wegen seines Labors einen ähnlichen Verdacht hegt. Els flieht vor der vermuteten Bedrohung, irrt in der Folgezeit relativ ziel- und motivationslos durchs Land, während der Erzähler von seinem Leben berichtet, von seiner ersten Liebe Clara, die ihn zum Musikstudium bringt und recht abrupt sitzenläßt, von seiner musikalischen Entwicklung im Zeitalter der Avantgarden, der Ehe mit einer Sängerin, die sich für eine bürgerliche Karriere als Lehrerin entscheidet und ihn mit Tochter Sara verläßt, von der spektakulär-skandalösen Zusammenarbeit mit dem Schaumschläger und Dramaturgen Richard Bonner, der Els’ Hauptwerk entspringt. Die Arbeit an und die Aufführung der chaotischen Multimediaoper „Der Strick des Voglers“ über das Täuferreich von Münster, das 1535 mit einem Blutbad endete, fällt indes mit der Belagerung und Erstürmung der Davidianersekte in Waco zusammen, was die Sache sensationalisiert, Els aber so ernüchtert, daß er seine Karriere als Komponist abbricht.
Viele der Episoden, die Powers ineinanderschachtelt, lohnten zweifellos das Erzählen. Das Buch als solches leidet jedoch an dem unterschwellig spürbaren Versuch, all das in seiner Gesamtheit mit bedrohlicher „Bedeutung“ zu schwängern, und der schieren Masse der pompösen und gleichzeitig hilflosen Beschreibung von Musik. Eine herausstechende und charakteristische Ausnahme ist die mitreißende und anrührende Geschichte der Entstehung von Oliver Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“ im Görlitzer Kriegsgefangenenlager 1941: Hier, wiewohl an der Grenze zum Kitsch, erwacht die Musik (die es in diesem Fall ja auch wirklich gibt) tatsächlich zum Leben, nicht zuletzt allerdings dank Rebecca Rischins Buch „For The End Of Time“, auf das Powers ausgiebig zurückgreift.
Vielleicht läßt sich das Problem so zusammenfassen: Der Leser fragt sich 492 Seiten lang, was ihm der Autor eigentlich sagen will – was nicht weiter schlimm wäre, wenn man nicht beständig das Gefühl hätte, er wollte einem etwas ungeheuer Wichtiges und zugleich monströs Banales sagen –, kämpft sich derweil durch Meere von Schaumstoff und bekommt schließlich ein reichlich banales, Butch-Cassidy-&-Sundance-Kid-mäßiges Finale hingeknallt, das aus dem Ganzen die Luft rausläßt wie aus einem Gummiballon. Freilich ist Belletristik im besten Falle ein Zaubertrick, aber ein bißchen mehr Zauber und weniger Schwurbel zu „großen Fragen“ und „großen Themen“ möcht’s dann schon sein. Dann hätten sich hieraus sicherlich vier oder fünf ganz hübsche Romane machen lassen.

geschrieben Ende Oktober 2014 für KONKRET