Die Gegenwart, schrieb Vladimir Nabokov einst, sei nur die
Spitze der Vergangenheit, und eine Zukunft existiere nicht. Merkwürdig, daß
sich der Mensch seiner Vergangenheit oft erst entsinnt, wenn die
Zukunftserwartungen rein statistisch auf unberechenbare Tagen, Wochen, Stunden
zusammengeschrumpft sind – aber irgendwie auch logisch, schließlich soll das
Leben immer irgendwann besser werden, angeblich, und die Erkenntnis, wie gut es
einmal war, daß es überhaupt war und nicht sein wird, gilt modernen
Vorwärtsstrebern als verdächtig-nostalgische Verweigerungshaltung.
Mit achtzig spielt das keine Rolle mehr, da ist es Zeit,
sich zu erinnern, und Agata, gerade achtzig geworden, beschließt, mehr zu tun
als nur daran zu denken, was war: „Ich fahre nach Italien.“ Von dort, aus der
Kleinstadt Tarni, ist sie vierzig Jahre zuvor mit ihrem Mann Mario und den
Kindern Elsa und Guido nach Argentinien ausgewandert; jetzt will sie die
verlorene Heimat zumindest wiedersehen, mit diffusem (oder ohne) Ziel. Sehen,
was sich verändert hat, wichtiger: was noch da ist. Menschen spielen dabei
emotional (zumindest scheinbar) keine große Rolle, es geht um Orte, Situationen,
Szenen, Dinge, die aufgeladen sind mit Erlebnissen. Gibt es das Haus noch, die
Fabrik, den Walnußbaum (dessen Krone das letzte war, was sie damals sah)? Nein,
alles ist anders, zerstört, vergessen. Ein Schlüsselmoment ist das Wiedersehen
der Stelle am längst gesprengten Stauwehr, wo einst die Menschen im Fluß
badeten. Agatas leise Verzweiflung über deren Verschwinden überträgt sich auf
den Leser, und spätestens jetzt spürt und versteht man, worum es hier geht:
tatsächlich um eine Weigerung, den Versuch, sich sein Leben nicht nehmen, es
nicht verwehen zu lassen in der Raserei der Welt. Gibt es mich selbst noch?,
lautet die eigentliche Frage.
Für Antonio Dal Masetto ist die Geschichte nicht beliebig
gewählt. Er ist selbst 1938 im norditalienischen Intra (das Anagramm ist leicht
zu erkennen) am Lago Maggiore geboren und als Zwölfjähriger mit den Eltern nach
Argentinien ausgewandert. Und es ist nicht sein erster Roman zum Thema: In „Als
wäre alles erst gestern gewesen“ (2008 auf deutsch erschienen) erzählte Agata
von ihrem Leben bis zur Auswanderung (der folgenden Schiffspassage widmet sich
ein kurzes, höchst intensives Kapitel in diesem Buch); diesmal „läßt“ sie sich
erzählen, und der „literarische Sohn“ (der sich als solcher nicht zu erkennen
gibt) folgt ihren Bewegungen, Blicken und Gedanken mit außergewöhnlicher
Einfühlsamkeit und ebenso unüblicher Diskretion. Diese Erzählhaltung ist ein
meisterhafter Seiltanz; wir erfahren, was Agata sieht und hört, wohin sie geht
und was sie tut; wir erfahren auch, daß sie an etwas denkt, daß sie eine oder
(gleich zu Beginn) „die“ Idee hat – aber was sie denkt, worin die Idee besteht,
teilen uns nur ihre wenigen Worte mit, und meistens nicht einmal die. Das füllt
die beiläufigen Dialoge, die ganze ruhige, scheinbar unspektakuläre, nüchtern,
unaufgeregt, geradezu stoisch erzählte Geschichte mit Spannung, und es macht
sie zugleich rätselhaft und offen, als könnte man hineinschlüpfen in diese
Person, die einem so nahe ist und die man dennoch nicht fassen kann, um sie mit
den eigenen Erinnerungen und Gedanken zu füllen, in dem sicheren Wissen, daß es
die ihren sind.
Mit eitler Nostalgie hat das aber nichts das geringste zu
tun, denn Agata erlebt nicht nur vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an die Kälte und
Leere der Gegenwart; es schleichen sich bei ihren Ausflügen in die Gegend
andere Erinnerungen ein, die sie bereitwillig aufblühen läßt, an Faschismus und
Krieg, Gewalt, Unmenschlichkeit und Grausamkeit, mit denen sie beim Besuch
einer Ausstellung von Folterinstrumenten und des „Denkmals der 42 Märtyrer von
Fondotoce“ konfrontiert wird, die sich in harmlos beginnenden und sich rapide
intensivierenden Episoden verbinden mit dem Schrecklichen der Gegenwart, dem
Flüchtlingselend, dem bis zum Mord reichenden Haß und der Verachtung, mit denen
nicht nur die Menschen in Italien Einwanderern begegnen, was Agata in einer
besonders beeindruckenden Szene erlebt, als ein afrikanischer Straßenhändler
„scherzweise“ von jungen Burschen aus der Stadt gehetzt wird und sich in den
See flüchtet. „Er bewegte lediglich die Arme, um an der Oberfläche zu bleiben,
eine undeutliche Gestalt, die sich mit den Wellen auf- und abbewegte. Agata
fragte sich, was er wohl sah, was er dort draußen im Dunkeln fühlte, mit den
Lichtern der Ortschaft vor sich und den Leuten, die ihn wie von einer Tribüne
aus anstarrten. Was ging durch diesen Kopf eines Einwanderers, eines
Heimatlosen? Ein schwarzer Junge, der von weit her gekommen war, aus einem
warmen Land Afrikas, allein in eine kalte Bergregion im Norden, ausgestoßen aus
der Welt, ohne jede Zugehörigkeit, der Zuflucht suchte im eisigen Wasser eines
Sees, um der Gewalt zu entgehen.“ Es ist eine der wenigen Passagen des Buchs, deren
Symbolik so eindeutig ist, die unmittelbar anrühren (oder erschrecken), aber
selbst hier wird kein Pathos spürbar, nur Bedeutung, die sich wiederfindet in
Agatas Gesprächen mit der jungen Silvana, die sie bei ihren Ausflügen
begleitet, woraus sich eine spürbare, nie definierte Freundschaft entwickelt,
die ihr von den so individuellen wie typischen Problemen mit ihrem Mann
berichtet, in anderen Begegnungen, Beobachtungen, einem tödlichen Unfall, der
„Hinrichtung“ eines Vogels, einem Diebstahl, der Suche nach einem vergrabenen
Kindheitsschatz, einer unangenehmen Episode im Haus einer Verwandten, auch und
vor allem in dem Brief, den Agata an ihre Familie schreibt und von dem wir
wörtlich nichts erfahren, nur wie er seine Bedeutung ändert: Zunächst scheint
es, als könnte sie nichts von dem beschreiben und mitteilen, was sie erlebt.
„Und auf einmal geschah etwas. Sie erkannte ihren eigenen Brief fast nicht
wieder. Es war ihre Schrift, doch hatte sie einen anderen Text vor sich, hatte
den Eindruck, Sätze zu lesen, die jemand anders geschrieben hatte. Während des
Lesens entdeckte sie, daß in ihrem Brief viel mehr steckte, als sie
festgehalten zu haben glaubte. (…) Was sie als nicht greifbar empfunden hatte,
hatte eine Form bekommen. Was sie zu sagen versucht und dann abgebrochen hatte,
stand da. Es war, als wären die Worte, die auf diesen Blättern standen, gereift
und hätten sich im Laufe der Tage mit Sinn gefüllt.“ Das ist das Geheimnis
nicht nur des Briefs, sondern des ganzen Buchs, das ein stilles, kleines,
unauffälliges ist, aber als eines der schönsten, beeindruckendsten und
wiederlesenswertesten im Gedächtnis bleibt, die der Autor dieser Zeilen in den
letzten Jahren gelesen hat.
geschrieben Anfang März 2010 für KONKRET
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