Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die sich noch an Margo
Guryan erinnern. Es dürften nicht allzu viele sein, die aber seufzen um so
wohliger, wenn sie zufällig mal wieder „Sunday Morning“ lauschen und der
beliebige Tag sich in einen Idealsonntag verwandelt – was besonders gut geht,
wenn die Welt unter einem Plumeau aus weißem Samt schlummert. Dann gerät die
Zeit sanft ins Schweben und verharrt, und das müßige Gehirn erschlafft und
verschiebt all die wichtigen Pflichten – Steuererklärung machen,
Beziehungsstrategien entwerfen, sich eine Meinung zu Griechenland bilden, das
neue Bob-Dylan-Album hören usw. – auf einen fernen Sanktnimmerleinstag.
Ach ja, die Zeit und die Erinnerung: Seit bald fünfzig
Jahren geistert Margo Guryans Stimme durch die Anderwelt der Tagträumer, jung
bis zur Kindlichkeit, entspannt-naiv und immer ein wenig unsicher in der
Intonation, weil sie nicht „performt“, sondern direkt aus der Seele (oder
schlicht: aus der unmittelbaren, unaufmerksamen Aufmerksamkeit) singt. Und
dabei hat sie sich nie verändert, wie sich „performende“ Stimmen im Ohr
verändern, was auch an Margos Weigerung, sich in den „Betrieb“ zu begeben,
gelegen haben mag – sie wollte weder Manager, Agenten, Anwälte, Booker noch
sonstige Bestimmer über und neben sich dulden, ging nicht auf Tour und ließ
ihrer ersten Platte keine zweite folgen. Sie löste sich sozusagen auf.
Vielleicht noch schöner als sich an Margo Guryan zu erinnern
ist es, unwillkürlich an sie erinnert zu werden, wenn unvermittelt eine ähnlich
verträumte, träumerische, den Zeitläuften enthobene Stimme durch die Räume
schwebt, von der man spontan weiß, daß kaum jemand sie bemerken wird, die
wenigen, die es tun, sich aber nicht gegen das frohe Lächeln wehren werden
können, wenn sie in vielen Jahren wieder erklingt und der Tag sich in ein
Plumeau aus weißem Samt kuschelt.
Jessica Pratt hat wahrscheinlich auch noch nie von Margo
Guryan gehört (sie ist 1987 geboren), aber sie ist so ein Fall: aufgewachsen in
einem von den Eltern absichtslos mit Tim Buckley, The Gun Club und anderen
Abseitigkeiten beschallten Nest, nahm sie mit vierzehn eines Tages die von
ihrem Bruder weggelegte Stratocaster-Gitarre in die Hand und vertrieb sich ein
paar Wochen lang die Zeit damit, das gesamte zweite T.Rex-Album (für Nerds:
„Electric Warrior“) spielen zu lernen und frühe Marianne-Faithfull-Platten
mitzusingen. Und dann schrieb sie eigene Songs, ohne damit irgendein Ziel zu
verfolgen, ohne sie „performen“ zu wollen – Miniaturen verträumter Tage,
ungezwungene Meditationen über Dinge, mit denen man sich nur beschäftigt, wenn
man sich mit nichts beschäftigen muß: Wasserfarben, blaue Geranien, solche
Sachen.
„Fachleute“ nennen so eine Musik gerne „Freak Folk“, weil
sie nirgendwo hineinpaßt, nichts erreichen will, weder Ziel noch Funktion hat,
außer die Zeit sanft zum Schweben und Verharren zu bringen. Die Aufnahmen auf
Jessicas erstem Album lagen sechs Jahre lang herum, ehe jemand auf sie
aufmerksam wurde (weil ihr Freund ein paar davon auf Facebook postete). Ihr war
das wahrscheinlich ziemlich egal, gesungen, gespielt und aufgenommen waren sie
ja schon, mit einem alten Tonbandgerät übrigens, was fast ein wenig nach
Klischee riecht, aber so ist’s nun mal.
Das alte Tonbandgerät darf auch auf ihrem zweiten Album
diskret rauschen und brümmeln, es darf sich auch mal (noch so ein
Fast-Klischee) eine Gleichlaufschwankung erlauben. Das lenkt nicht ab von ihrem
kristallinen, wassergrünen Gitarrenspiel, von ihrer federleichten, die Trauer
der Welt als Hauch in sich tragenden Stimme, den seltsamen, verschrobenen
Harmoniefolgen, durch die ihr Gesang weht wie ein verlorener Luftballon durch
Wolken, Nebelschwaden und den strahlend blauen Himmel.
Die Geschichten, die sie erzählt, bleiben meist ungreifbar,
selbst wenn und obwohl es um so Handfestes wie Verlassen und Verlassenwerden
geht: „Deep inside my lonely room/ I cry the tears of never knowing you“ –
besser kann man das nicht ausdrücken, denkt man, ehe man bemerkt, daß man gar nicht
sagen kann, was „das“ ist. Aber da ist man schon verzaubert, verklärt und aller
Schwere entledigt, geläutert und seltsam glücklich, wenn am Ende selbst die
Stille zu singen scheint und die Welt, die sich unbemerkt aufgelöst hat, aus
dem Tagtraum neu ersteht.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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