Es gibt Zeiten, da wird es plötzlich still. Da erwacht man
vormittags in einen Tag hinein, der angeblich schon läuft, und hat beim ersten
Blick aus dem Fenster das Gefühl, dieser Tag sei stehengeblieben, so wie der
Wecker und die Küchenuhr, die man manchmal nicht aufziehen mag, weil sie ja doch
jeden Tag das gleiche erzählen.
Da bleibt man dann stehen und betrachtet ihn, diesen stehengebliebenen
Tag, in dem offenbar gar nichts passiert, und während man sich fragt, ob man
vielleicht über Nacht in ein Paralleluniversum transferiert worden ist oder die
Grüne Wolke verpaßt hat (das, liebe Leser, müßt ihr jetzt selber
recherchieren), wird einem klar, daß der Tag gar nicht wirklich stehengeblieben
ist (weil sich etwas bewegt: eine überdrüssige Amsel, die auf irgendeinem zähen
Zeug herumpickt, auf das sie offensichtlich keine Lust mehr hat). Sondern daß
dort draußen eine Jahreszeit herumlungert, die da eigentlich nichts mehr
verloren hat und auch nichts mehr taugt, so ähnlich wie die Mango im
Kühlschrank, die man unvorsichtigerweise vor Wochen gekauft hat (weil man doch
mal wieder auf die neuerdings so populäre Lebensmittelhändlerlüge „eßreif“
reingefallen ist, die die fiesen Lügenlebensmittelhändler auf alles draufkleben
und -kritzeln, was drei Wochen vor Beginn der Reifung vom Baum gerissen worden
ist) und die nun traurig vor sich hintrocknet, weil man sich nicht überwinden
kann, ein Stück davon abzusäbeln und darauf herumzupicken wie die Amsel auf dem
Ding, das sie vielleicht für einen Wurm hält und das aber auch ein Kaugummi aus
dem Sommer 2011 sein könnte. Man kann sie aber auch nicht in den Kompost
werfen, weil man das mit Lebensmitteln nicht tut und so weiter und so fort und
pipapo.
Und während man so sinniert, bemerkt man, daß das opake,
starrsinnige Grau da draußen langsam dunkler wird, und dann haut er schon
wieder ab, der Tag, und läßt nichts zurück außer leicht schmerzender, in unbestimmbare
Ferne gerichteter Sehnsucht und eben der Stille, die einem plötzlich wieder bewußt
wird und von der man vermutet, daß sie so ähnlich wirkt wie Aspik oder Baumharz
– noch ein paar solche Tage, denke ich, dann werde ich mich selbst als
Bernstein am Fensterbrett ausstellen können, und Passanten werden mich flüchtig
betrachten und sagen: Tja, kein Wunder, wenn der Kerl in sein Leben keine
Dynamik hineinbringt.
Und dann kommt ein neuer Tag, und die Sonne strahlt, und
trotzdem geht die Stille nicht weg, sitzt man wieder da und läßt die Dinge und
Gedanken durch den inneren Nebel ziehen wie verirrte Pendler auf einer
nutzlosen Landstraße zwischen Nichts und Nirgendwo, bis die Stille plötzlich
ein fieses Grinsen aufsetzt und einem ein Gesicht zeigt und man sich an den
Geburtstag erinnert, den man an diesem vorvorletzten Februartag feiern wollte
und der aber nicht stattfindet, weil es den Menschen, mit dem man da auf sein
zweites Vierteljahrhundert trinken und lachen und sonst was wollte, nicht mehr
gibt. Und man hört ein Echo, hört sich selbst fragen, damals, im unwirklich
fernen Februar vor zwei Jahren: Was soll aus uns denn werden? Und man hört sie
ins perlende Sonnenglitzern hinein antworten, die Stimme, die es nicht mehr
gibt: „Das ist egal. Wichtig ist nur, was wir sind.“
Wundert es einen noch, daß all die Themen, Ereignisse,
Daten, Meinungen, Fakten, die Bewertungen, Folgerungen, Einschätzungen,
Mahnungen, die Witze und Beschimpfungen, großen Worte und kleinen Bemerkungen,
die man unbedingt oder wenigstens anlaßweise in die Welt setzen wollte, die
Sachen, die man anpacken, erledigen, zersägen oder zusammennageln zu müssen
glaubte, damit was weiter oder überhaupt geht, daß die irgendwo hinter den
Horizont gerutscht sind und die Welt groß, leer und strahlend sinnlos vor einem
liegt?
Das ist das Schreckliche und das Schöne am Tod (was immer
man darunter versteht, und das gilt natürlich nur für die Überlebenden, die ja
auch die einzigen sind, die er betrifft): Schön, daß er einem bewußt macht, was
im Leben wichtig ist, daß unreife Mangos, kaputte Küchengeräte, Zukunftspläne, Küchenuhren,
beschissene Fußballtabellen und selbst der Krieg der NATO gegen Rußland
lächerliche Nichtigkeiten sind gegen die Nähe, den Witz, die Zärtlichkeit eines
geliebten Menschen. Schrecklich, daß einem das meistens erst und genau dann
einfällt, wenn es den geliebten Menschen nicht mehr gibt, weil ein anonymer
Lastwagenfahrer eine Hundertstelsekunde lang mit seinen Gedanken irgendwo war
(oder sonst was). Und man plötzlich nicht mehr weiß, was man statt dessen tun
sollte. Was man überhaupt noch tun sollte. Außer am Fenster zu sitzen, in
Bernstein zu gerinnen oder notfalls auf irgend etwas Zähem herumzuhacken und
sich zu wünschen, die Hand festzuhalten, die es nicht mehr gibt.
Aber das ist das Schreckliche und Schöne an der Gegenwart:
Schrecklich, daß sie alles, was sie soeben noch erfüllt und geprägt und
bestimmt hat, liegen und fallen und in die Erinnerung entschwinden läßt. Und
schön, daß es dort für immer bleibt.
Und sowieso: sind das nur Binsenweisheiten, die ebenso
dorthin entschwinden, wo sie hingehören, wenn Föhnsturm und Frühlingsregen die
überständige Jahreszeit wegblasen und -waschen und hinter dem Horizont der
großen, stillen, leeren Welt eine neue Gegenwart hervorblüht, von der man noch
nichts weiß, nur das: daß sie schön sein wird. Nein: ist.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen