Sonntag, 20. September 2015

Belästigungen 18/2015: Wer hier kein Flüchtling ist, der hebe die Hand!

Ich habe in meinem Leben eine ganze Reihe von Menschen kennengelernt, die in irgendeiner Hinsicht das sind oder waren, was man heutzutage als Flüchtlinge bzw. Migranten bezeichnet. Der Unterschied übrigens ist kein geringer: Wer vor Krieg, Vernichtung, Hunger, Elend flüchtet, ist laut Genfer Flüchtlingskonvention kein Flüchtling, sondern ein Migrant und damit ohne Rechtsanspruch auf Asyl.
Das klingt ein bisserl trocken, drum sei es kurz illustriert: Ein beliebiger Bewohner eines beliebigen Landes, das von (zum Beispiel) deutschen Konzernen ausgebeutet und dessen Umwelt dabei so gründlich zerstört wird, daß es als unbewohnbar gelten kann, hat kein Recht auf Asyl im Land der Täter und Profiteure, weil er (da sind die Grenzen ausnahmsweise fließend) Elends-, Umwelt- oder Wirtschaftsflüchtling und damit kein richtiger Flüchtling ist. Schießt man ihm im Rahmen eines Krieges mit deutschen Waffen die Familie tot, zerbombt sein Haus und droht ihn selbst totzuschießen (möglicherweise auch bloß „kollateral“), ist er ebenfalls kein richtiger Flüchtling – dafür müßte er erst einmal ganz persönlich „verfolgt“ werden, und zwar aus ganz spezifischen Gründen, zu denen die Gefahr des Verhungerns und Totgeschossenwerdens nun mal nicht gehört.
Deshalb gibt es so viele Flüchtlinge, von denen höchstens zwei Prozent „richtige“ Flüchtlinge und alle anderen „Wirtschaftsflüchtlinge“, „Asylbetrüger“ und sonst was sind, wogegen „Bild“ hetzen darf, worauf Politiker schimpfen dürfen, was „Patrioten“ und „Asylkritiker“ anzünden dürfen, was Polizisten und Soldaten mit Gewalt aus dem Land befördern und irgendwo abladen dürfen, was man notfalls auch einfach ersaufen oder anderweitig verrecken lassen darf, damit es bloß nicht darum bittet, deutsches Wasser trinken und deutsche Äpfel essen zu dürfen: Wo bitte schön wären denn da die „Verfolger“ (wenn man mal deutsche Politiker, Hetzblätter, „Asylkritiker“ und Vollzugsbeamte außer acht läßt)? Und haben diese Leute überhaupt eine „politische Überzeugung“ (oder notfalls eine „Hautfarbe“), wegen der man sie „verfolgen“ könnte (wie etwa deutsche Altnazis, die deshalb nach dem Zweiten Weltkrieg selbstverständlich „richtige“ Flüchtlinge waren bzw. sind)?
Auf solcherlei Definitionen und Begriffe – darüber sind wir uns hoffentlich einig – sollte man als vernünftiger Mensch pfeifen. Wer flüchtet, ist ein Flüchtling, basta. Und weil ihm dieselbe UN in einer anderen Konvention (die sogenannten „Menschenrechte“) immerhin ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zugesteht, darf er flüchten, wohin er will oder muß, und wer ihn daran hindert oder gar körperlich versehrt (sei es durch Zwangsmaßnahmen bei der „Abschiebung“, sei es durch die Errichtung von Zäunen, sei es durch bloße Untätigkeit und angeblich hilfloses Zuschauen), der ist ein Verbrecher, basta.
Ich kannte und kenne, wie gesagt, mancherlei Flüchtlinge. Einen Nigerianer, der in München studierte, weil er das in Nigeria nicht durfte. Einen Österreicher, der seit seinem dritten Lebensjahr in Bayern lebte, nach vierzig Jahren wegen schlechter Chancen auf dem Arbeitsmarkt ausgewiesen wurde und aber nicht ging, sondern fortan als illegaler Obdachloser auf der Straße und im Wald vegetierte. Ostdeutsche, denen man zugunsten westdeutscher Kapitalbesitzer die Lebensgrundlage entzogen hatte. Einen Südafrikaner, der von dort nach Österreich, München, Italien, Australien, Indien, Bali flüchtete, wegen einer nicht genehmen Liebesbeziehung „abgeschoben“ wurde, schließlich in London landete und meinte, er wolle endlich nach Hause, wisse aber nicht, wo das sei. Einen Münchner, der es mit dem Geschäftemachen übertrieben hatte und aus Furcht vor Strafverfolgung nach Hongkong flüchtete, weil sich die Leute da bekanntlich sowieso williger ausbeuten lassen (als er es dort erneut übertrieb, „schob“ man ihn nicht etwa „ab“, sondern steckte ihn ins Gefängnis).
Ich kannte einen ehemaligen Sowjetsoldaten, der nach dem Krieg in Deutschland verlorenging und in einem Münchner Wohnheim landete, von wo man ihn nicht mehr wegbekam, weil er keine bekannte Sprache sprach und verstand und möglicherweise taubstumm war. Ich kannte einen Ami, der es für eine tolle Idee hielt, in Kuba Pornohefte zu verkaufen. Die freundlichen kubanischen Behörden beschlagnahmten seine Ware und ließen ihn laufen, gaben ihm allerdings kein Geld für den Rückflug; seitdem streunert(e) er am Malecon herum.
Ich weiß von dutzenden Leuten, die aus München flüchten mußten, weil sie hier keine bezahlbare Wohnung fanden oder weil sie von Arbeitsvermittlungsbehörden oder „Arbeitgebern“ zum Wegziehen gezwungen wurden; ich kenne auch Leute, die nach München flüchten mußten, weil es anderswo noch wesentlich schlimmer ist. In ganz Bayern, Deutschland, Europa wimmelt es nur so vor Zwangsmigranten, die, vom Kapitalismus entwurzelt, von einer Kurzzeitbleibe zur nächsten hetzen und sich teilweise auch noch einbilden, sie täten das freiwillig.
Kein ganz neues Phänomen: Mitte des 19. Jahrhunderts wanderte halb Irland nach Amerika aus, um nicht zu verhungern (man stelle sich vor: zwei Millionen „Wirtschaftsflüchtlinge“ in vier Jahren!). Ein nicht geringer Teil meiner eigenen Familie übrigens flüchtete zu jener Zeit ebenfalls über den Ozean, aus demselben Grund. Mein Urgroßvater hingegen wurde 1918 von Freikorps-Faschisten in einer Laimer Kiesgrube „standrechtlich“ erschossen, weil er Milch „geschmuggelt“ hatte – immerhin war er wohl eine Art Kommunist, hätte also Chancen gehabt, als „richtiger“ Flüchtling anerkannt zu werden, wenn es denn eine Fluchtmöglichkeit gegeben hätte.
Und wer länger irgendwo bleibt, kommt da noch lange nicht her. Schon gar nicht aus Bayern, das seit gut 8.000 Jahren ein Ein- und Auswanderungsland par excellence ist: Bandkeramiker und Glockenbecherleute (nicht zu verwechseln mit heutigen Glockenbachhipstern!), Hallstätter, Kelten, Walsche, Boier, Germanen, Romanen, Markomannen, Langobarden, Alemannen, Ostgoten, Thüringer, Franken, Böhmen, Mährer, Schlesier, Banater, Donauschwaben und alle möglichen anderen kamen und gingen – das heißt: flüchteten und wurden vertrieben, und von manchen davon weiß man nicht mal, ob es sie wirklich gab, wer sie waren und wohin sie verschwunden sind. Eine wüstere Mischpoke von Flüchtlingen aus sämtlichen Himmelsrichtungen als das, was man heute „Bayern“ oder „Bajuwaren“ nennt, ist überhaupt nicht vorstellbar. Die einzigen, die irgendeine Art von „Ureinwohnerschaft“ für sich beanspruchen könnten, wären die Neandertaler, und von denen stammt wahrscheinlich nicht mal unser Innenminister ab.
Ich habe in meinem Leben buchstäblich unzählige Flüchtlinge kennengelernt. Und Nachfahren von Flüchtlingen, die wiederum zu Flüchtlingen wurden oder andere zu Flüchtlingen machten. Und wenn mich jemand fragt, ob ich nicht auch andere Menschen kenne – keine Flüchtlinge, ohne den geringsten „Migrationshintergrund“ –, dann fällt mir dazu nur eine Gegenfrage ein: Andere Menschen? Was für andere Menschen sollte es denn geben?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Freitag, 18. September 2015

Frisch gepreßt #347: Herrenmagazin "Sippenhaft"


„Wenn man sich zwanzig, dreißig Jahre mit Rockmusik beschäftigt, passiert es nicht mehr oft, daß man von einer Band, einem Album spontan so begeistert ist, daß man weiß: Das wird mir bleiben, für Jahre, vielleicht für immer, wird mich auf ewig an den gewaltigen Moment erinnern, in dem ich es zum ersten Mal, an die verzauberten Tage und Wochen, in denen ich nichts anderes gehört habe.“ Diese Zeilen äußerte ich vor gut fünf Jahren anlässlich des zweiten Herrenmagazin-Albums über deren erstes, noch mal zwei Jahre älter und damit im branchenmäßigen Sinne längst „durch“, in meiner musikalischen Grundausstattung aber ebenso unverzichtbar wie Gerste im Bier, Käse auf der Pizza, nein: sagen wir Wasser bzw. Hefe, ohne die geht’s wirklich nicht.
Es verging seitdem kein Jahr ohne mindestens eine Herrenmagazin-Phase, in der ich tage-, wochenlang nichts, wirklich gar nichts anderes hören will und kann, weil nichts annähernd herankommt, nichts vergleichbar ist mit diesen Wunderdrogen, die Rausch-, Heil- und Suchtmittel zugleich sind. So wurde aus einer, zwei, dann drei Platten eine Band fürs Leben, auf die man sich verlassen kann und konnte, die mit dem Urschreiknall „Atzelgift“ mit atemloser Wut, atemraubender Trauer und einer himmlisch-höllischen Weltexplosion von Gitarren und Schlagzeugen selbst die frühen Ton Steine Scherben aus dem Hirn fegte, auf „Das wird alles einmal dir gehören“ mit Geschichten von niederschmetternder Bildmacht und das Universum füllenden Melodien (für die die passenden Stadien leider immer noch nicht gebaut sind oder sich füllen mögen) seitwärts über sich hinauswuchs. Die mit „Das Ergebnis wäre Stille“ auf eine Weise poetisch und musikalisch reifte, wie das zuvor höchstens den Manic Street Preachers mit „Everything Must Go“ gelang, nein: passierte, weil so etwas niemand planen oder bewußt wollen kann.
Jetzt kommt der vierte Schritt, der vierte Gipfel in dem seltsamen Gebirge der deutschen Rockmusik, das ansonsten überwiegend aus Wanderdünen besteht, und längst ist jede Furcht verflogen, Herrenmagazin könnten mit einem schlimmen Patzer rückwirkend einreißen, was sie in Hirn und Herz dessen, der sie zur Lebensdefinition so dringend braucht wie die eigenen Tagebücher, aufgebaut haben. Längst weiß man: Die können nichts falsch machen, allerhöchstens dauert es ein wenig, bis man alle Tiefen, Winkel, Nischen, Fein- und Einzelheiten erkundet hat, sie sich zu einem großen Ganzen formen und verbinden, das erneut weit mehr erfüllt und verkörpert als einen Sommer, ein Jahr.
Typisch dafür sind die Texte: Die kann und wird man größtenteils nie verstehen, aber man begreift sie von der ersten Zeile an, weil die zwischen Distanz, Zorn, Analyse und brachialen Reflexen changierenden Couplets, die Unbedarften wie Resultate einer eigentümlichen soziologisch-lyrisch/subjektiven Cut-up-Technik erscheinen mögen, in jedem Gemüt und/oder Gedächtnis ein Häkchen finden, an dem sie sich einhaken und das sie assoziativ und sozusagen symbiotisch mit erleuchtendem, befreiendem, oft hochromantisch getöntem Sinn erfüllen.
Musikalisch geht die Reife weiter. Die typischen Schreddergitarren, der aus Kraut-Motorik, Punk-Ekstase und schierer technischer Brillanz geborene Schlagzeugdonner sind nach wie vor zu finden, aber nicht mehr als alleinige Wesensmerkmale und nicht mehr in unraffinierter Urform, sondern entwickelt, erwachsen in ein Biotop der Perfektion, in dem es kein Unkraut gibt, nur Wunder und Schönheit. Vielleicht bestes Beispiel: der Titelsong, bei dem die hohe (und von kaum jemandem beherrschte) Kunst des Weglassens so weit getrieben ist, daß die Zeit stehenbleibt und zur Ewigkeit wird.
Nein (schrieb ich damals), ihre Musik ist für Herrenmagazin kein Beruf, selbstverständlich auch kein „Hobby“, sondern das Leben. Das ist es wahrscheinlich, was diese Musik und diese Band so einzigartig und einmalig macht: daß daran nichts konstruiert, gewollt, bemüht klingt, keine Vorlagen, Vorgaben, „Elemente“ verarbeitet oder eingebaut werden, sondern alles natürlich entsteht, wächst und fließt. Deshalb wirken ihre Songs so entwaffnend und mitreißend: weil sie sich nicht anbiedern; du kannst sie hören, wenn du willst – aber mach dich, wie gesagt, darauf gefaßt, daß sie dich nicht mehr loslassen. Daß dich diese Band dein Leben lang begleiten wird, weil (ich zitiere eine Herrenmagazin-Zeile von 2010): „In mir trag ich alles / Was du dir vorstellen kannst.“
Aber hängen wir alles ein paar Äste niederiger: Wichtig an Herrenmagazin ist nicht ihre Genialität, ihre Bedeutung, ihre Wichtigkeit. Sondern die reinigende Kraft ihrer Songs. Sie räumen das Herz, die Seele, den Kopf frei, und egal wie schlecht es einem geht, bevor man sie hört – danach geht es einem besser. Herrenmagazin sind bloß vier Jungs, die Musik machen. Eine Band. Zufällig die beste, die ich kenne. Die um ihr Leben spielt, um euch, uns, allen, die ein Herz und ein Hirn haben, klarzumachen, was Rockmusik bedeuten kann. Nein: was sie bedeutet. Vielleicht nichts, notfalls alles.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Montag, 7. September 2015

Frisch gepreßt #346: Ultravox "Vienna"


Zu einer Jahreszeit, wo die Dächer von den Häusern schmelzen und sich der Homo sapiens mehrheitlich in Flüssen und unter Wasserfällen tummelt, damit es ihm nicht ähnlich ergeht, das vierte (oder – wir kommen noch darauf – erste) Ultravox-Album zu hören oder zu veröffentlichen, ist ungefähr so wie … Ultravox sein, sagen wir mal. Die haben das damals nämlich genauso getan, 35 Jahre und sechs Tage vor dieser Neuauflage, der ungefähr dritten, die wahrscheinlich (man weiß das im Post-Musikindustriezeitalter nie so genau) zu eben diesem Anlaß erscheint.
Und das war durchaus typisch Ultravox: antizyklisch, gegen alle Trends (und Jahreszeiten), zeitpunktmäßig heroisch daneben und zielstrebig in den Graben abseits der Moden und des großen Geschäfts. 1973/74 unter dem Namen Tiger Lily als Glamrockband gegründet (als Glamrock seit mindestens einem Jahr im Champagner-&-Koks-Kater höchstens noch dahinvegetierte), dümpelten sie ein gutes Jahr lang hinter der einzig noch mit Vollgas laufenden Schiffsschraube des Roxy-Music-Dampfers dahin, benannten sich ziemlich genialisch in Ultravox! um (mit dem Ausrufezeichen als Deutfinger in Richtung der damals enorm kultischen Deutschmotoriker und Kraftwerk-Ableger Neu!), ließen sich von Brian Eno und David Bowie entdecken und machten ein Debütalbum, das die Popwelt in ihren Grundfesten erschüttert und erneuert hätte – wenn es nicht gerade im tobenden Punksommer 1976 erschienen wäre. So: bekamen es ein paar Leute mit, solitäre Außenseiter in der nebligen Randzone zwischen Prog (halbvergoren), Punk (noch frisch, aber mit Haut vom Aufkochen), Glam (madig) und einer eigenartig-obskuren Szene von theatralischen Kunst-New-Wave-Leuten, die – schon damals auf einem Nebengleis herumrangierend – heute samt und sonders vergessen sind (typisches Beispiel: die famosen Gloria Mundi).
Das zweite Album „Ha! Ha! Ha!“ warf den alten Ballast ab und definierte eine alternative, gloriose Version von Punk (nun offiziell „New Wave“ genannt), die ohne Zweifel den Planeten aus den Angeln gehoben hätte, wenn selbiger in seinem Sex-Pistols-Rausch irgendwas davon mitbekommen hätte: ein epochales, unvergänglich aktuelles Meisterwerk von Verzweiflung, Raserei, Melancholie und Wut; ein Grundstein, auf dem niemand etwas errichten wollte (oder konnte). Die Band selbst auch nicht: Die ließ nun das „!“ weg und ihr etwas unentschlossenes Restmaterial auf „Systems Of Romance“ von dem Krautrockmagier Conny Plank bügeln (etwas glatt). Wieder kein Erfolg, kommerziell nicht mal unteres Mittelfeld. Das experimentierfreudige, aber wenig konsequente Label Island klappte die Kiste zu, Sänger John Foxx entschwand Richtung Elfenbeintürmchen, und die Früchte ernteten später andere (nicht zuletzt U2, übrigens).
Auftritt Midge Ure, noch so ein Mann zwischen den Stühlen, noch so ein Glam-Spätnachzügler (mit Slik), Punk-Nebendarsteller (mit den Rich Kids, nachdem er einen Job bei den Sex Pistols verbummelt und sich dafür deren Exbassisten Glen Matlock geholt hatte) und Enthusiast einer leicht pathetisch aufgeblasenen Version von Kraut-Elektronik und kontinentaleuropäischer Melancholie: Der übernahm den Laden, bastelte eine angekitschte lyrische Mittelstufenessenz von Foxx' enigmatischen Visionen, lud sie mit lastwagenweise Elektronik und dem musikalischen Äquivalent leerstehender römischer Säulentempel voll, saugte aus dem Ergebnis den verbliebenen Teig ab – und landete mit dem von der englischen Musikpresse eilig als „New Romantic“ etikettierten Ergebnis einen historischen Zufallsvolltreffer. Erste Andeutungen lieferte die Kooperation mit den Ultravox-Resten unter dem Namen Visage (mit „Blitz“-Clubchef Steve Strange als Galionsfigur), aber so richtig rund wurde die Sache erst (und nur) mit und auf „Vienna“.
Und auch das – kommerziell – nur durch viel Geduld: Im Sommer 1980 schipperten die neuen Ultravox mal wieder zielstrebig am Zeitgeist vorbei (der, angeführt von Bow Wow Wow und Adam & The Ants, mit Urwaldtrommeln durch die Großstadttäler zog). Erst die im tief verschneiten Januar 1981 erschienene gleichnamige Single – die ein witziger Schreiber später mit einem Zeichentrick-Nilpferd verglich („pompös, aber liebenswert“) – trampelte alle Türen nieder und verschaffte der fortan in Manierismus erstarrenden Band ein sicheres Auskommen für Jahre.
Und zwar zu Recht. „Vienna“ mag, im saftig brütenden Sommertreibhaus gehört, nach 35 Jahren immer noch so kalt, künstlich, kalkuliert, hohl und pathetisch klingen wie im Hochsommer 1980. Aber wartet nur den ersten novemberlich verregennebelten Sonntagnachmittag Ende August ab, und ihr werdet feststellen: Der Schein trügt, oder vielmehr: Der Trug scheint, majestätisch, strahlend grau, berauschend schön(lich).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Samstag, 5. September 2015

Belästigungen 17/2015: Erst fällt ein Schild, dann schrumpft die Stadt, und keiner weiß, was los ist

Eine Stadt ist ein ganz schön gewaltiges Konglomerat von Zeugs. Da kann schon mal was verlorengehen, ohne daß einer was merkt. Zum Beispiel ist mir vor vielen Jahren mal fast ein Straßenschild auf den Kopf gefallen, als ich an einer Kreuzung stand und auf Grün wartete. Es hing da so, als hätte es ein paar Maß zuviel getrunken und im Überschwang der rauschigen Lust eine Mutprobe unternommen, die typisch peinlich damit endete, daß es eben so rumhing und ächzte und mir bei einer vorsichtigen Berührung – pleng! – vor die Füße fiel.
Ich beschloß, dem Schild ein neues Zuhause zu geben. Vielleicht konnte man es (die Achtziger!) als originelle Salatschüssel oder ähnlich verwenden, und sowieso ist der Mensch nun mal ein Sammler. Seitdem steht das Schild im Keller.
Aus Gründen der Vorsicht – man weiß ja nicht, ob es sich dabei eventuell um ein Aneignungsdelikt handeln könnte und wann ein solches verjährt – möchte ich nicht verraten, an welcher Kreuzung sich dies abspielte (und vorsorglich gleich noch hinzufügen, daß der zweite Teil der Geschichte möglicherweise erfunden ist). Jedenfalls hat den Abgang des Schildes (wohin auch immer) offenbar nie jemand bemerkt, nicht mal ein kurzsichtiger Tourist, der ansonsten mangels Brille (es gibt ja noch drei weitere Schilder, aber in einiger Entfernung) nicht gewußt hätte, an welcher Kreuzung er sich befand, und seitdem auf der Suche nach einem Flughafen (den es damals noch nicht gab bzw. heute nicht mehr gibt), ziellos im Kreis herumirrte.
So geht das in großen Städten wie München auch mit anderen Sachen. Zum Beispiel Wohnungen, speziell solchen, die für normale Menschen bezahlbar sind: Die verschwinden andauernd, ohne daß es jemandem auffiele. Dann sind plötzlich keine mehr da, und dann finden es manche Leute sehr dringlich, neue zu bauen.
Auf den ersten Blick klingt das vernünftig: Bauwerke, die es nicht gibt, sollte man bauen, damit die Leute nicht auf der Straße herumkampieren müssen und durch ihren verwahrlosten Anblick den Fortgang des Aufschwungs stören und die Lebenswertigkeit der Stadt ankratzen. Zudem gibt es ja noch genügend idyllische Grün- und Brachflächen, Gärten, Höfe, Parks und historische Kleinhaussiedlungen, die man mit Betonriegeln vollstellen kann, vorzugsweise am Rand selbiger Lebenswertigkeit, damit das zusammengepferchte Elend ebenso außer Sichtweite bleibt wie das herumlungernde.
Aber dann fragt man sich doch mal: Wo sind eigentlich die x Fantastilliarden Wohnungen und insbesondere Sozialwohnungen, die in München in den letzten achthundert Jahren und vor allem seit dem letzten Weltkrieg gebaut wurden, hinverschwunden? Sind die etwa allesamt wieder zerbröselt und haben sich in Grünflächen verwandelt? Wieso ist die Stadt dann dermaßen gewachsen, und wieso stehen da so viele Häuser herum?
Das fragt man sich zum Beispiel, wenn man nachts durch einen Stadtteil geht – sagen wir mal Schwabing – und an schier endlosen Reihen prächtiger, wunderschöner, historischer Gebäude vorbeikommt. Die Frage ist aber leicht zu beantworten: Diese Häuser stehen leer. Da wohnen lediglich ein paar Computer und Telephone, und die sind nachts nicht in Betrieb. Und warum das so ist, weiß man ja auch: Wohnungen wie diese können sich Menschen nicht leisten. Das können nur Firmen; die haben genug Geld, weil sie den Menschen, die das Geld erzeugen, so wenig davon abgeben. Sie könnten auch in die vielen gänzlich leerstehenden, aus Spekulationsgründen hochgezogenen Bürohäuser an der Peripherie ziehen, aber erstens sind die ebenfalls nicht billig, und außerdem müssen die Firmen (Kanzleien, Agenturen, Büros etc.) ja repräsentativ protzen. Schließlich sind sie die Herren der Stadt und die Sieger im Wettbewerb und nicht die Menschen, die tagsüber, wenn sie Glück haben, ihre Computer und Telephone bedienen (!) dürfen.
Mit den Sozialwohnungen ist es ein bißchen anders: Die verwandeln sich. Und zwar in „normale“, d. h. überteuerte Wohnungen, wenn ihr Eigentümer – meistens eine Firma, die als Eigentümer schließlich nicht gezwungen werden darf, auf möglichen Profit zu verzichten – die Schmälerung seines möglichen Profits nicht mehr vom Staat ersetzt kriegt. Dann saniert die Firma hier und da herum, baut den einen oder anderen Duschtempel ein oder reißt das ganze Gelumpe ab und stellt einen neuen Luxusklotz dafür hin, in dem dann drei Viertel weniger Leute wohnen, die aber das Zehnfache an Miete blechen. Wieder fragt man sich: Wieso baut der Staat nicht gleich selber Häuser, anstatt unverschämten Firmen Geld zu schenken, damit sie das tun und ihm hinterher eine lange Nase drehen? Und wieder ahnt man die Antwort: Das kann er nicht, weil er nicht genug Geld hat. Das haben die Firmen, weil der Staat von ihnen keine Steuerzahlungen fordern will, damit sie nicht sauer werden.
So wird daraus eine Spirale und ein Wettlauf zwischen Hase und Igel, bei dem am einen Ende zehn neue Sozialwohnungen entstehen, während sich am anderen Ende zehn alte Sozialwohnungen in drei neue Luxuswohnungen verwandeln. Mittendrin stehen ganze Stadtteile voller grandioser Wohnungen leer, und am Rand sitzen ein paar Klugscheißer, die fordern, noch mehr Sozialwohnungen zu bauen, bis irgendwann der letzte Alpengipfel und die letzte niederbayerische Odelgrube mit Erzeugnissen des Wahnsinns, den man „postmoderne Architektur“ nennt, zugemüllt ist und der ADAC feststellt, daß im Ozean der Betonkisten nicht mehr genug Platz für neue Autobahnen ist.
Dann fällt möglicherweise mal jemandem ein Kanzlei- oder Agenturschild auf den Kopf, und er fängt das Denken an. Aber ehrlich: Hat das schon jemals was genützt?

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1 bis 400 sind in vier Bänden als Buch erschienen.


Freitag, 4. September 2015

Frisch gepreßt #345: The Legends "It's Love"


Das ist nicht nur im Sommer so, aber da besonders: daß einem das sogenannte Leben, sobald man sich den Adern und Organen der Stadt und der Welt nähert, mit metallischer, säurescharfer, grell blendender Härte entgegenknallt und einen anpeitscht, als wäre es und alles ein globaler Wettbewerb im Brüllen, Schlagen, Brettern. Als ginge es darum, mit allen Mitteln und einem sämtliche Sinne betäubenden Feuerwerk eine Sehnsucht zu betäuben, die im Grunde jedem und allem innewohnt, die aber offenbar irgendwie nicht hineinpaßt in den verbissenen Mechanismus, dem sich angeblich alles einpassen muß: nach Beständigkeit, Ruhe, Wiederkehr; danach, herauszufallen aus dem irren Rasen, am Rande liegenzubleiben, ohne deswegen von einem Hochhaus zu springen oder Amok laufen zu müssen.
Damit man merkt, wie leicht das geht, das Innehalten, Herausfallen, Liegenbleiben, Loslassen, braucht es Raum und Zeit. Leere, Stille, Einsamkeit, einen Himmel, an dem sich mal nichts rührt, eine Landschaft, durch die sich nichts bewegt. Außer ein paar Tönen, die der Wind wie Flocken ohne Ziel dahinweht. Schmilzt man hinein in diese Szenerie und wird ein Teil davon, stellt man fest, wie sich der Krampf löst, die Sorgen und Bestrebungen, Nöte, Ziele, Ansprüche, Forderungen, Pflichten hinauslaufen aus einem, als hätte jemand einen Stöpsel an der Ferse gezogen.
Manchmal muß auch was vermeintlich Schlimmes passieren, das einen gewaltsam herausreißt. Bei Johan Angergård, dem „Chef“ (nicht nur) der schwedischen Ein-Mann-Popband The Legends – die mit ihrem typisch schwedisch retropoppigen Debütalbum „Up Against The Legends“ fast das heiße Superding von 2003 geworden wäre, war der Anlaß für die fünfte Platte (und die erste neue seit sechs Jahren) (wie um zu beweisen, daß Klischees die konstanteste Konstante in der Geschichte der Menschheit sind, weil sie sonst ja keine Klischees geworden wären): eine Trennung. Klassiker: Lebensgefährtin wechselt Haus und Mann, Tochter bleibt dazwischen hängen; klingt nach Geschrei, Quälerei, nach „Wenn ich jetzt ein Musikinstrument in die Hand nehme, werde ich alles zerfetzen!“
Ist aber ganz anders und anders herum auch nicht die trübselig zelebrierte Sehnsuchtsmelancholieabrechnung, die sich selbst in den Sumpf zieht und andere Menschen dazu bringt, ihre Schuhe anzustarren. Sondern ganz wenig, bescheiden, fast unauffällig schön. Ein Album wie ein Himmel, an dem sich nichts rührt, bei dem man nicht mal sagen kann, ob er bleigrau oder strahlend blau ist, eine Landschaft, durch die sich nichts bewegt außer ein paar Tönen, Melodielein, die eine sanfte Brise herumflocken läßt.
Ein Album, das in der Welt, von der wir eingangs sprachen, nicht auffallen wird. Aber wem es auffällt, der fällt zumindest zeitweise heraus, bleibt liegen, läßt los und wird selbst zur schwebenden Flocke. Und wenn man nach dem (in irdischen Maßstäben gemessen) kurzen (sieben Songs!) Ausflug wieder zurückkehrt in den konkreten Sommer, hat sich einiges verändert: Dem nächsten Plakat, das einen ankläfft, man solle das Maul halten und irgendwas tun oder werden oder sich holen und zwar sofort, dem streckt man nicht mehr die gebleckten Fuck-you-Zähne oder den Mittelfinger entgegen, sondern schenkt ihm ein gelassenes, fröhliches, höchstens ein winzig kleines bißchen mitleidiges Lächeln.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Donnerstag, 3. September 2015

Frisch gepreßt #344: Pete Townshend "Truancy - The Very Best"


Ach, ist sie nicht schön, die Zeit der Schafskälte, in der man, während es draußen stürmt und schüttet und die Wolkenspedition ihre Tiefladerflotte aus ozeanischem Dunkelgrau in einem gewaltigen Stauchaos von Küste zu Küste tuckern lässt, müßig dasitzen kann und ohne schlechtes Gewissen gegenüber Fräulein Sonne (i. A.) in virtuellen Plattenkisten wühlen, dies und das herausziehen, über dieses und jenes stolpern, von dessen Existenz man das alte Männlein im Hinterstüberl des Zufallsgedächtnisses munkeln gehört hat? Ist sie.
Es ist dies auch die Zeit des blitzartigen Gedenkens, wo unscheinbare, in der Nebelflut der Zeiten scheinbar ertrunkene Momente plötzlich wieder eintreten, einen von den Haarspitzen bis zum Zehennagel ausfüllen und Musik nötig machen, die längst verhallt und oft zu Recht vergessen ist.
Zum Beispiel der Moment in den noch frühen 80ern, als man, nicht geheilt und auf ewig nicht zu heilen von dem unfassbar geilen Buntkrawall, mit dem The Who von 1965 bis 1971 die Welt in grelle Scherben schlugen und ein Loch im Universum aufrissen, Pete Townshends Soloalbum „All The Best Cowboys Have Chinese Eyes“ aus einer Ramschkiste zog und sich, während der weitgehend belanglose Konsensrock durch die Wohnung flockte, fragte, was wohl mit den eigenen Augen dieses Mannes passiert war (es war nur Heroin, spätes Nachflackern jugendlicher Trotzrenitenz, die sich nicht abfinden mochte mit dem „Classic Rock“-Status und den Demütigungen, die die Welt ihm und er sich selbst zufügte).
So war das damals: Mochte er noch so ausdauernd Mist produzieren – Townshend war Townshend und ein Album mit seinem Namen drauf daher Hörpflicht, und irgendwas fand man dann doch (auf dem nächsten, „White City“, fand man nichts mehr, dafür war es aber ungeheuer erfolgreich), hier: „The Sea Refuses No River“, bei aller Weinerlichkeit ein Echo der urgewaltigen Akkordflut, deren Tabula-rasa-Wucht Stücke (Songs?) wie „Baba O’Reilly“ und „Won’t Get Fooled Again“ Ewigkeit verliehen hatte.
Pete, ach, Pete. Ich habe ihn mal getroffen und wollte über „Quadrophenia“ sprechen, das Grande Finale seiner Gesamtkunst, dem nach 1973 nichts Wesentliches mehr folgen konnte; aber er beharrte darauf, mir ein lächerliches Musical ans Herz legen zu wollen, das damals jemand aus (vermutlich) „Tommy“ (ewig überschätzt) geschreinert hatte. So marschierte er stets beharrlich an der eigenen Größe vorbei, verrannte sich in Getue, hasste seine nach Keith Moons Tod nicht mehr existente Band und ließ sich nach jedem Ende zu einem neuen „Comeback“ überreden, weil er nicht einsehen wollte, was er längst eingesehen hatte.
Drum muss man ihn halt irgendwie lieben, den rotzfrechen Lümmel im Körper eines gediegenen Spießers, den renditegierigen Erzkommunisten, den zerwuschelten Hippiehasser und hyperintelligenten Dummkopf, der den entscheidenden Punkt öfter getroffen hat als jeder andere, sich aber die meiste Zeit verzettelte wie niemand sonst.
Und man hört ihn wieder, an solchen Tagen, von „Pure And Easy“ (1972, süß und naiv wie ein Yes-Demo) über seine Zusammenarbeit mit dem armen Ronnie Lane (hier mit drei Tracks von „Rough Mix“ aus dem Punkwinter 1976/77 vertreten) bis hin zu der irgendwie rührenden Sülze, die er seinem Guru Meher Baba in den Bart flocht. Bis hin zu …
„The Very Best“? Schmarrn, das gibt es längst, da steht „The Who“ drauf; dies ist halt wieder mal eine Kruschkiste, ein Sammelsurium von Halbfertigem, nie fertig Gewordenem, Fehlgelaufenem, das der Eigensinn nicht im Schrank lassen mochte, possierlichen Fettnapftritten und liebenswerten Abwegen … bis hin, eben, zu „The Sea Refuses No River“, was ein schönes Motto gewesen wäre, aber vielleicht zu pathetisch, während „Truancy“ zwar nach Wahrhaftigkeit klingt, aber nichts weiter ist als Schulschwänzerei. Jetzt ist er 70, der Pete, und das trifft’s aber immer noch, mehr vielleicht als das alte Couplet aus „April’s Fool“ (das hier fehlt): „We used to roam so freely / It's been so long / I took my dreams to bed now / Where they belong.“

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.


Mittwoch, 2. September 2015

Belästigungen 16/2015: Was Wohnen ist, was es kostet und was es nicht kosten darf

In einem Sommer wie dem, der nun langsam zu Ende geht, fällt es schwer, sich mit dem Thema „Wohnen“ zu befassen, weil man Wohnungen in solchen Zeiten ja höchstens zwischendurch aufsucht, ein paar Stunden lang zum Schlafen oder so. Ansonsten ergeht bzw. erliegt oder -sitzt man sich an Seen und Isarstränden, in Bier- und anderen Gärten, auf Wiesen und Festen. Anders Geneigte reihen sich in Staus auf Autobahnen ein, um mal wieder ausgiebig Bayern drei hören und überprüfen zu können, welche der fünfzig Standardplatten aus den Achtzigern immer noch nicht ganz durchgenudelt sind, oder sammeln sich an „Hipster“-Sammelstellen, lassen sich von Freiluftreklame beplärren und schütten sich Zuckerplörre in den Diekmann-Bart.
Das geht nach der jeweils bevorzugten Fasson; da ist der Mensch frei, sich zu „verwirklichen“, wie er wirklich sein oder wirken möchte. Zum Wohnen jedenfalls kommt er erst wieder, wenn er einen Platz braucht, um Regenschirm und Stiefel aufzubewahren. Und dann mag er sich eventuell auch mal fragen, was das eigentlich ist: „wohnen“.
Darüber grübelte bereits der großdeutsche Tiefdünkler Heidegger, wie stets ohne brauchbares Ergebnis, aber immerhin mit der Empfehlung, das Wohnen beim Bauen zu be-denken; nämlich be-wohne man Bauwerke „und wohnt gleichwohl nicht in ihnen, wenn Wohnen nur heißt, daß wir eine Unterkunft innehaben“. Das freilich ist eine Binsenweisheit: Be-wohnen kann man schließlich auch ein Gebüsch. Was aber ist das andere, das „existentiale“ oder eigentliche Wohnen?
Vielleicht hilft die Etymologie, derzufolge ein Mensch, der „baut“, damit bereits „wohnt“, was wiederum heißt, daß er „bleibt“ und „zufrieden ist“. Und schon erstrahlt vor dem inneren Auge eine märchenhafte Idylle, die wenig zu tun hat mit den notdürftig berümpelten Kammern, in denen der moderne Arbeitssklave ein paar Monate lang seine Fertignahrung und seine täglichen Ladungen an „Info“ einnimmt, ehe er weiterziehen muß, um anderswo dafür zu sorgen, daß die Börsen schwingen und die Säckel der Elite schwellen.
Kein Zweifel: Wir haben das Wohnen verlernt, zu einem nicht geringen Anteil sogar im gesetzlichen Sinne – weil laut BewG §181, Abs. 9 eine Wohnung aus mehreren Räumen besteht, „die in ihrer Gesamtheit so beschaffen sein müssen, dass die Führung eines selbständigen Haushalts möglich ist“, und die des weiteren die hierzu „notwendigen Nebenräume (Küche, Bad oder Dusche, Toilette)“ umfaßt. „Die Wohnfläche muss mindestens 23 Quadratmeter betragen.“
Wer sich im Besitz eines solchen Traumgebildes befindet, darf sich einerseits glücklich schätzen, andererseits wieder nicht. Nämlich sind die Zeiten längst vorbei, da ein normaler Ausgebeuteter wenigstens darauf vertrauen konnte, daß der ihm zugebilligte Bruchteil vom Erlös seiner Arbeit neben den zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Aufwendungen auch für den Mietzins locker reicht. Heute erleben wir die absurde Situation, daß ein Großteil der Arbeitenden schon deshalb kaum noch wohnt, weil sie immer mehr arbeiten müssen, um bis zu neunzig Prozent ihres Geldes für die irrwitzige Miete abzugeben.
Wie konnte das geschehen? fragt man sich. Die Antwort ist recht simpel, wenn man den Argumenten der Eigentümer folgt. Zum Beispiel wollten neulich die Vermieter der weltbekannten Münchner Lach-&-Schießgesellschaft dieser mal wieder die Miete beträchtlich erhöhen und meinten dazu, sie könnten darauf nicht verzichten, schließlich seien sie nicht dafür da, die Kultur zu finanzieren. Sondern umgekehrt ist die Kultur dafür da, ihren Profit zu finanzieren, gelt!
Aha! Diese verbreitete Denkprinzip bringt mich auf die Idee, von den Münchner Tageszeitungen und Reklameproduzenten (die sich ja teilweise auch für „Kultur“ halten) künftig die Zahlung einer Million, ach was: Milliarde Euro monatlich auf mein Privatkonto zu fordern, weil sie jeden Tag ihre blödsinnigen Schlagzeilen und Kaufbefehle in den öffentlichen – also auch mir gehörigen - Raum hineinbrüllen und diesen damit ebenso parasitär nutzen wie der Mieter, der im Eigentum des Vermieters herumwest. Wie bitte, die wollen nicht zahlen? Ja so was! Auf die Forderung verzichten kann ich aber keinesfalls, schließlich bin ich nicht dafür da, die „Kultur“ der Massenmanipulation zu finanzieren!
Nun könnten kommunistische Störenfriede auf die Idee kommen, zu fragen, wieso überhaupt Mieten immer teurer werden dürfen (in München in den letzten zehn Jahren durchschnittlich um die Hälfte). Schließlich ist Wohnen ein Menschenrecht, Profit hingegen nicht. Da antworten die Eigentümer: Es werde ja auch immer aufwendiger, Räume bereitzustellen, in die man die Leute hineinpferchen und ihnen Mietzins absaugen kann: Müllabfuhr, Strom, Kaminkehrer, Straßenreinigung, Instandhaltung, Renovierung – alles wird unablässig teurer, und irgendwer muß doch dafür aufkommen!
Hm. Durch einen glücklichen Zufall bewohne ich eine Wohnung, die ich sozusagen an mich selbst vermiete und die schon ziemlich ewig lang dasselbe kostet, während sich der Mietzins anderer Wohnungen in der gleichen Zeit verdoppelt oder verdreifacht hat (seien wir ruhig offen: auf das Fünf- bis Zehnfache dessen, was meine kostet). Da fragt man sich, wie und wieso das geht. Ganz einfach: weil nichts teurer geworden ist, insgesamt. Mal kostet in der Jahresabrechnung ein Posten ein bisserl mehr, mal der andere – man will ja das Dach decken, die Fassade neu verputzen, Treppenhaus, Fenster, Hof und dies und das renovieren und verschönern, Wasserschäden beseitigen, neue Stromleitungen verlegen und so weiter und so fort. Aber in der Summe: alles gleich.
Und wenn man den vermietenden Eigentümern, die unverschämt freimütig von der staatlich und städtisch gewährten Erlaubnis zur Erhöhung der Mieten Gebrauch machen, solcherart ziemlich eindeutig beweist, daß durch Mieterhöhungen keineswegs gestiegene Kosten ausgeglichen, sondern lediglich ihr sinn- und leistungsloser Profit gesteigert wird, dann sagen sie das, was Profiteure in solchen Fällen immer als Totschlagargument vorbringen: Der Markt bestimme die Preise. Das heißt: Weil einer bereit ist, eine Wuchermiete zu bezahlen, dürfen, ja müssen alle anderen ebenfalls Wuchermieten verlangen. Das heißt: Wir pressen euch aus, weil wir es können, ho ho!
Da jedoch könnten wir ein paar Gegenfragen stellen: In welchem Gesetz steht denn das? Und wenn es in keinem Gesetz steht, wieso wird es dann geduldet? Und von wem? Und wer könnte es unterbinden? Und könnten wir das am Ende vielleicht sogar selber? Und wer hat überhaupt und aus welchem Grund und mit welchem Recht und Ziel bestimmt, daß Teile unseres gemeinsamen Planeten und die darauf stehenden Gebäude irgendwem gehören dürfen oder auch nur können?
Interessante Frage. Es wird bald Herbst, Freunde. Vielleicht finden wir ein paar Antworten.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.