Das Problem mit dem Rock ’n’ Roll besteht darin, daß er so
leicht zu imitieren ist, weil die Zutaten so simpel sind: lauter Rhythmus, ein
paar noch lautere Melodie- und Harmonieinstrumente, Stimme (die keinerlei
fachlich zu bewertende Qualität haben muß) und eine unklare Attitüde von Zorn,
Trotz, Verweigerung und Sehnsucht, die sich jeder Ergründung und Definition
entzieht. Deshalb sind 99,9 Prozent aller Rock-’n’-Roll-Produkte (Bands, Songs,
Konzerte, Tonträger) Imitationen, und 99,9 Prozent aller Musikkonsumenten ist
das vollkommen egal, weil sie es nicht bemerken, weil man dafür eine
Veranlagung braucht (die man auch als Behinderung verstehen könnte: als
Unfähigkeit, etwas anzufangen mit perfekt produzierten Handelswaren, die
anderen Menschen viel Freude bereiten), und wenn man es zu erklären versucht,
stößt man auf Unverständnis und hat am Ende höchstens eine
Authentizitätsdebatte am Hals, die auf die Nullsummenerkenntnis hinausläuft,
daß es etwas „Echtes“ gar nicht geben kann.
So war das bei den Rolling Stones, den Sex Pistols, New York
Dolls, Stone Roses, Libertines und Palma Violets, ein paar der ultrawenigen
„echten“ Rock-’n’-Roll-Bands, und so ist es auch bei Howler, einem 2010 von
vier Teenagern in Minneapolis gegründeten klassischen Quartett, von dem
wohlmeinende Musikfachleute finden, daß es gelegentlich ein bißchen wie die
frühen Strokes, Richard Hell & The Voidoids, Velvet Underground und eine
pervertierte, durch den Lärmwolf gedrehte Entartung von Sixties-Psychedelik,
Croon-Pop und Ramones-Punk klingt. Näher wagt sich kaum jemand heran, weil man berechtigterweise
fürchtet, von dieser Band und ihrer Musik zersetzt, zerhackt, verdreht zu
werden.
Auf dem ersten Album „America Give Up“ (2012) entstand aus
einer vorgeblichen Retrohaltung (die gar nicht echt sein konnte, weil diese
Burschen höchstens noch die Libertines in früher Kindheit erlebt haben) eine
Atmosphäre purer, anschlußlos totaler Gegenwart; auf dem zweiten ist es
ungefähr umgekehrt: Radikaler Futurismus gebiert eine unwirkliche,
anderweltliche Version der Mittsechziger, die sich vom „Original“ auch dadurch
unterscheidet, daß sie wesentlich härter, direkter und klüger ist – eine Art
Popmusik für das 22. Jahrhundert, wie man sie sich 1967 erträumt haben könnte.
Die „Behinderung“ funktioniert auch anders herum: Einem
Großteil der Menschheit wird diese Musik störend bis unerträglich, wüst,
brutal, gefährlich, unzugänglich bis „falsch“ erscheinen. So wie das zumindest
anfangs auch bei den Rolling Stones, Velvet Underground, Sex Pistols, New York
Dolls, Libertines und Palma Violets war. Einer winzigen Minderheit wird sie das
unwiderstehliche Gefühl einflößen, ein 19jähriger Straßenrabauke zu sein, und
das Verlangen, auf der Stelle eine Band zu gründen.
Ähnlich wie bei den New York Dolls (mit denen Howler die
Liebe zu Girlgroups wie den Shangri-Las teilen) enthielt das Debüt die Hits,
nun kommen die extremeren Sachen, Experimente und Entgleisungen. Da aber beide
Platten zusammen vorbildlicherweise nicht mal eine Stunde dauern, empfiehlt es
sich, sie als ein Album zu betrachten und zu den erwähnten 0,01 Prozent zu
zählen, auf denen einfach alles stimmt, jede Melodie, jeder Akkord und Break,
jede Textzeile. „We belong to nothing and nothing belongs to us“: Dies ist
weder Garagenrock noch Punk, weder Revival noch Trendsetting; es ist Rock ’n’
Roll – große, maßlos große Popmusik, so maßlos und groß, daß sie den Horizont
verschlingt und die Welt zerstören wird. Aus rein romantischen Gründen: damit
dieser Sommer ewig dauert.
geschrieben Anfang Mai 2014 für KONKRET
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