Ein „Leak“ ist für den Seemann unerfreulich. Wenn ein
solches am Schiffsrumpf auftritt, plätschert nämlich das Meer, das den Nachen bis
dahin so freundlich getragen hat, frecherweise in diesen hinein, bis buchstäblich
die Luft raus ist und das kühle Grab am Grund nicht mehr warten muß.
In der Musikindustrie ist ein Leak sozusagen das Gegenteil
und doch das gleiche: Da sprudeln sie hinaus, die Contents, mit denen man den
Sparbüchsen der Fans Millionen zu entlocken hoffte, und nicht selten auch sorgt
ein solches Leak dafür, daß schon lange vor einem erhofften Comeback alle Welt
weiß: Bei dem ist nun wirklich die Luft raus.
Musikalische Leaks haben oft verworrene Historien, die
selten ganz ans Licht zu kriegen sind. Eines indes ist so gut wie allen gemein:
Sie sind illegal; Umgang, Handel, Konsum, Besitz der solcherart in die Welt
verströmten Datensätze strafbewehrte Delikte, zu denen man selbstverständlich
auch nicht auffordern darf.
Das tun wir denn auch nicht. Journalistische
Informationspflicht gebietet indes eine Berichterstattung, und die derzeit
durchs Internet flutenden „Rohversionen“ des neuen Madonna-Albums schlagen
derart Wellen und sind umschwemmt von so kuriosen Begleitumständen, daß eine
solche sich von selbst versteht, ganz ohne Sensationalismus.
Und zwar war das so: In den letzten Jahren mußte die
56jährige Entertainerin Madonna Louisa Ciccone feststellen, daß die
Verkaufszahlen ihrer Alben bedenklich in den einstelligen Millionenbereich
hineinrutschten – und das wo sie doch gerade erst einen
120-Millionen-Dollar-Vertrag unterschrieben hatte (vor dem letzten, MDNA, das
sich o „schlecht“ verkaufte wie kein Madonna-Album je zuvor, und zwar mit
Abstand). Sündenbock für so was ist in den letzten Jahren generell das Internet
– schließlich gebe es da alles umsonst, per Leak, illegal (s. o.), aber das
schert ja niemanden, gelt?
Wie solche Leaks zustandekommen, ist ein gutes Rätsel. Steigen
Männer mit Masken nachts in Hochsicherheitsstudios ein, klauen Bänder und
verscheppern sie an finstere Hehler? Wohl kaum. Lassen hochprominente
Mitarbeiter wie Avicii, Diplo, Toby Gad, Natalia Kills, Mozella, Symbolyc One, Alicia Keys, Ryan Tedder in Kneipen und Flugzeugen USB-Sticks liegen? Wer weiß.
Und wer verdient an so was? Mutmaßlich: niemand. Das schränkt die Auswahl an
Motivationen weitgehend ein: Wichtigtuerei, Menschenfreundlichkeit, denkbar
sind auch die unterschiedlichsten Strategien, um im Gespräch zu bleiben oder
wieder hineinzukommen.
So oder so: Nach monatelangem Wirrwarr, bei dem Madonna
kräftig mitmischte, kursierten Ende November zuerst zwei, dann plötzlich 13
Songs im Internet, flankiert von heftigem Geschrei: Ihr Manager verlangte in
„XY“-Manier sachdienliche Hinweise, während die Künstlerin selbst von „Terrorismus“
und „Vergewaltigung“ sprach und verkünden ließ, es handle sich um frühe Demos,
bitte nicht anhören! (Wie solches Flehen wirkt, weiß jeder Pädagoge:
gegenteilig.) Ende Dezember konnte man das für März geplante Album dann
vorbestellen und bekam dabei gleich mal sechs Songs automatisch, als
„Weihnachtsgeschenk“. Mehr soll im Februar folgen, der Rest dann eben im März.
Mal anders gefragt: Wem schadet so was eigentlich? Einer der
reichsten Frauen der Welt, die ihr „Honorar“ bereits kassiert hat? Hörern, die
sich mit unfertigen Sachen die Ohren ruinieren? Oder einer Plattenfirma, die
sich für die nächsten drei Monate jeden Promoaufwand sparen kann? Die Los
Angeles Times meinte dazu: „Eine komplette Madonna-LP wäre innerhalb weniger
Wochen da und wieder weg gewesen.“ Der Wirbel um „Rebel Heart“ hingegen habe
„einen seltsam punkigen, vermenschlichenden Effekt auf Madonna – und das
pfeilgerade bei einer Platte, die genau das erreichen soll“. In der Tat: So ein
Zufall!
Nämlich, das zeigt das, was es bislang gibt, hat Madonna
nach Jahren der gequälten Trendhopserei tatsächlich und vollständig den
Anschluß an das verloren, was zur Zeit angeblich angesagt ist, und das Ergebnis
ist überraschend vielseitig und erfreulich: Neben altmodischen Discosongs ohne
große Hooks, angestaubtem 90er-Bonbon-House, einigem antimusikalischen
Geräusch-Gimmick-Schrott (vor allem mit Diplo) und Autotune-Daisy-Duck-Overkill
zu seelenlosem Leerzippzapp erstaunen die hie und da aufblitzende Souligkeit,
Nachdenklichkeit, viele Gitarren und erstaunlich erwachsene Balladen: „Make The
Devil Pray“ (mit deutlichen Anleihen bei „House Of The Rising Sun“), „Joan Of
Arc“ (wo Madonna an die Debbie Harry der späten 70er erinnert), „Messiah“ (mit
großem Orchester knapp an der Kitschgrenze) und der Titelsong, der
kompositorisch so stark ist, daß er ohne weiteres aus der großen Zeit von Abba
stammen könnte.
Was davon letztlich auf dem landet, was dann das Album ist,
ist eigentlich egal. Vielleicht erfahren wir in ein paar Wochen, das ganze
Durcheinander sei (wie die LA Times nahelegte) absichtlich inszeniert gewesen,
um dem musikalischen Inhalt die treffliche Form zu geben. Da zöge ich dann aber wirklich den Hut.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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