Es ist in diesen Tagen so viel von Religion die Rede, daß
man nicht umhin kommt, bisweilen darüber zu sinnieren, ganz automatisch, weil
das Thema sozusagen von jedem Glockenturm schallt. Ich kann mich dem als Mensch
mit Augen und Ohren und einem Gedächtnis kaum entziehen, und da ist mir zum
Beispiel eingefallen, daß wir einst einen sehr liebenswerten, leider auch
ziemlich cholerischen und bisweilen slapstickmäßig handgreiflichen
Religionslehrer hatten, und weil mir der nette Mensch wieder eingefallen ist,
habe ich darüber sinniert, was wir bei ihm eigentlich so gelernt haben.
Zum Beispiel hat er uns beigebracht, daß und warum die
erwähnten Glockentürme sonntags um zwölf zum „Engel des Herrn“ läuten (ich weiß
es nicht mehr) und daß eine Harnröhrenoperation (der er sich damals unterziehen
mußte) enorm schmerzhaft und wünschensunwert ist. Mehr fällt mir beim besten
Willen nicht mehr ein. Mein Tagebuch aus jener Zeit ist auch nicht sonderlich
auskunftsfreudig: Außer dem wiederholten Eintrag „Relix fiel aus“ (Harnröhren-OP?)
und umfangreichen Chroniken diverser Blasrohrschlachten ist da lediglich die
etwas verschämte Eintragung zu finden, daß besagter Religionslehrer beim ersten
Elternsprechtag angab, mich nicht zu kennen (es war halt zu Schuljahresbeginn
gerne mal schönes Wetter, besonders am Samstag).
Man könnte den Gesamtkomplex Religionsunterricht zu meiner
Zeit somit zusammenfassen: Netter Versuch. Nun haben sich bekanntermaßen die
Zeiten geändert, und ein Religionsunterricht alter Machart mit seinem
wettbewerbsfeindlichen „Liebe deinen Nächsten“-Geplänkel und ausführlichen
Reise- und Abenteuerberichten der „Wandergruppe Bundeslade“ aus dem Morgenland
käme höchstens noch als Erholungsprogramm für burnoutgefährdete Zehnjährige in
Frage, so zwischendurch, damit sie sich mal eine Dreiviertelstunde lang nicht
den Kopf zerbrechen müssen, wie sie am besten fit fürs Ausbeuten werden. Aber
Religion muß eben sein, und weil die prägende Religion unserer Tage
bekanntermaßen eine andere ist, führt das neoliberale Musterländle
Baden-Württemberg demnächst ein neues Schulpflichtfach ein: „Wirtschaft/Berufs-
und Studienorientierung“.
Das tut, wie man früher so sagte, not. Denn zwar besteht der
Alltag neuerer Generationen schon im Grundschulalter aus kaum noch etwas
anderem als „Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung“, und zwar sind
defaitistische Parolen vergangener Zeiten von „Kapitalismus ist scheiße“ über
„Arbeitet nie!“ und „Am Morgen ein Joint, und der Tag ist dein Freund“ bis
„Schluß mit dem Schulterror“ höchstens noch Gegenstand ratloser Deutungsversuche
im Geschichtsunterricht.
Aber das reicht halt nicht, weil die Zurichtung des
Jungmenschenmaterials bislang offensichtlich noch nicht effektiv genug
ausfällt: „Ohne Wirtschaft geht gar nichts!“ grölt der für „Ausbildung“
zuständige Mann der IHK (der Lobbyorganisation der sogenannten „Arbeitgeber“) und
bietet in typischer Dreistigkeit gleich noch an, den Drill der Lehrer könne
sein Laden gerne übernehmen.
Freilich, schließlich war unser damaliger Religionslehrer ja
auch ein Pfarrer. Da läge es doch näher, die Prediger der Wachstumssekte gleich
selber in die Schulen zu schicken, anstatt erst noch die Lehrer auf Linie zu
bringen – unter denen sich womöglich noch Residuale von altlinken
Konsumverweigerern, Bürgerrechtlern, Gesellschaftskritikern und sonstigen
Dissidenten verstecken.
Ein milder Vertreter der ewiggestrigen Vernunft meldete sich
auch sogleich zu Wort und witterte im neuen Fach einen „eminent politischen
Konflikt“: „Es geht“, meint der Bielefelder Wirtschaftssoziologe Reinhold
Hedtke, „um das grundsätzliche Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie.“ Das
böse K-Wort zum Beispiel solle bei der geplanten „Orientierung“ überhaupt nicht
vorkommen; schon gar nicht soll der gesellschafts-, welt- und
persönlichkeitszerstörende Prozeß in irgendeiner Weise „hinterfragt“ werden. (Man
diskutiert ja auch nicht im christlichen Gottesdienst, wie man grundsätzlich
auf so einen Schmarrn wie einen Gott kommen kann.) Vielmehr werden Fragen
beleuchtet wie: „Welche Interessen verfolgen Arbeitgeber?“ – und zwar ganz
bestimmt ehrlich, kritisch und emanzipatorisch, ähem, so mit
„gesellschaftlicher Verantwortung“ und so, ähem ähem. Der Landesschülerbeirat
hofft in einer Stellungnahme immerhin, man werde zukünftig lernen, wie man eine
Steuererklärung macht.
Übrigens gab es damals auch schon einen Unterricht in
„Wirtschaftslehre“. Ich habe allerdings keine Ahnung, ob dort ebenfalls Dogmen,
Axiome und Glaubenslehren gedrillt wurden, weil ich nie daran teilgenommen habe
– man durfte das als aufgeklärter Siebtkläßler noch selbst entscheiden. Es
steht indes zu vermuten, weil die Statistik zeigt: Wer sich dem Schmarrn
unterzog, sitzt heute überwiegend an sogenannten „Arbeitsplätzen“ oder in den
entsprechenden Verschickungsanstalten herum, läßt sich schikanieren und schaut
ab und zu aus dem Fenster nach draußen, wo das Leben unerbittlich an ihm
vorbeiläuft. Wer hingegen die Alternative „Kunsterziehung“ wählte … nun ja, der
springt weitaus häufiger fröhlich durch die Landschaft, läßt den bösen
Ausbeuter einen ebenso guten Mann sein wie den lieben Gott (danke, Herr
Bauernschmidt!) und führt nachts am Biertisch lästerliche Reden über den
Kapitalismus.
Vielleicht ist das so mit den Religionen: Man darf darüber
schon bisweilen sinnieren, aber am besten aus pfundigem Abstand, und
unschuldigen Kindern sollte man, bis sie den Unterschied zwischen einem
unterdrückerischen Dogma und einem Naturgesetz kennen, lieber von
Kirchenglocken, Nächstenliebe und meinetwegen Harnröhren-OPs erzählen. Und vor
allem aber davon, daß draußen die Sonne scheint und daß das ganz ohne
Wirtschaft geht.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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