Freitag, 13. Februar 2015

Im Regal: Jonathan Coe "Liebesgrüße aus Brüssel"

Es ist zweifellos eines der seltsamsten Gebäude, die auf dieser Welt herumstehen: das Atomium in Brüssel, zur ersten Nachkriegsweltausstellung 1958 errichtet als alles überragendes Symbol für die alles überragende Bedeutung der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“, die als ideologischer Überbau und Popanz für die totale Technisierung irdischen Lebens herhalten mußte.
Aus heutiger Sicht bietet diese krause Veranstaltung das halkyonische Bild einer putzigen Idylle im „Kalten“ Krieg während der sogenannten „Tauwetterperiode“. Mit dem Zweiten Weltkrieg im Rücken und einer suizidal anmutenden Begeisterung für atomare Vernichtung (aus Motiven, die sich heute weder erklären noch nachvollziehen lassen) als Dauergrusel im Hinterkopf mag es verständlich wirken, daß man die wirre, lebensgefährliche Gegenwart und den mörderischen Abgrund der jüngeren Vergangenheit lieber ausblendete und sich euphorisch dem rückhaltlosen Zukunftswahn ergab, der heute noch als Echo aus jedem Politikergequassel herausschallt. Den Wettkampf der Massentötungstechnologien zum Mühen um das Wohl der Menschheit umzudeuten, war freilich reiner Irrwitz, aber zumindest psychologisch möglicherweise erklärbar.
So tummelte man sich in Brüssel in Hybris und propagandistischem Sonnenschein. Manch einer war davon natürlicherweise überfordert; architektonische Sperenzchen sorgten für Verwunderung und Empörung, das Treiben der Funktionäre und Spione lieferte den begleitenden Komödienstadel, und der Wettstreit der technologischen Schamanen führte in diverse Fettnäpfe. So verschwand etwa das Modell des britischen ZETA-Kernfusionsreaktors sang- und klanglos aus der Ausstellung, nachdem sich der mit Pomp und Gloria umjubelte Durchbruch in der Energiegewinnung als ziemlich doofer Irrtum erwiesen hatte. Aber es blamierten sich nicht nur die Ingenieure: Das nachgebaute „Eingeborenendorf“, das den Alltag im Kongo und die segensreiche Fürsorge der belgischen Kolonialmacht zeigen sollte, wurde geschlossen, weil die als Darsteller engagierten Originalneger dagegen protestierten, von Besuchern gefüttert zu werden.
Jonathan Coe, der ebenso wütend witzig (etwa in „What A Carve Up!“ über die Ära des britischen Wirtschaftsfaschismus unter Margaret Thatcher) wie tieftraurig bewegend (in „The Rain Before It Falls“) erzählen kann und in dem Meisterwerk „The Terrible Privacy Of Maxwell Sim“ beide Stärken verband, erzählt diesen eigentümlichen Karneval, diese seltsame Mischung aus James Bond, „Das Neue Universum“ und Tim & Struppi in seiner Multivalenz und rührend naiven Komik bis ins kleinste Detail originalgetreu nach, genauestens recherchiert und (unter Rückgriff auf zeittypische Scherzchen) beherzt ironisiert, und das Bild, das sich dem Leser bietet, ist so überzeugend, daß einen fast der Verdacht beschleichen möchte, hier werde eine abscheuliche Phase der Geschichte fahrlässig verharmlost. Dahinter könnte jedoch wohlüberlegte Absicht stecken: War das ganze Gewese um den „Kampf der Systeme“ zwischen Ost- und Westblock, der aufgebauschte ideologische Firlefanz, der die Gier nach Macht, Öl und Geld „philosophisch“ verbrämen sollte, nicht im Grunde ein lächerliches Theater? Es lohnt sich, darüber zumindest mal nachzudenken.
„Expo 58“ (der deutsche Titel plüscht den Bond-Bezug etwas zu sehr auf, wie auch in der Übersetzung manch hübsches Spielchen nur als holzige Nachschnitzung überlebt) erzählt aber noch eine andere, eigene Geschichte, und die ist problematischer: Thomas Foley, ein in jeder Hinsicht harmloser Angestellter des „Zentralen Informationsbüros“ (der 2011 aufgelösten staatlichen britischen Werbeagentur), erhält den Auftrag, sich um einen dem Expo-Pavillon seines Landes angeschlossenen „traditionellen“ Pub zu „kümmern“. Der weltläufig-modernistische Trubel reißt ihn aus seinem gewohnten Lebensrahmen zwischen Arbeit, etwas fader Ehe samt kleiner Tochter und Nachbarschaftsgeplänkel; er verknallt sich vage in die erst(best)e Messehosteß, bekommt es mit zwei deutlich an Hergés Schulze und Schultze erinnernden Agenten, einem vermeintlichen sowjetischen Spion und anderem Genrepersonal zu tun, sucht die Heimat seiner vor den Nazis aus Belgien geflohenen Mutter, treibt sich mangels definierter Tätigkeit in der Gegend herum und ruiniert – man ahnt es – seine Ehe. All dies geschieht dem unbedarften Mann, der sich gleichwohl für einiges hält (wenn auch nicht viel), ohne daß er es ahnt, bemerkt, begreift; seine Irrtümer und Wirrungen sind manchmal nachvollziehbar, manchmal so haarsträubend, daß man ihn an der Hand nehmen und gewaltsam am falschen Abbiegen hindern möchte. Und dann: ist sein Job vorbei, die Chance (welche auch immer) vertan, ein unklarer Reifeprozeß ohne greifbares Ergebnis abgeschlossen; es beginnt ein anderes Leben, das sich über höhepunktlose Jahrzehnte und ein kurzes, ultralakonisches Schlußkapitel zieht, in dem es zu einer letzten Begegnung mit einer Randfigur der Episode kommt, die Thomas Foleys ganzes Leben war oder hätte sein können, sollen. Aber da – es schmerzt beim Lesen – ist alles längst zu spät und vorbei und nichts mehr zu retten.
Diese Geschichte von Unbeholfenheit und Überforderung, falschen Einschätzungen und vertanen Gelegenheiten könnte man als Parabel auf die Menschheit der Jahre um 1958 lesen, als Sinnbild der Lächerlichkeit all dessen, was ihnen so wichtig, klar, groß, erhaben, heilig und schrecklich erschien. Aber diesen Sack kann Foley nicht tragen; dafür ist er schlicht zu kontur- und harmlos, zu wenig greifbar: Es gelingt nur an ganz wenigen Stellen, mit ihm zu sympathisieren und zu leiden, im Grunde ist und bleibt er einfach ein Depp.
Vielleicht gehört auch das – die Reduktion eines ganzen Lebens und seiner Epoche zur luftigen Farce – zum literarischen Plan von Jonathan Coe: Wie auch immer man’s dreht, wendet, auflädt und mit Bedeutung zu füllen sucht, es ist am Ende doch alles nichts und vergebens und die ganze Weltgeschichtshuberei ein einziger Schmarrn. Das aber wäre nichts Neues und wenig originell, und so recht mag das Buch auch das nicht tragen; es bleibt ein putziges Genrebild von (durchaus liebenswert) nostalgischem Witz (zwischen Wodehouse, Lodge und britischem TV-Kabarett vor Monty Python), ohne viel Gewicht, ein flüchtig-amüsanter Zeitvertreib für zwei Sommernachmittage.
Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß man vielleicht gerade wegen der scheinbaren Ungreifbarkeit und Oberflächlichkeit des Romans länger über ihn nachdenkt als selbst über „Der Regen, bevor er fällt“, daß man recherchiert und blättert und wühlt in Büchern und Internetarchiven über die Expo 58 und ihre merkwürdige Zeit, und dann betrachtet man ratlos das absurde Atomium und begreift noch weniger als Thomas Foley.
So, Herr Coe, und jetzt verraten Sie uns bitte, was das alles soll.


geschrieben Anfang Mai 2014 für KONKRET


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