Es ist zweifellos eines der seltsamsten Gebäude, die auf
dieser Welt herumstehen: das Atomium in Brüssel, zur ersten
Nachkriegsweltausstellung 1958 errichtet als alles überragendes Symbol für die
alles überragende Bedeutung der „friedlichen Nutzung der Kernenergie“, die als
ideologischer Überbau und Popanz für die totale Technisierung irdischen Lebens
herhalten mußte.
Aus heutiger Sicht bietet diese krause Veranstaltung das halkyonische
Bild einer putzigen Idylle im „Kalten“ Krieg während der sogenannten
„Tauwetterperiode“. Mit dem Zweiten Weltkrieg im Rücken und einer suizidal
anmutenden Begeisterung für atomare Vernichtung (aus Motiven, die sich heute
weder erklären noch nachvollziehen lassen) als Dauergrusel im Hinterkopf mag es
verständlich wirken, daß man die wirre, lebensgefährliche Gegenwart und den
mörderischen Abgrund der jüngeren Vergangenheit lieber ausblendete und sich
euphorisch dem rückhaltlosen Zukunftswahn ergab, der heute noch als Echo aus
jedem Politikergequassel herausschallt. Den Wettkampf der
Massentötungstechnologien zum Mühen um das Wohl der Menschheit umzudeuten, war
freilich reiner Irrwitz, aber zumindest psychologisch möglicherweise erklärbar.
So tummelte man sich in Brüssel in Hybris und
propagandistischem Sonnenschein. Manch einer war davon natürlicherweise
überfordert; architektonische Sperenzchen sorgten für Verwunderung und
Empörung, das Treiben der Funktionäre und Spione lieferte den begleitenden
Komödienstadel, und der Wettstreit der technologischen Schamanen führte in
diverse Fettnäpfe. So verschwand etwa das Modell des britischen
ZETA-Kernfusionsreaktors sang- und klanglos aus der Ausstellung, nachdem sich
der mit Pomp und Gloria umjubelte Durchbruch in der Energiegewinnung als
ziemlich doofer Irrtum erwiesen hatte. Aber es blamierten sich nicht nur die
Ingenieure: Das nachgebaute „Eingeborenendorf“, das den Alltag im Kongo und die
segensreiche Fürsorge der belgischen Kolonialmacht zeigen sollte, wurde
geschlossen, weil die als Darsteller engagierten Originalneger dagegen
protestierten, von Besuchern gefüttert zu werden.
Jonathan Coe, der ebenso wütend witzig (etwa in „What A
Carve Up!“ über die Ära des britischen Wirtschaftsfaschismus unter Margaret
Thatcher) wie tieftraurig bewegend (in „The Rain Before It Falls“) erzählen
kann und in dem Meisterwerk „The Terrible Privacy Of Maxwell Sim“ beide Stärken
verband, erzählt diesen eigentümlichen Karneval, diese seltsame Mischung aus
James Bond, „Das Neue Universum“ und Tim & Struppi in seiner Multivalenz
und rührend naiven Komik bis ins kleinste Detail originalgetreu nach, genauestens
recherchiert und (unter Rückgriff auf zeittypische Scherzchen) beherzt ironisiert,
und das Bild, das sich dem Leser bietet, ist so überzeugend, daß einen fast der
Verdacht beschleichen möchte, hier werde eine abscheuliche Phase der Geschichte
fahrlässig verharmlost. Dahinter könnte jedoch wohlüberlegte Absicht stecken: War
das ganze Gewese um den „Kampf der Systeme“ zwischen Ost- und Westblock, der
aufgebauschte ideologische Firlefanz, der die Gier nach Macht, Öl und Geld
„philosophisch“ verbrämen sollte, nicht im Grunde ein lächerliches Theater? Es
lohnt sich, darüber zumindest mal nachzudenken.
„Expo 58“ (der deutsche Titel plüscht den Bond-Bezug etwas
zu sehr auf, wie auch in der Übersetzung manch hübsches Spielchen nur als
holzige Nachschnitzung überlebt) erzählt aber noch eine andere, eigene
Geschichte, und die ist problematischer: Thomas Foley, ein in jeder Hinsicht
harmloser Angestellter des „Zentralen Informationsbüros“ (der 2011 aufgelösten
staatlichen britischen Werbeagentur), erhält den Auftrag, sich um einen dem Expo-Pavillon
seines Landes angeschlossenen „traditionellen“ Pub zu „kümmern“. Der
weltläufig-modernistische Trubel reißt ihn aus seinem gewohnten Lebensrahmen
zwischen Arbeit, etwas fader Ehe samt kleiner Tochter und
Nachbarschaftsgeplänkel; er verknallt sich vage in die erst(best)e Messehosteß,
bekommt es mit zwei deutlich an Hergés Schulze und Schultze erinnernden Agenten,
einem vermeintlichen sowjetischen Spion und anderem Genrepersonal zu tun, sucht
die Heimat seiner vor den Nazis aus Belgien geflohenen Mutter, treibt sich
mangels definierter Tätigkeit in der Gegend herum und ruiniert – man ahnt es –
seine Ehe. All dies geschieht dem unbedarften Mann, der sich gleichwohl für einiges
hält (wenn auch nicht viel), ohne daß er es ahnt, bemerkt, begreift; seine
Irrtümer und Wirrungen sind manchmal nachvollziehbar, manchmal so
haarsträubend, daß man ihn an der Hand nehmen und gewaltsam am falschen
Abbiegen hindern möchte. Und dann: ist sein Job vorbei, die Chance (welche auch
immer) vertan, ein unklarer Reifeprozeß ohne greifbares Ergebnis abgeschlossen;
es beginnt ein anderes Leben, das sich über höhepunktlose Jahrzehnte und ein
kurzes, ultralakonisches Schlußkapitel zieht, in dem es zu einer letzten
Begegnung mit einer Randfigur der Episode kommt, die Thomas Foleys ganzes Leben
war oder hätte sein können, sollen. Aber da – es schmerzt beim Lesen – ist
alles längst zu spät und vorbei und nichts mehr zu retten.
Diese Geschichte von Unbeholfenheit und Überforderung,
falschen Einschätzungen und vertanen Gelegenheiten könnte man als Parabel auf
die Menschheit der Jahre um 1958 lesen, als Sinnbild der Lächerlichkeit all
dessen, was ihnen so wichtig, klar, groß, erhaben, heilig und schrecklich
erschien. Aber diesen Sack kann Foley nicht tragen; dafür ist er schlicht zu
kontur- und harmlos, zu wenig greifbar: Es gelingt nur an ganz wenigen Stellen,
mit ihm zu sympathisieren und zu leiden, im Grunde ist und bleibt er einfach
ein Depp.
Vielleicht gehört auch das – die Reduktion eines ganzen
Lebens und seiner Epoche zur luftigen Farce – zum literarischen Plan von
Jonathan Coe: Wie auch immer man’s dreht, wendet, auflädt und mit Bedeutung zu füllen
sucht, es ist am Ende doch alles nichts und vergebens und die ganze
Weltgeschichtshuberei ein einziger Schmarrn. Das aber wäre nichts Neues und
wenig originell, und so recht mag das Buch auch das nicht tragen; es bleibt ein
putziges Genrebild von (durchaus liebenswert) nostalgischem Witz (zwischen
Wodehouse, Lodge und britischem TV-Kabarett vor Monty Python), ohne viel
Gewicht, ein flüchtig-amüsanter Zeitvertreib für zwei Sommernachmittage.
Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß man vielleicht gerade
wegen der scheinbaren Ungreifbarkeit und Oberflächlichkeit des Romans länger
über ihn nachdenkt als selbst über „Der Regen, bevor er fällt“, daß man
recherchiert und blättert und wühlt in Büchern und Internetarchiven über die
Expo 58 und ihre merkwürdige Zeit, und dann betrachtet man ratlos das absurde Atomium
und begreift noch weniger als Thomas Foley.
So, Herr Coe, und jetzt verraten Sie uns bitte, was das
alles soll.
geschrieben Anfang Mai 2014 für KONKRET
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