Das Sozialsystem (nicht nur, aber tatsächlich ganz besonders)
unseres Landes ist ein Tummelplatz für Idioten: nützliche Idioten wie
Politiker, Ärzte und Funktionäre, die in ihrer kollektiven Verblödung den
Befehlen und Verlockungen einer wahnsinnig gewordenen Lobbymafia verfallen, und
zynische Idioten, die angesichts der unfaßbaren, mörderischen Zustände und Vorgänge
die Arme verschränken – ja nun! So ist er eben, der Kapitalismus, gelt? – und
mit arrogantem Balkongrinsen auf die theoretische Bibliothek verweisen, der das
alles doch seit Jahrzehnten, Jahrhunderten zu entnehmen sei; q. e. d. Damit
solle man sich halt mal beschäftigen, dann werde man das schon kapieren, und
ändern könne man das nur, wenn man grundsätzlich alles ändere.
Es geht im Sozial- und Gesundheitssystem aber nicht darum,
irgend etwas herzuleiten, abzuleiten, zu durchdringen und dozieren zu können;
sondern es geht wenigstens vordringlich darum, in frustrierender Sisyphos-Ameisenarbeit
den politisch gewollten oder zumindest in Kauf genommenen Beschiß und (so
übertrieben das klingen mag) Massenmord zu bremsen, der seit den „Reformen“ der
Schröder/Fischer-Bande ein Ausmaß angenommen hat, das jedem, der davon in
Einzelheiten erfährt, die Haare zu Berge stehen läßt.
Ja: der davon erfährt, denn das tut man selbstverständlich
nicht so ohne weiteres. Offizielle Verlautbarungen zu diesem Themenbereich sind
per se und grundsätzlich Lügen, systematisch, ausnahmslos und von derart
schamloser Billigkeit und Durchschaubarkeit, daß ihre flächendeckende Wirkung
kaum verwundert: Wer da auch nur einen Hauch von Zweifel hegt und äußert, muß
das Corpus der „Informationen“ und die geltende Ideologie samt und sonders in
Frage stellen und sich somit zwangsläufig als „Verschwörungstheoretiker“ outen.
Oder eben als Verschwörungspraktiker, denn was sich da tut, ähnelt nicht etwa
einer Verschwörung, sondern IST eine – eine informelle, sozusagen „natürlich“
gewachsene Verschwörung von Individuen und Kollektiven, die sich an Arbeit,
Vermögen, Gesundheit und Leben anderer bereichern, einfach weil es die
Möglichkeit dazu gibt und sie die Möglichkeit haben, diese Möglichkeit im Rahmen
ihrer beruflichen, amtlichen und politischen „Verantwortung“ auszuweiten.
Das zum Beispiel ist banal und jeder weiß es: Deutschland
wird überwiegend von Beamten regiert und verwaltet; das gilt auch für die
Rentenversicherung, und das heißt, daß eine Kaste von – eben – Verschworenen
eine Kasse, in die diese (im Gegensatz zu sämtlichen anderen Ländern in Europa)
selbst nicht einzahlen, unter Kontrolle hat und damit tun kann, was sie will,
buchstäblich. Stellte man (nur mal so) die Frage, wieso Aufkauf und Verramschung
der DDR nicht aus der „Pensionskasse“ der Beamten (die nicht aus Beiträgen,
sondern aus Steuern besteht) oder den „privaten“ Krankenversicherungen finanziert
wurde und wird, müßte man sich zweifellos für verrückt erklären lassen: Weshalb
sollten Beamte und Unternehmer für eine derart gigantische weltgeschichtliche
Geldvernichtungsorgie aufkommen?
Bei den Rentenversicherten fragt niemand. Daß die bezahlen,
ist selbstverständlich: Sie haben das ja nicht zu bestimmen und können nichts
daran ändern, und schließlich haben sie diejenigen, die so etwas beschließen,
selbst „gewählt“ (d. h.: auf vorfabrizierten Listen angekreuzt oder auch nicht,
was nichts ausmacht). Über einen derartigen Skandal darf man nicht zu genau
nachdenken, weil man sonst den Verstand verliert, und deshalb tut das niemand.
Doch, manche tun es: Otto Teufel (der Bruder des neuerdings
postum als antisemitischer Mörder diffamierten Fritz) zum Beispiel klagt seit
vielen Jahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen Mißbrauch, Betrug und
Diebstahl im Rentensystem, ist dadurch notgedrungen zum herausragenden Experten
geworden und weiß sehr genau, was hinter den Lügenparolen der Regierungen und
Lobbyisten steckt: „Wir leiden nicht unter einem demografischen Problem, wir
leiden unter einer wirtschaftspolitischen Elite, die sich bereichert auf unsere
Kosten.“ Das ist nicht Blabla und kein Populismus, sondern das kann er
erläutern, der Herr Teufel, und zwar bis ins kleinste Detail, und nicht nur er
(wie die Demographielüge genau funktioniert, erläutert der Statistikprofessor
Gerd Bosbach). Und es geht dabei nicht um üblicherweise eingestandene „Tricksereien“,
sondern: um Verbrechen. Und die, die dahinterstecken, haben Namen: Rürup,
Miegel, Raffelhüschen, Riester, Schröder, Maschmeyer, Clement, Lauterbach zum
Beispiel.
Teufels ehemaliger Vorgesetzter Horst Morgan hat sich ein
verwandtes, ebenso skandalöses Thema
vorgenommen: das „Alterseinkünftegesetz“ von 2004 zur Besteuerung von Renten, beruhend
auf einem (wie Morgan aufzeigt, durch und durch fehlerhaften) Urteil des
Bundesverfassungsgerichts und den Empfehlungen einer
„Sachverständigenkommission“ (unter Vorsitz von Bert Rürup, s. o.). Timo Lange
kämpft mit LobbyControl gegen die alles durchdringende gesetzgeberische Macht
von Industrie und Kapital; auch er kennt und benennt Strukturen und Namen. Christoph
Butterwege erläutert die Zerstörung des Sozialstaats durch die Hartz-Gesetze
und deren gewollt katastrophale Auswirkungen auf die Vermögensverteilung. Jenny
De la Torre Castro kümmert sich um die medizinische Versorgung von Opfern
dieser (wiederum:) Verbrechen, ebenso wie der Augenarzt Hans-Walter Roth.
Susanne Neumann weiß als Putzfrau und zornige Gewerkschafterin, was für eine
Sauerei die rot-grüne Regierung mit ihren Leiharbeitsgesetzen angerichtet hat –
und aus welchen Motiven: Schließlich war es der „arrogante Schweinepriester“
Wolfgang Clement (den sie in einer Fernseh-Talkshow bloßstellen durfte), der
diese Gesetze erst durchdrückte und dann in den Aufsichtsrat einer der größten
Leihsklavereifirmen der Welt rutschte. Um selbigen Clement, anläßlich seiner
rassistischen ministeriellen Hetze gegen „Parasiten“ (vergeblich) wegen
Volksverhetzung angezeigt, geht es unter anderem Wilhelm Heitmeyer in seiner
Forschungsarbeit zu Rechtspopulismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und
autoritäre Aggression, der die weltweit größte Studie zu Ausmaß, Entwicklung
und Ursachen negativer Vorurteile entsprang. Gisela Notz berichtet von
Mißbrauch und Ausbeutung ehrenamtlicher Tätigkeit, die Physikerin Inge
Schmitz-Feuerhake über die tödlichen Auswirkungen der Atomwirtschaft und deren
systematische Vertuschung, Richard Fuchs von den wahnwitzigen Methoden der
Transplantationsindustrie, der es sogar gelungen ist, den Tod neu zu definieren
– um mit dem „Hirntod“ als Vorwand lebende Menschen buchstäblich ausschlachten
zu können. Peter Tinnemann und Renate Hartwig mühen sich gegen die ebenfalls
regelrecht mörderischen Machenschaften im Zuge des wettbewerbs- und
dienstleistungsideologischen Umbaus des Gesundheitssystems, der
Medizinhistoriker Gerhard Baader zeigt Historie und Widersprüche der Debatte um
„Sterbehilfe“ sowie Parallelen zwischen der NS-Euthanasie und der heute sich
durchsetzenden „Eugenik in Form einer scheinautonomen Nachfrage“. Und immer wieder
findet man sich beim Lesen dieser Schilderungen sprach- und fassungslos, kopfschüttelnd
vor Horror, Wut und simpler Einsicht.
Das liegt (auch) daran, daß Gabriele Goettle ihre
„Kandidaten“ einfach sprechen läßt, nur hier und da behutsam eingreift, ein
paar nüchterne Bemerkungen in Klammern dazwischenschiebt. Daß sie indes vor
allem weiß, wen man fragen muß, und ihr persönliches Engagement bei aller
Zurückhaltung nicht verbirgt, macht ihre Reportagen seit vielen Jahren
einzigartig und unschätzbar wertvoll – und bezeugt nebenbei die Verwahrlosung
des deutschen Medienbetriebs, auch der zum neoliberalen Halligalli-Juxblättchen
verkommenen taz, aus der sie immer weiter herausragen.
Freilich ist es paradox und mindestens fragwürdig, ein
grundsätzlich falsches System gegen seine Nutznießer zu verteidigen. Ein
Umsturz der bestehenden Verhältnisse ist jedoch auf absehbare Zeit nicht zu
erwarten, und so bleibt, da es um die Gesundheit, die Würde und das Leben von
Menschen geht, kaum etwas anderes übrig. „Es ist leider auch offensichtlich,
daß die Leute nicht merken, wie sie betrogen werden“, sagt Otto Teufel. Ist es,
leider. Vielleicht könnte dieses Buch daran etwas ändern. Man sollte es in
Millionenauflagen drucken und in Schulen, Krankenhäusern und „Arbeitsagenturen“
verteilen.
geschrieben Anfang 2014 für KONKRET
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