Es ist Herbst; wir tanzen mit gesenktem Blick. Schreiben ein
Buch mit leeren Seiten. Gefühle sind Blech, schwer beladen, dunkel schimmernd
im Widerhall der Zeiten, einer endlosen Parade von Abschieden. Alles verliert
sich, grau die Luft, leer das Herz, und wir tanzen mit gesenktem Blick.
Und wir leben in unfaßbar weiten Räumen, ziehen Horizonte
entlang, diesseits und jenseits nur Nebel. Was ist, verschwimmt; was war, kehrt
zurück, bleibt ungreifbar, wie Wolken aus fremden Dimensionen.
T hat I verlassen; sie tanzt mit gesenktem Kopf, nippt
zwischendurch an ihrem neonklaren Getränk, ein bitteres Lächeln, der Blick
verausgabt sich stählern.
„Vor 1977 gab es dafür keine Musik“, sagt sie, zu wem?
„Und seitdem“, sage ich, „gibt es sie alle fünf bis zehn Jahre.“
„Gut so“, sagt sie. „Unbestimmter Schmerz sammelt sich wie
Staub. Alle paar Jahre muß man ihn wegwischen und die Seele polieren.“
„Die Seele? Du meinst den Kern der Ironie?“
Wieder lächelt sie, wissend. Wir fallen ineinander und
können uns nicht halten, nicht länger als einen ewigen Moment.
1977 ist wahrscheinlich nur ein Anhaltspunkt, und vielleicht
ist es Zufall, vielleicht ist aber auch wirklich David Bowie schuld: „Low“, und
dann „Heroes“, das Meisterwerk kühler Verzweiflung, heroischer Melancholie und
kontemplativer Leere, dem jedoch das Debütalbum von Ultravox! schon im Februar
vorausgegangen war. „I Want To Be A Machine“ und „The Lonely Hunter“; tobende,
rasende, schimmernde und scheinende Dunkelheit, Vergeblichkeit, Gefühle wie
Laserstrahlen unter der schwarzen Glasglocke einer nuklearen Apokalypse.
Siouxsie & The Banshees, Magazine, Joy Division … mit The Cure wurde die
Reaktion zum Stil, zum Genre, so weit und allgegenwärtig, daß Überdrüssige
Gummipalmen aufstellten, Sonnenuntergänge malten und gefühlte Südseen durch die
verspiegelten Räume fluten ließen, weil’s halt nicht mehr ging.
I lächelt noch immer. „Was ich fühle“, sagt sie, „ist eine
Gitarre, ein greller, zugleich demütiger und unzähmbarer Schrei der
Verletztheit, der durch die Schluchten einer toten Stadt hallt, Sehnsucht nach
nichts und allem, nach Einsamkeit und Geborgenheit. Weshalb sind wir so
zerrissen?“
„Is someone there?“ singt Paul Banks. „I’m dying to be
cruising in my blue supreme.“
„Alle Bilder“, sagt I, „müssen zerfließen. Ich verzehre
mich. Ich möchte fallen, ohne aufgefangen zu werden. Aber halt mich fest.“
„Everything is wrong“, singt Paul Banks. Seine Gitarre
durchschneidet die Nacht, eine dunkelblau glänzende Spirale, die sich dreht und
dreht und nie verändert. „Everything is wrong. All we have is time, but my
heart is going wrong.“
Ich ahne, daß das vergehen wird, wie alles vergeht. Draußen
lauert der Herbst, während der Spätsommer nun doch wieder zaghaft fröhlich und
zaghaft verloren durch die Straßen tanzt wie zu früh gefallene Blätter, die
ihren Baum suchen.
Wir tanzen mit gesenktem Blick und schreiben ein Buch mit
leeren Seiten. Alles wird vergehen und wiederkehren. Ich halte I, und sie
fällt. Und Paul Banks singt.
(Abspann/Fakten: „El Pintor“ ist Interpols fünftes Album,
das mit Abstand schönste und beste seit ihrem Debüt 2002; Interpol sind eine
US-amerikanische Band, die klingt, als wäre sie 1978 in Manchester geboren und
in der Zeit eingefroren; eine eisige Melange aus New Wave, Goth-Romantik,
Neon-Melancholie und glühender Kälte – aber halt, das sind ja schon wieder
keine Fakten mehr … Epigramm: Man muß nicht verlassen werden, der Winter kommt
von selbst, und mit diesem Album werden wir ihn überleben, bis zur Dämmerung
der Ironie.)
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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