Es ist ein großer Segen, daß der Mensch vernunftbegabt ist.
Das erkennt man am besten am Einzelfall. Zum Beispiel lieferte sich vor einiger
Zeit ein offensichtlich höchst vernünftiger Mann ins Hamburger
Universitätsklinikum ein, weil er sich in einem Anflug praktischer
Kritikfähigkeit eine zusammengerollte Ausgabe der „Bild am Sonntag“ in den
Hintern geschoben hatte und sie nicht mehr selbsttätig herausbekam – was
logisch ist: Schädlinge lassen sich ungern aus ihrem natürlichen Habitat
entfernen.
Um so verwunderlicher, daß der Mensch als Kollektivwesen so
wenig Mühe darauf verwendet, sich die Vorweihnachtszeit anal einzuverleiben, um
sie ein für alle Mal aus den Weltläufen zu eliminieren. Statt dessen fügt man
sich ins scheinbar Unvermeidliche, ruiniert sich Leber und Galle mit Zimtzuckerplörre,
ramscht die Kaufhäuser leer, ohne sich die erworbenen Konsumgegenstände
hinterher wenigstens in den Arsch zu stopfen, rotiert wie Brummkreisel durch
ein entfesseltes Inferno von grellbuntem Alarmlicht und klingbingdingender
Schallfolter, gegen das eine Helene-Fischer-Zurschaustellung geradezu humanitär
wirkt, und am Ende sitzt man dann im trauten Familienkreis und erwägt insgeheim
effektive Maßnahmen zur gegenseitigen Auslöschung, die oft nur daran scheitern,
daß man sich Feuerzangenbowle und Massenvernichtungsplätzchen nun mal selbst verabreichen
muß und damit in den meisten Fällen aufgrund vollständiger Lähmung und
Kontrollverlust kurz vor Erreichen der tödlichen Dosis aufhört.
Wohlgemerkt: Gegen Familien als solche ist wenig
einzuwenden; sie sind höchst sinnreiche und in vielen Lebenslagen erfreuliche
Einrichtungen. Weshalb man aber ausgerechnet im tiefsten Winter riesige
Entfernungen zurücklegt, um sich um einen Tisch zu versammeln, in einem
suizidalen Rekordversuch letale Massen von Weißmehl, Industriezucker, Fett,
Totfleisch und Farbstoffen zu verschlingen und dazu die schlimmsten Melodien aller
Zeiten aufzusingen, nachdem das Gespräch über Putin, Arbeit, Fernsehprogramm
und Tante Agathes rätselhafte Blumenkohlkrankheit versiegt ist, – das entzieht
sich meiner Auffassungsgabe.
Und weil das alles nur durch die Zufuhr erheblicher Mengen
unterschiedlichster Darreichungsformen von Ethanol zu ertragen ist, sorgt der
weihnachtliche Familienmensch für die Zufuhr erheblicher Mengen Ethanol in
abstrusester Abfolge – verzuckert, heiß, scharf, eisig, sprudelnd, herb, wieder
verzuckert oder mehreres davon gleichzeitig. Und wundert sich hinterher, wenn
er kurz vor Silvester wieder aufwacht und auf seinem Schädel und Unterleib ein
dermaßen titanisches und grimmiges Exemplar der in gröblichster Verniedlichung
als „Kater“ bezeichneten Spezies sitzt, daß er sich am liebsten selbst in den
Hintern kriechen täte.
Daß er sich da wundert, hat indes noch einen anderen Grund:
Tatsächlich hat bis heute niemand hieb- und stichfest nachweisen können, woher
der Kater eigentlich kommt und wieso ihn der eine von der bescheidenen
Feierabendmaß, der andere nicht mal nach einem Weihnachtsbesäufnis im Quadrat
kriegt. Theorien hierzu gibt es viele, von der alten Wein/Bier-Mischmasch-Faustregel
über diverse Methanol-, Acetaldehyd- und Fuselchemien, Entwässerungs- und
Stick-Schnarch-Ideen, Nationalismen (in Schweden ist angeblich jeder zweite
gegen den Katzenjammer immun, in Italien nur jeder zehnte, von den Franzosen
leidet ein Drittel nach dem Suff an der landesspezifisch bezeichneten „Fresse
aus Holz“) bis hin zur Beschwörung grundsätzlicher Individualität: So konnte
sich etwa Winston Churchill bis an die Oberkante mit hochverfuseltem Cognac
zuschütten, ohne je ein Surren zwischen den Brauen zu verspüren; der ansonsten (solange
man keine russische Badewannenmarke mit Desinfektionsmittelzusatz bevorzugt) als
außergewöhnlich verträglich taxierte Wodka hingegen schmiß ihn schon in
homöopathischer Dosis aufs Leidensbett.
Die Erscheinungsformen des „Überhängers“ sind
unterschiedlich und reichen vom leichten Schwindel über den berüchtigten
Schlagbohrer, der knapp vor dem Ohr ein- und im oberen Bereich der Nase wieder
austritt, bis hin zum unvermittelten Exitus, der den Dichter Dylan Thomas
ereilte, nachdem er beschlossen hatte, das von einem Rekordversuch (18 Gläser
Whisky) herrührende Unwohlsein mit therapeutischem Nachtrunk zu besänftigen,
dabei aber vergaß, daß sein bevorzugtes Getränk absoluter Spitzenreiter der
Fuselliga ist und mehr als das dreifache der empfohlenen Höchstdosis an
lebervernichtenden „Begleitalkoholen“ enthält.
Ebenso uneinig ist sich die Welt, was gegen das
fürchterliche Leid zu tun sei. In einer bekannten deutschen Wochenschrift für
doofe Großbürger empfiehlt eine Autorin im Geiste von Mr. Thomas, „am Morgen
danach kleine Ethanol-Dosen zu sich“ zu nehmen. Das bremse „den schädlichen
Methanolabbau“ (wohingegen das Methanol selbst nach Ansicht der Dame offenbar
völlig unschädlich ist), „und auch kann die Katerstimmung etwas mildern“ (sic).
Die „Betonumg“ (sic) liege auf „klein“, was sie wohl selbst nicht beachtet,
sondern sich vor der weiteren Auflistung von Standardschmarrn (Hering, Kaffee,
Magnesium, frische Luft) einen kräftigen Humpen zugeführt hat. Nun ja,
vielleicht wartete im Zimmer nebenan die Familie.
Ich weiß ja aber auch nicht weiter. Nur eine kleine
persönliche Betrachtung und eine historische Überlegung: Bei mir selbst bleibt
der Kater außerhalb der Weihnachtszeit zuverlässig aus. Der Mensch wiederum dröhnt
sich seit etwa 10.000 Jahren systematisch mit Alkohol zu (von der Tierwelt zu
schweigen, die damit wahrscheinlich schon bald nach dem Urknall anfing) und
erfand dadurch neben der Vernunft auch eine Zivilisation, die es ihm heute
ermöglicht, sich dreißig Jahre länger ins Grab zu saufen als zu Steinzeiten. Ein
Weihnachtsfest samt Punsch, Baum, Geschenktornado und Schlägerei in der Guten
Stube gab es jedoch nicht vor dem frühen 19. Jahrhundert. Manchmal sind die
älteren Bräuche eben die besseren, zumindest für die Krankenhäuser, die sich
ohne den Klimbim wichtigeren Dingen widmen könn(t)en, etwa dem Hintern versehentlicher
„Bild am Sonntag“-Konsumenten.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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