Sonntag, 10. März 2019

Frisch gepreßt #432: Udo Lindenberg "Zeitmaschine"


Popmusik ist suizidgefährdet. Ach was, gefährdet – sie ist dabei (und bei diesem Versuch schon sehr weit fortgeschritten), Selbstmord zu begehen bzw. den Freitod zu suchen, je nachdem, wie man dieses ultimative, (in diesem Falle: höchstwahrscheinlich, ansonsten unbedingt) irreversible Vorgehen moralisch einschätzt. Nämlich ist jede rebellische, romantische, subversive, provokante und sonstwie (oder nicht) relevante Geste, die sie in den knapp hundert Jahren ihrer Wirkungsgeschichte in die Welt setzte, nicht etwa als solche in die (unzuverlässige und verwehende) Erinnerung eingegangen, wie sie das bis etwa 1991 zu tun schienen.
Sondern sie ist nach wie vor da, elektrodigital vor jenen Ver- und Zerfallsprozessen geschützt, die die menschliche Kultur über Jahrtausende erst zu einer solchen werden ließen, weil jede Wiederholung an ein nicht mehr vorhandenes, möglicherweise längst vergessenes Original anknüpfen konnte – oder an gar nichts, weil es das Original vielleicht noch gar nicht gab. Das läuft auf dasselbe hinaus.
Das heißt: Was immer jemand heute popmusikalisch tut, ist Wiederholung, Zitat, frei- oder unfreiwillig ironisch, gewollter oder ungewollter Kommentar, Fußnote, Anspielung, Hommage, Persiflage, dideldum irgendwas, aber niemals „neu“. Was egal war, solange die Variation auf etwas verwies, was man nicht unmittelbar identisch danebenlegen konnte. Das kann man im digitalen Zeitalter immer.
Und das heißt: daß es eine Geste, die popmusikalisch (d. h. u. a. auch und vor allem: „neu“) im alten (!) Sinne ist, nicht mehr geben kann. Was nicht als Kulturpessimismus mißverstanden werden sollte. Schließlich ist das (oder ein) Wesen der Kunst Schönheit, und Schönheit ist einerseits unvergänglich und war andererseits nie das entscheidende Wesen der Popmusik, die wiederum selbst insgesamt weniger Kunstform oder Genre, sondern eine Geste war, wirkungshistorisch verortbar wie (sagen wir) expressionistische Malerei und Nouvelle-Vague-Filme. Freilich kann auch heute jemand expressionistisch malen, einen NV-Film drehen. Aber nur mit der eingebauten Intention der Wiederholung.
Ende des theoretischen Teils, Übersetzung in die Praxis: Man kann sich, wenn man mag, diese und nächste Woche damit vertreiben, neue Alben von (Achtung! reiner Zufall) zum Beispiel Pam Pam Ida, Pascow oder den Türen anzuhören. Oder Joe Jackson oder sonst was oder alles zusammen. Oder Graveyard Bashers, Whiskey Shivers, Metal Inquisitor, Lucky Bastards oder irgend so was, was den derivativen Ansatz des Tuns schon im Titel trägt. Oder mal wieder Udo Lindenberg hervorkramen, die Zentralfigur der deutschen Popmusik ungefähr von Anfang bis Ende, in der sich alles sammelt, was an Schönheit, Provokation, Peinlichkeit und historischer Stringenz in eine Popmusik hineingehen und aus ihr herausgequetscht werden kann. Udo war von Anfang an Abklatsch und zugleich völlig neu, Rebell und Kasperl, Einzelgänger und Gesamtverkörperung, auch Schmelztiegel aller möglichen guten und falschen Gesten.
Er stürmte 1969 in ein Feld hinein, das Deutsche bis dahin höchstens mit schützenden Überschuhen vorsichtig betapst hatten, quasselte und nölte Zeug, das mal blendend witzig, mal völlig daneben war (aber immer irgendwie „neu“), verlor den Faden, grub zwecks Wiederfindung in der tiefsten Vergangenheit, wanzte sich ran und zog (nur symbolisch!) den Hut, suchte und fand dies und das und ließ es wieder fallen, je nach Lust und Laune, Langeweile oder Verzweiflung. Irgendwann fing er an, sich selbst zu zitieren, kopieren, persiflieren, verlieren. Ungefähr: Ende des letzten Jahrtausends. Oder meinetwegen ab Album 14 oder 17 von 36 oder 47.
Seitdem schüttet das Land den zerwitterten alten Knorr mit Ehrungen, Gedenktafeln, Medaillen und Firlefanz zu, holt ihn als Zeugen, als Staffage, als Beleg eigener Wichtigkeit und Türöffner und Paten aus dem Loch. Und seitdem ist es ziemlich egal, wann und wie etwas von Udo Lindenberg erschienen ist – die „Zeitmaschine“ zum Beispiel 1998. Und 2019, möglicherweise „remastered“, aber ohne hör-, spür-, sichtbare Veränderungen, also im Grunde identisch und zeitlos, dem Titel gemäß/getreu. Könnte auch 1979 gewesen sein; nämlich: ein (schweinischer) Text von Brecht, einer von Karel Gott, einer von Ideal, viel Ströer Bros., etwas Orchester, Freundeskreis-Hip-Hop-Pudding, eine Dance/House-Sängerin als Gast auf einem Bert-Kaempfert-Song … alles irgendwie wirr und nett, schön und seltsam, vielleicht deshalb ohne Zeit und Ort und damals so ziemlich das Erfolgloseste, was er je probiert hatte.
Kann sein, daß die Popmusik Suizid begeht. Bei Udo Lindenberg stirbt sie höchstens irgendwann an Altersschwäche, und das macht nichts, wenn unter dem Riesendenkmal, das er ist und zugleich nie war und sein wird, gelegentlich hübsche Krümel wie diese hervorbröseln.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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