Freitag, 1. März 2019

Belästigungen 24/2018: Achtung, hier kommt ein missionarischer Gedankenfluß! (und bricht rechtzeitig ab)

Der Winter ist eine paradoxe Veranstaltung. Massen von möpselnden, miefenden, murrigen und knurrigen Menschenwesen pressen sich zu Zeiten, in denen das Tageslicht noch nicht mal daran denkt, sich anzuschalten, in seuchige U-Bahn-Züge hinein, um sich an … na ja, nicht Orte, eher: Stellen schießen zu lassen, wo sie sich mit Massen von möpselnden, miefenden, murrigen und knurrigen Menschen in Gebäude hineinpressen können, um … Tätigkeiten zu verrichten, Gegenstände in die Hand zu nehmen und woanders wieder hinzustellen, Papier und Magnetspeicher mit Zeichen vollzukritzeln und zu -müllen, sich damit zu stressen, ihre Gestreßtheit zu demonstrieren, und zu stöhnen, wie gern sie jetzt und überhaupt ganz was anderes täten.
Nach der vorgeschriebenen Zeit, in der sie dies tun „müssen“, eilen sie durch erneut dunkle Straßen, pressen sich erneut in U-Bahnzüge, rasen durch neonlichtverseuchte Warenhallen und stopfen Taschen mit diversen Gemengen aus Weizenmehl, Industriefett und Zucker voll, überfluten derweil unablässig ihr Hirn mit legasthenischen Pseudomeldungen aus den zugewucherten Randbezirken der Matrix, absolvieren nach Vertilgung der mikrowellengesottenen Gemenge eine Einheit chemisch induzierten Schlaf, aus dem sie sich von elektronischen Alarmgeräuschen prügeln lassen, um … genau dasselbe wieder zu tun, Tag für Tag.
Derweil lächelt die Sonne in den wenigen Stunden, die ihr der Fürst der Finsternis zugesteht, trüb und unbeachtet leicht melancholisch vor sich hin, weil niemand sie sehen will. In den leeren Kneipen vertreiben sich einsame Kellner angemessen graugesichtig die leere Zeit mit den gleichen legasthenischen Pseudomeldungen oder zählen die Fässer, in denen die wertvolle Frucht in Jahrtausenden perfektionierter Braukunst traurig darauf wartet, daß jemand sie genießt.
Kann aber niemand; die Tage sind zu kurz, es muß geschuftet, bestellt, gekauft, geschleppt, gestapelt, rotiert, geliefert und entsorgt werden, Massen von Zeugs und noch exponentiell größere Massen von Zeugs, wenn das „Fest“ naht, das angeblich dazu dienen soll, der Geburt eines Erlösers zu gedenken, der mit seiner Erlösungstätigkeit ganz offensichtlich grandios gescheitert ist. Da steigert sich die Raserei dann zur apokalyptischen Hysterie, brennen künstliche Tannen, kotzt man die Kanalisation mit überflüssigen Lebensmitteln voll, foltert sich mit Blockflöten, und wenn zwischendurch der Kragen mal energisch platzt, löscht man im Handstreich ganze Familien aus und sehnt Mitte Dezember den Mai herbei, in dem einem verbreiteten Mythos zufolge alles ganz anders und neu werden soll. Die Mehrheit indes verliert die Geduld, preßt sich in fliegende U-Bahn-Imitationen und läßt sich in Gegenden schießen, die ausschauen wie der Hinterhof eines Megasupermarkts, wo aber immerhin die Sonne brennt und Tante Agathe einen nicht findet.
Warum das alles so ist und angeblich („Realität“!) „nun mal“ so sein muß, weiß niemand. Nicht der Igel, der derweil friedlich unter seinem Laubhaufen schlummert und im Traum ein wunderschönes Jahr an sich vorbeiziehen läßt. Nicht der Hase, der das gleiche in seiner Erdhöhle tut. Nicht der Baum, der sein gebrauchtes Laub dem Igel schenkt, sich ins Wurzelwerk mummelt und ausgefallene Astwuchsmuster für den nächsten Frühling ersinnt. Und sowieso nicht der Mensch.
Der nämlich müßte seiner verschütteten Natur gemäß folgendes tun: nichts. Das heißt: gemütlich im Bett herumgammeln, die Vorräte aus dem langen Sommer verspeisen, sich lustige, nachdenkliche, wichtige und blödsinnige Geschichten erzählen, sich wärmen, streicheln, lieben und im Arm halten, hin und wieder den Ofen anschüren und ein Buch aus dem Regal ziehen oder neue Musik auflegen und sich abends um den Zapfhahn versammeln, um in größerer Gesellschaft das gleiche zu tun und dann zufrieden berauscht wieder unter die Decke zu kriechen, sich von der Spätvormittagssonne notdürftig wachkitzeln zu lassen und … genau dasselbe wieder zu tun, Tag für Tag. Bis irgendwann der Krokus sprießt und die Vögel zwitschernd melden, daß die Wiesen warm und trocken genug sind, um dort herumzulümmeln.
Wieso das von den Massen von möpselnden, miefenden, murrigen und knurrigen Menschenwesen da draußen niemand tut, weiß auch ich nicht. Ich vermute jedoch, daß sich diese Spezies, die einst mindestens so anmutig, bescheiden und zufrieden den Erdball bevölkerte wie Igel, Hase, Baum und alle anderen Zeitgenossen, erst durch die trotzige Verweigerung des Winterschlafs in die gegenwärtig vorliegende, von keinem Erlöser mehr erlösbare Masse von möpselnden, miefenden, murrigen und knurrigen Erscheinungen verwandelt hat. Daß sie sich unterbewußt für den eigenen Zustand und ihr unwürdiges Gerödel und Gewese schämt und es deswegen in den Untergrund und hinter dicke Mauern verlegt hat (oder ist schon mal ein Igel auf die Idee gekommen, U-Bahnen, Aufenthaltsräume – welch absurde Bezeichnung für Räume, in denen sich niemals ein Lebesewesen freiwillig aufhielte, abgesehen von Schimmelpilz und Kakerlake, und die auch nur notgedrungen und weil dort Menschen sind – und Profit-Center zu bauen?). Und daß dieser Zwangslauf der Degeneration dazu führen wird, daß in nicht allzu ferner Zeit alles mögliche auf dem Erdball herumkreuchen und -fleuchen wird (möglicherweise sogar ein paar selbstfahrende Autos), aber garantiert kein Menschenwesen mehr.
„Du darfst nicht vergessen“, mahnt die Liebste, „heute noch deine Kolumne zu schreiben!“
Oh, huch. Da bricht er ab, der missionarische Gedankenfluß, das Eichkätzchen auf dem Fensterbrett kichert spöttisch, und der Spiegel zeigt ein weiteres Exemplar der o. g. Spezies. Das jedoch gelobt, sich zu bessern und unmittelbar nach dem Punkt am Ende dieses Satzes damit anzufangen. Gute Winternacht!

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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