Der Herbst ist der Bruder des Schlafs. Des Schlummers,
durchwoben von Träumen und Erinnerungen, in denen sommerliches Gelächter, leise
Tränen, zehrende Sehnsüchte und wolkige Leichtigkeit nachhallen wie aus einem
Kino am Ende einer verlassenen nächtlichen Straße. Da erklingt auch Musik, die
im Moment des Erklingens schon ertrinkt im tiefen Blau der Ewigkeit, in einem
Pool, einem See aus Hall und Leere. Am Strand steht ein kleines Haus, in dessen
Fenstern nachts Kerzen brennen.
Nicht ganz nüchtern betrachtet wirkt das neue, das sechste
Album von Beach House (und das zweite innerhalb von zwei Monaten!) wie eine
sehr extended Version jener berühmten Vor-Schluß-Szene in Jack Claytons „Great
Gatsby“-Verfilmung von 1974, in der scheinbar ganz offensichtlich nichts
passiert und vermeintlich alles geklärt ist, und als dann alles auf einmal
passiert und das ganze, die gesamte Erlebniswelt umspannende Phantasiegebilde
mit einem Schuß in Trümmer fällt, ist es zu spät und der zeitlose Augenblick
absoluter Unbeschwertheit längst zur Ewigkeit geronnen, zur Erinnerung, die für
immer bleibt, wenn und obwohl alles vergangen ist, völlig und restlos. Es soll
Menschen geben, die von dem ganzen Film nur diese Szene im Gedächtnis behalten
und alles andere, auch ihre mörderische Zernichtung, vergessen haben.
Für Beach House – Sängerin/Keyboaderin Victoria Legrand und
den Gitarristen Alex Scally – ist „Thank Your Lucky Stars“ (der Titel entstammt
einer britischen TV-Musiksendung, die von 1961 bis 1966 für Popmusikfans
unverzichtbar war) zugleich eine Weiterentwicklung („wobei wir“, wie Scally
schon zum Ende August erschienenen Vorgänger „Depression Cherry“ meint, „den
kommerziellen Hintergrund, in dem wir existieren, völlig ignorieren“) und das
Schließen eines Kreises: So sparsam instrumentiert, luftig arrangiert und
vermeintlich schwerelos wie hier hat man das Duo seit seinen ganz frühen Tagen
vor elf Jahren nicht gehört. Ideale Musik, möchte man meinen, um damit eine herbstliche
Wohnung zu füllen, während man sich den jahreszeitlich bedingten Auf- und
Umräumarbeiten widmet, Geschirr spült, Wäsche wäscht, Bücherregale abstaubt,
Wände streicht, Möbel neu arrangiert: Man nimmt sie nebenbei kaum wahr, und sie
ist trotzdem da, wie der Duft von Blumensträußen und Birnenquitten auf der
Fensterbank.
Aber freilich trügen die harmlos schwebenden Melodiebögen,
die schimmernden, scheinbar unbeteiligt vorgetragenen Klänge, die unscheinbar
kargen elektrischen Rhythmen, die weltferne, körperlose Stimme von Victoria
Legrand, die gelegentlich an Debbie Harry, Hope Sandoval beziehungsweise Nico
erinnert. Worum es ihr geht, ist – das war noch nie so deutlich spürbar wie
hier – der Song selbst als pures Artefakt, unbenetzt von Soundeffekten, interpretatorischen
Individualismen und Schnickschnack. Die Verträumtheit, die man an und in
Liedern wie „Somewhere Tonight“, „All Our Yeahs“ und „She's So Lovely“ zu
spüren meint, verfliegt augenblicklich, wenn man zum Beispiel „Elegy To The
Void“ in angemessener Lautstärke hört und richtig hinhört.
Dann erstehen diese Songs zu wahrer Größe, dann schüttelt
man erstaunt den Kopf über den Gedanken an eine Rückentwicklung, den flüchtigen
Eindruck von Belanglosigkeit und Ungreifbarkeit. Dann tun sich auch Abgründe
auf, die die leise Tränen und zehrenden Sehnsüchte der Sommererinnerung
schlucken, und die Wirkung ist – viel mehr als auf eher poppigen Alben wie
„Teen Dream“ (2010) und „Bloom“ (2012) – enorm heilsam. Mag er kommen, der
Herbst; unser Schlaf wird ruhig und friedlich sein.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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