Ein dünner Mann geht durch die Stadt. Bisweilen bleibt er
stehen und betrachtet versonnen belustigt das Treiben der Menschen, ihre
Wichtigkeiten und Wimmeleien. Dann fremdelt er mal wieder, der dünne Mann, weil
er nicht mittun mag und noch nie mochte bei dem Karussell der Konsumiererei
momentaner Topprodukte, die sich ein paar Wochen lang neben den Kaufhauskassen
und kaum ein paar Jahre später auf den Wühltischen stapeln.
Für einen solchen Circus ist ihm Musik zu wichtig, zu groß,
zu erfüllend, zu teuer im klassischen Sinne, denn sein Leben ist Musik. Es
könnte ihn mit leiser Wehmut erfüllen, daß in diesem Herbst jedermann und -frau
und -kind das gesamte Familienmusikbudget in das zweite Wanda-Album investiert
– das sicherlich ein sehr schönes Album ist, im Grunde aber dem ersten ähnelt
wie ein Pfannkuchen dem anderen und sich durch übermäßigen Gebrauch ebenso
schnell abnützen wird wie dieses. Hingegen kümmert es kaum jemanden, daß der
dünne Mann soeben eine Platte gemacht hat, auf der die famoseste,
meisterhafteste, mitreißendste, authentischste, schlicht beste Teufelsmixtur
aus Soul, Funk und Jazz zu finden ist, die die in vielen Wassern gebadeten
Ohren des Autors dieser Zeilen je gehört haben. Den (Autor) erfüllt dies
tatsächlich mit einer gewissen Wehmut, den dünnen Mann nicht; denn mag seinen
Blick auch gelegentlich eine milde Melancholie verklären: In seinen Adern
fließt nicht schweres Blut, sondern reine, brodelnde Begeisterung.
Dazu gibt es eine Geschichte, die im Jahr 1963 beginnt, als
der dünne Mann im Apollo Theatre im New Yorker Stadtteil Harlem als
Garderobenjunge für James Brown ein paar Groschen verdiente und, als sein
Arbeitgeber Pizza essen war, ein Mikro in die Hand nahm und vom elektrischen
Schlag getroffen wurde, der seine Stimmbänder zum mächtigsten Gospelorgan
diesseits der babylonischen Mauern stromte.
Auf Anraten von Otis Redding suchte er sich eine Band
zusammen; nein, keine Band, sondern die wahnwitzigste Truppe von
Soul-Funk-Fanatikern, die je auf Gottes Erdboden gelärmt hat: Schlagzeuger
Wolfman Slim, einst Buchhalter in einem Wettbüro, den begnadeten Pianisten Cool
Daddy G. (der schon als Kind Klavier spielen wollte, aber laut eigener Aussage
zu faul war, den Deckel hochzuheben), den polnischen Lederjackendealer und
Pillenkopf Piot Tictacowski, den er in der finsteren Exilantenbar
Scwierigczuszreiwn in New Jersey auf deutsch ansprach und die Antwort („Was
ist?“) in genialischer Treffsicherheit als „Bassist“ verstand, den in der
balkanischen Esoterikszene als Guru verehrten Gitarristen Mr. Bubbles, das
dreiköpfige Gebläse Motor City Horns aus Tom Shreve, Tom-Toot-in-the-Tin und
Big Boy Godzilla, das er (u. a.) Frank Sinatra ausspannte, sowie drei Megawattbatterien
in Gestalt der DiLorettes-Sängerinnen Miss Donna Weather, Miss Sugar Kane und
Miss Toffy Faye
Freilich: alles Humbug, eine frei erfundene Kolportage (die
auf der Webseite der Band genußvoll und detailfreudig weitergesponnen wird).
Aber eben nicht doof, sondern witzig und charmant, wie so gut wie alles, was
der Hauptprotagonist in seinem bahnen-, kurven- und nischenreichen
Künstlerleben so macht: Unser dünner Mann ist selbstverständlich Ecco Meineke,
als Kabarettist einer der liebenswertesten, aber auch begnadeter Schauspieler,
Geschichtenerzähler, Identitätenschöpfer und eben Musiker, der all diese
Berufungen gerne verbindet, weil ihm sein „echtes“ Ich (als das er mit dem
Liederalbum „Der dritte Montag“ 2000 leider nicht den verdienten Ruhm erntete)
halt nicht genügt.
Authentizität aber ist keine Frage der Her- oder Hinkunft,
der Haut- oder Augenfarbe, keine Frage der Person, sondern schlicht eine Frage
der Musik, die in und aus ihr lebt. Und daß auf diesem Album die famoseste,
meisterhafteste, mitreißendste, authentischste, schlicht beste Teufelsmixtur
aus Soul, Funk und Jazz lebt, die der Autor dieser Zeilen je gehört hat –
diesen Satz hat nicht der dünne Mann erfunden. Der läse ihn sicherlich errötend
und sanft lächelnd und hätte dabei schon wieder was Neues im Sinn.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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