Samstag, 2. Februar 2019

Frisch gepreßt #428: The Rolling Stones "Beggars Banquet"


Was für eine hübsche (auto)biographische Koinzidenz: Während die erste (wichtige) Platte meines Lebens (heißt: zwei Platten, siehe das letzte Heft) noch Tag um Tag den Tag in ein Wunderland klirrbunter Erinnerungen taucht, schwuppt nach dem „Weißen Album“ der Beatles das unfreiwillig ebenfalls zumindest kerzenwachsweiße Album der Rolling Stones daher – und die Aufarbeitung des historischen Materials könnte unterschiedlicher nicht sein.
Aber erst mal ein bisserl (Auto)bio: Im Winter 1968/69 war – abgesehen vom Doors-Debut und wochenweisen Leihgaben (Monkees und Beach Boys) das Beatles-Album die einzige Musik in meinem Leben, die erste als „eigen“ empfundene sowieso. Aber selbst „Revolution 9“ lackierte sich nach wochenlangem Dauerdrehen mit einer Schicht von Repetitivität (und wurde auswendig, wenn auch rein phonetisch mitgesungen). Das erwachte Popbewußtsein hungerte nach mehr – und stürzte im Frühjahr 1969 den damals fünfjährigen Autor in zwei Dilemmata: Zunächst mußte aufgrund begrenzten Budgets nach Besuchen der Spielwarenhandlung Obletter und des Musikfachgeschäfts Lindberg (mit telephonzentralenähnlicher Abhörabteilung) zwischen Akustik (Platte) und Optik/Haptik (Matchboxauto) entschieden werden. Was relativ leicht fiel (Popbewußtsein!).
Dann folgte die schwierigere Wahl, die bis heute nicht auf ewig entschieden ist und Züge einer harmlosen Form von Schizophrenie trägt: Zwar ruderten damals auch die Beatles irgendwie zurück zu (ihren) Wurzeln, aber die Stones taten das nach dem Psychedelic-Schnickschnack des „Summer of Love“ mit einer solchen Vehemenz, daß man sich ab da entscheiden mußte: dies oder das! (Es kam zu Scheidungen und zersplitterten Freundeskreisen.)
Mein Herz schwankte und schwankt, aber zu mindestens 51 Prozent gehört es den Rolling Stones, die sich so einen „Schmarrn“ (in den Ohren des Fünf- bis Zwanzigjährigen) wie „Julia“, „Long Long Long“ und „Good Night“ sparten und dafür im Innenklappcover als wilde Halbkriminelle auf der dekadentesten Gelage-Nachparty zu sehen waren, die man sich nur vorstellen konnte – im gewaltschwangeren Dreivierteldunkel, das auch Songs wie „Sympathy For The Devil“, „Street Fighting Man“, „Stray Cat Blues“, „Parachute Woman“ und selbst „Salt Of The Earth“ verschattete. Kaum Zweifel: Die Beatles wollten spielen, die Stones umstürzen, was auch immer.
Es gibt nicht viele Musikaufnahmen, die nach fünfzig Jahren weder etwas von ihrer Brisanz, Dynamik, Effektivität, Abenteuerlichkeit, Frische, Energie und Brillanz verloren noch einen völlig anderen Charakter angenommen haben. „Beggars Banquet“ ist eine davon: Legt man die Platte heute auf, hebt sich augenblicklich der Vorhang, und 2018 verwandelt sich in das epochale, monströse Jahr 1968 (in dessen Dezember sie erschien) und seine diabolisch chaotische Nachgeburt 1969 (als idealisiertes Phantasiegemälde, das sie übrigens damals schon waren). Da ist kein Ton auch nur um einen Baumring „gealtert“, und was davon und wie angeblich 2018 „remastered“ wurde, überlassen wir den Hi-Fi-Freaks. Für alle übrigen Erdbewohner gilt: Dieses Album allein rechtfertigt die Anschaffung eines Vinylplattenspielers und der lautesten Lautsprecherboxen der Welt.
Die Dualität zwischen Popkönigen und Outlaws spiegelt sich heute übrigens auch oder vor allem in der erwähnten Aufarbeitung: Die Beatles waren damals (zerstritten und juristisch verstrickt, aber dennoch) Herren ihrer eigenen Schöpfung. Die Rolling Stones sperrte man ins Gefängnis, klaute ihnen die Songs und gab ihnen die Rechte daran bis heute nicht zurück. Deswegen ist diese „Anniversary Edition“ im Grunde ein Witz: Als „Bonustrack“ gibt es „Sympathy For The Devil“ in mono, als „Bonusmaterial“ das damals von Decca untersagte Toilettencover und eine Flexidisc mit Mick-Jagger-Radio-Telefon-Bla. Sonst nichts. Was andererseits auch nicht nötig und eigentlich symbolisch ziemlich treffend ist (und alles übrige haben der Nerd und der biographisch Betroffene ja sowieso längst auf hundert Bootlegs).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN München.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen