Donnerstag, 3. Mai 2018

Frisch gepreßt #410: Belle & Sebastian "How To Solve Our Human Problems"



Die „Indie“-Szene, also die Bands der mittleren 80er bis 90er, die Helden der Eltern heutiger Uniabsolventen, die sich ungefähr so ausbreiteten wie Grünlilien (denen sie frisurtechnisch auch überwiegend ähnelten), bis die ganze Welt bis ins hinterste Niederostwestfalen ein Riesenfeld identischer Grünlilienbands war …, – diese Szene war ein seltsames Phänomen. Seltsam vor allem: Sie geht nicht wirklich ganz weg, obwohl sich außer ein paar bald rentenreifen Scenesters keine Sau mehr für sie interessiert und sie sich in 30 Jahren praktisch nicht verändert hat.
„Na ja, die Rolling Stones gab es auch ziemlich lange. Wenn man sehr großzügig ist, gibt es sie sogar immer noch.“
Stimmt, aber die Rolling Stones haben in ihren ersten 15 Jahren nicht nur sich selbst, sondern die populäre Musik und die gesamte Welt so permanent und gründlich und mit einer solchen Geschwindigkeit verändert, daß manch einem Zeitzeugen heute noch der Kopf brummt und Nachgewachsenen das Blech wegfliegt, wenn man ihnen das auch nur in winzigen Ausschnitten vorführt. Gilt übrigens auch für die Beatles, Kinks, The Who, sogar die Monkees, gilt auch für die Glam- und Progressive-Rocker danach und erst recht für die ersten Punk- und New-Wave-Bands, bei denen alles noch viel schneller und gründlicher ging.
„Gilt aber auch für Primal Scream.“
Grr. Regelbestätigungsausnahmen ändern die Regel nicht. Die durchschnittliche Indieband spielt seit 25 Jahren Abfolgen von vier Akkorden, singt dazu verhuschte Sachen und sieht aus wie ein Blumenkasten voller Grünlilien (dunkle Variante). Wenn sie einen großen Moment hatte, dann nur einen, ganz am Anfang. Außer …
„Aha?“
Außer Belle & Sebastian. Bei denen war das irgendwie anders: Sie kamen spät (1994), waren streng genommen gar keine richtige Band (sondern ein pädagogisches College-Projekt namens „Beatbox“ für arbeitslose Jungmusiker), hatten keinen wirklich großen (kommerziellen) Moment, sondern viele kleine, wurden im wesentlichen nur von vereinzelten verhaltensgestörten Stubenhockern so richtig geliebt sowie von ein paar renegaten Musikkritikern, Fanzine-Nerds und alternativen Filmemachern (was im Grunde das gleiche ist). Sie ließen sich, of all people, von Trevor Horn produzieren, von Thin Lizzy inspirieren, erzählten meistens schon in ihren Albumtiteln ganze Kurzromane, machten ein richtig süßes Glamrock-Album (The Life Pursuit, 2006), wurden zur größten schottischen Band aller Zeiten gewählt (vor den Bay City Rollers und, ähem, Simple Minds!), pflegten alle möglichen Neben- und Kooperationsprojekte (Looper, The Vaselines, God Help The Girl, The Reindeer Section usw.), verschwanden zwischendurch immer wieder, auch mal für länger, und blieben irgendwie über ein Vierteljahrhundert immer diese imaginäre Clique blasser Spätjugendlicher, mit denen man gerne mal eine Tasse Tee tränke, die man aber nie nach einem Autogramm fragen täte, während um sie herum neue Generationen von Strokes und Franz Ferdinands die Indie-übliche Eintagsfliegen-Halligallishow abzogen. Und ...
„Noch was?“
Das wichtigste: Niemandem ist es je gelungen, niemand hat auch nur ernsthaft versucht, sie zu imitieren oder – wie man so sagt – „ihren Ansatz aufzugreifen“, weil dieser „Ansatz“ zwar scheinbar zum Greifen deutlich ist, weil man ihn aber einfach nicht greifen kann, niemand und nie, möglicherweise nicht mal sie selbst. Weshalb sie einfach immer weitermachen können oder müssen, immer absolut sie selbst bleiben (auch wenn vermeintlich wesentliche Mitglieder kommen und gehen und lediglich Stuart Murdoch immer bleibt) und trotzdem immer anders sind. Als wären sie ein Paralleluniversum voller Bands, in dem eine komplett andere, klischeefreie Popgeschichte abläuft als die, die wir kennen und die uns, seien wir ehrlich, immer nach kurzer Zeit (und manchmal seit sehr langer) zum Hals raushängt.
„Das gilt auch für … hm, nein.“
Eben. Bringen wir es auf den Punkt: Dies – diese Sammlung von drei EPs, die genau rechtzeitig zum Vorfrühling erscheint – ist nichts weiter als schöne Musik, an der man sich erfreuen kann, ohne je einen Ton von Belle & Sebastian gehört zu haben. Dann aber eben auch.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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