Mittwoch, 24. Februar 2016

Belästigungen 03/2016: Vom Nachbarn und vom Furor des Vorfrühlings (bitte keinen Zusammenhang suchen!)

Wer braucht eigentlich Nachbarn? Nachbarn sind das allerletzte! Kaum will man schlafen, veranstalten sie Tischtennisturniere und Blockflötenkonzerte oder greifen zum Preßlufthammer, um Mauern einzureißen. Wenn man andererseits mal Gäste bewirten muß, weil aufgrund der unmenschlichen Münchner Sperrstundenregelungen noch keine Kneipe aufhat, oder das Schaffen von Miles Davis in den siebziger Jahren einer Neubewertung zu unterziehen trachtet, hämmern sie mit Besen gegen die Wände, um eine angebliche Belästigung anzuprangern.
In sämtlichen Ecken und Winkeln der Wohnung stapeln sich ihre verpackten Konsumgüter, die sie vor Jahren bestellt und offenbar doch nicht so dringend gebraucht haben. Aber kaum erwartet man selbst ein lebensnotwendig dringendes Paket und muß fünf Minuten aus dem Haus und der listige Bote hat mal wieder an der nächsten Ecke gelauert und rumpelt genau in diesen fünf Minuten daher, dann ist keiner da, weil die Kerle angeblich arbeiten oder sonst was müssen. Wo sie doch ganz offenbar den ganzen Tag nichts anderes tun als Würste und andere Scheußlichkeiten in Pfannen zu verbrennen, um das Treppenhaus zu verpesten.
Aber das sind ja nur alltägliche Kleinigkeiten! Wenn Nachbarn durch eine unglückliche Wendung der kapitalistischen Erbmechanismen in den Besitz von Geld geraten, hängen sie einem Balkone übers Fenster oder kaufen sich einen Porsche, um zu Zeiten, in denen vernünftige Menschen die Zumutungen des Alltags in Träumen verarbeiten, durch die Hofeinfahrten zu brettern und die Terrormotoren knattern zu lassen, daß der Putz rieselt und die Vögel aus den Bäumen fallen. Steht ihnen Grünland zur Verfügung, pflanzen sie Koniferen, Thujen und anderes Nadelgestrüpp, durch das kein winziges Sonnenstrählchen mehr dringt, und wenn sie ein ganzes Land ihr eigen nennen, dann kommen sie irgendwann auf die Idee, irgendwo einzumarschieren und irgendwas zu annektieren.
Im Extremfall. Normalerweise ist es die naturgegebene Aufgabe des Nachbarn, sich zu beschweren und einzumischen. Zum Beispiel dann, wenn man Sachen aus dem Fenster schmeißt, was ebenso natürlicherweise hin und wieder sein muß, weil einem sonst der Kragen platzt und ein Magengeschwür wächst. Das gilt insbesondere zu jener seltsamen Jahreszeit, die eventuell Vorfrühling heißt und unter den Bedingungen der Erderwärmung ungefähr eine bis zwei Wochen nach dem Ende des Spätherbstes (Weihnachten) eintritt: Da strahlt die Sonne, bläut die Luft, zwitschern die Vögel, und der Mensch entsteigt seinem Winterlager, um Vorbereitungen zu treffen, die für eine ordnungsgemäße Durchführung des Frühlings nötig sind.
Dazu gehört, die seit den Neunzigern nicht mehr entstaubte Wohnung „auf Vordermann“ zu bringen, in deren versteckten, selten bis nie beachteten Schränken und anderen Lagerstätten Stapel von Studienunterlagen, Gerichtsurteilen, Zeitungsausschnitten und anderem Zeug, das man „irgendwann noch mal durchschauen“ wollte (und im Grunde will) langsam zusammensinken und dabei hin und wieder einen der Silberfische plätten, die durch ihr Fraßwerk das Zusammensinken bewirken. Weil man beschließt, daß einem das Zeug nun wirklich endgültig nichts mehr sagt (zwanzigseitige Scheidungsurteile? mit unentzifferbar wirren, verblaßten Graphiken gefüllte Zettel mit Aufschriften wie „Segmentierungsvorschlag zur erzählten Zeit des Erzählers“?), füllt sich zunächst die Altpapiertonne (Nachbar: „Da müssen Sie aber schon die Klammern entfernen, oder sind die aus Papier, hm?“). Weil man grad dabei ist, gefällt einem das mit großteils photokopierter Literatur zur deutschen Geschichte der Jahre 843 bis 1970 gefüllte und ungefähr gleichzeitig mit gewissen Banken in Schieflage geratene Regal auch nicht mehr recht. Also baut man es ab, wodurch der Raum aus dem optischen Gleichgewicht gerät, weshalb die übrigen Regale folgen, bei deren Entfernung man faustgroße Löcher in den Putz reißt. Man schleppt in Staubwolken Halden von Büchern in andere Zimmer, wickelt sich in Spinnweben und unklar gepolte Elektrokabel, kratzt Tapetenreste ab, stolpert über Farbkübel und Klappleitern. Und spätestens beim Versuch, nach dem Neuanstrich der Zimmerwände und des Bodens und der Decke die Regale wieder aufzubauen, kommt das Fenster zum Zug, wenn nämlich die Kreuzschlitze der zehnten Kreuzschlitzschraube sich erneut in ein kreisrundes Loch verwandeln und man die Konstruktion mit der linken Hand nicht mehr halten kann, weil einem der Bohrschrauber aus der rechten fällt und unter Mitnahme von Kaffeetasse und Aschenbecher in die zu ihrem eigenen Schutz neben dem Arbeitsplatz gestapelten Spiegel und Bilderrahmen kracht.
Dann heißt es: Fenster auf und hinaus mit dem Zeug! Das Werkzeug zuerst, dann die Scherben und endlich die Malefizregalbretter! Schreitet der Nachbar nicht rechtzeitig ein, dürfen auch die Bücher folgen, weil einen unter anderem der Investiturstreit und die Geschichte des Trinitarierordens sowieso nie mehr interessieren werden und die Dinger dermaßen undankbar und schadenfroh grinsen.
Irgendwann ist die Wohnung dann so weit verwüstet, daß man sie verlassen muß, weil sowieso gerade die Sonne ums Hauseck bricht und die zugestaubten Lungen nach Frischluft krähen. Man steigt aufs Radl und stellt nach vier Metern Fahrt fest, daß der hintere Reifen ebenfalls nach Frischluft kräht oder vielmehr gekräht hat, weil er jetzt nicht mehr krähen, sondern nur noch auf der Felge übers Pflaster scheppern kann.
Was sich anschließend abspielt, ist in zivilisierten Worten kaum zu beschreiben. Fassen wir es sinngemäß zusammen: Wie gut, Herr Nachbar, daß man Fahrräder nicht aus dem Fenster schmeißen kann, weil das zunächst erfordert, sie in die Wohnung zu schleppen, was eine solche Anstrengung ist, daß einem dabei die Wut verpufft. Und falls man's doch schafft und noch genug Restzorn übrig ist, läuft man sperrigkeitsbedingt Gefahr, versehentlich das Fenster gleich mit aus dem Fenster zu schmeißen, und das wäre dann doch zu folgenreich.
Zumal nächste oder übernächste Woche möglicherweise der Nachwinter daherkommt. Da ist ein Fenster schon ganz hübsch, wenn man gemütlich neben dem Ofen in den Trümmern sitzt und Pläne für die Neugestaltung der Wohnung schmiedet, während draußen – möglicherweise, wer weiß! – der Hinterreifen wieder heilt.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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