Das Schöne an der Vielfalt ist die AUSWAHL. Eine
Binsenweisheit. Wer mag, kann sich diese, letzte, nächste Woche mit neuen Alben
dermaßen weiträumig, -läufig und grenzenlos zudröhnen/beschäftigen/die Zeit
vertreiben, daß es nur so schillert: von Ash bis The Darkness, von den Prinzen
bis Helloween; er kann sich auch 14 CDs mit sieben kompletten Yes-Konzerten von
1972 „reinziehen“, in Schlagerquark baden, mit Hardcore das Haus abreißen, den
Kopf mit Reimen über bitches, dudes und dies und das vollstopfen … es ist alles
da, modellgerecht und handwerklich top gefertigt.
Ja, und: langweilig, irgendwie, nicht wahr? Das Schlimme an
der Vielfalt ist nämlich die AUSWAHL, und es gab große, heroische, chaotisch
wilde Zeiten, in denen ein einziges Album für ein Jahr und eine einzige Band
für vier oder fünf Jahre reichten, um die ganze Welt zu beschäftigen und den
Rest höchstens nebenbei sonntagsnachmittags beim Autoputzen aus dem Radio
seiern zu lassen. Sagen wir mal: die Rolling Stones, von 1968 bis 1972 ziemlich
unumstritten die „größte Rock-'n'-Roll-Band auf der Welt“, für nicht wenige
Menschen überhaupt die einzige, in der sich alles sammelte, vereinte und
kulminierte, was an Wahnsinn, Renitenz, Rebellion, krimineller Energie,
Libertinismus, sexueller Freizügigkeit und Perversion, politischer Brisanz, Subversion,
Dekadenz, Drogenkonsum, Tod und Verderben, Outlaw-Chic, Stargetummel, Jet-Set-Kaputtheit,
Lumpeneleganz, Ausschweifung und (pseudo)intellektuellem Word-dropping
überhaupt denkbar war.
Es sind auch nicht wenige, denen vier Alben für ein
Rock-'n'-Roll-Leben genügen und alles weitere höchstens Variation, Verwässerung
und Geplänkel ist. „Beggars Banquet“ (1968), „Let It Bleed“ (1969), „Sticky
Fingers“ (1971) und „Exile On Main St.“ (1972) reichen tatsächlich aus, um die Welt
zu füllen, und möglicherweise ist das dritte davon der zentrale Dreh- und
Angelpunkt, weil sich hier alle Extreme treffen und in Perfektion verschmelzen.
Musikalisch sowieso: Blues und Funk, Orchestergrandezza, Soul-Süße und
20er-Jahre-Straßenstaub, ausufernde, aber auf den Punkt komprimierte
Jam-Improvisation (in dem zufällig mitgeschnittenen zweiten Teil von „Can't You
Hear Me Knocking“) und Hard-Rock-Wucht, Faust-ins-Gesicht-Direktheit („Bitch“)
und Method-Acting-Theater (die Country-Rock-Pastiche „Dead Flowers“).
Aber dazwischen, daneben und darüber hinaus: ein Vulkan an Texten, von denen Mick Jagger später meinte, er hätte sie nie mehr schreiben können, weil er sich automatisch selbst zensiert hätte. In denen alles vorkommt oder sich zumindest herausdeuten läßt, was die Abgründe des Lebens an Schmutz zu bieten haben, vom peitschenden Sklaventreiber in „Brown Sugar“ bis hin zu den selten kaschierten Drogenbezügen dort und in praktisch jedem weiteren der zehn Songs, in denen von „Sister Morphine“, einem Kopf voller Schnee („Moonlight Mile“), Nadel und Löffel und allen möglichen Überdosen die Rede ist. Andy Warhols Cover mit erigiertem Penis und Reißverschluß (der nebenbei andere Platten im Regal zerstörte). Und der Kontext der Entstehungszeit der Platte (1969 bis 1971): Terrorismus, Jean-Luc-Godard, Black Panthers, der Tod von Brian Jones im Swimming-Pool, 300.000 Menschen und tausend weiße Schmetterlinge im Hyde Park, Truman Capote, Michael X, Enoch Powell, „Performance“ und „Ned Kelly“, Marsha Hunt, Marianne Faithfull, Angela Davis und Bianca Pérez-Mora Macias, Drogenprozesse, Totschlag in Altamont, uneheliche Kinder, Scheidungen, Krawalle und Tränengas in Hamburg und Mailand, die infame „Single“ „Cocksucker Blues“, eine Flut von Prozessen, Bootlegs (herausragend: „Get Your Leeds Lungs Out“, im „Super Deluxe Edition Boxset“ nun offiziell erhältlich), Auflösung des Vertrags mit Decca und Gründung des eigenen Labels, Steuerflucht nach Südfrankreich; und was für eine Zeit das war, zeigt vielleicht am schönsten die längst vergessene Episode der Verurteilung von Charlie Watts' Ehefrau Shirley zu sechs Monaten Gefängnis, weil sie auf dem Flughafen von Nizza ein paar Zöllner krankenhausreif prügelte. Diese Menschen, möchte man meinen, waren einige Jahre lang ganz schön aus dem Häuschen.
Yeah, oder sagen wir's mit Jagger: „Wenn Gott will, daß ich eine Frau werde, dann werde ich eine Frau.“ Das heißt: nichts. Und alles. Rock 'n' Roll eben.Aber dazwischen, daneben und darüber hinaus: ein Vulkan an Texten, von denen Mick Jagger später meinte, er hätte sie nie mehr schreiben können, weil er sich automatisch selbst zensiert hätte. In denen alles vorkommt oder sich zumindest herausdeuten läßt, was die Abgründe des Lebens an Schmutz zu bieten haben, vom peitschenden Sklaventreiber in „Brown Sugar“ bis hin zu den selten kaschierten Drogenbezügen dort und in praktisch jedem weiteren der zehn Songs, in denen von „Sister Morphine“, einem Kopf voller Schnee („Moonlight Mile“), Nadel und Löffel und allen möglichen Überdosen die Rede ist. Andy Warhols Cover mit erigiertem Penis und Reißverschluß (der nebenbei andere Platten im Regal zerstörte). Und der Kontext der Entstehungszeit der Platte (1969 bis 1971): Terrorismus, Jean-Luc-Godard, Black Panthers, der Tod von Brian Jones im Swimming-Pool, 300.000 Menschen und tausend weiße Schmetterlinge im Hyde Park, Truman Capote, Michael X, Enoch Powell, „Performance“ und „Ned Kelly“, Marsha Hunt, Marianne Faithfull, Angela Davis und Bianca Pérez-Mora Macias, Drogenprozesse, Totschlag in Altamont, uneheliche Kinder, Scheidungen, Krawalle und Tränengas in Hamburg und Mailand, die infame „Single“ „Cocksucker Blues“, eine Flut von Prozessen, Bootlegs (herausragend: „Get Your Leeds Lungs Out“, im „Super Deluxe Edition Boxset“ nun offiziell erhältlich), Auflösung des Vertrags mit Decca und Gründung des eigenen Labels, Steuerflucht nach Südfrankreich; und was für eine Zeit das war, zeigt vielleicht am schönsten die längst vergessene Episode der Verurteilung von Charlie Watts' Ehefrau Shirley zu sechs Monaten Gefängnis, weil sie auf dem Flughafen von Nizza ein paar Zöllner krankenhausreif prügelte. Diese Menschen, möchte man meinen, waren einige Jahre lang ganz schön aus dem Häuschen.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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