Wenn im frühen Frühling der weiche Regen die Fenster wäscht,
verkrieche ich mich gerne in die Welt der gedruckten Buchstaben. Dies ist eine
extrem verniedlichende Umschreibung für ein schlimmes Problem: die galoppierende
Büchersucht, an der ich leide, seit ich eines Tages von einem lieben Menschen
sozusagen die Einstiegsräuberleiter hingehalten bekam. Wir hatten uns gemeinsam
einen schönen Film angeschaut, und sie sagte, das gebe es „auch als Buch“.
Eine unverschämte Untertreibung. Es gab den Film nicht etwa
als Buch, sondern es gab ein Buch, aus dem irgendwer ein Filmchen herausgewrungen
hatte, so wie man aus einer jahrelangen Beziehung ein „Fazit“ herauswringt oder
Witzchen über Sex macht, von denen man in verzweifelten Momenten zwischen Klo
und Tresen meint, sie seien genauso gut wie Sex.
Ich war angefixt und wurde Junkie. Irgendwann jedoch ließ
ich mich überreden, eine und dann gleich zwei Tageszeitungen zu abonnieren, um
wieder mit der Welt in Kontakt zu treten, deren graugründampfige Ausdünstung
via Fernsehen ich längst nicht mehr ertrug. Ein großer Fehler: Die Bücher
blieben fortan weitgehend im Regal, während ich mich in der Badewanne und im
Liegestuhl mit legasthenischem Propagandamüll quälte und ab und zu sehnsüchtig
ihre Rücken streichelte: keine Zeit, ihr Lieben.
Gott sei Dank: vorbei. Seit sich die deutschen „Printmedien“
durch impertinentes wirtschaftsfaschistisches Indoktrinationsgehampel und
kriegstreiberisches Gelärme endgültig disqualifiziert haben, seit vom
sogenannten Journalismus nur noch zwei, drei Fossilien übrig sind, mit denen
man lieber hin und wieder ein Bier trinkt, ist die alte Sucht zurückgekehrt und
hat eine strahlende, nie vollständig zu ergründende Welt mit sich gebracht, in
der es um gänzlich anderes geht als das angeblich so wichtige Geseier. Und
trotzdem muß ich ein Geständnis ablegen: Ich tue hin und wieder etwas, was
„Kulturmenschen“ für schlimmer erachten als Kinder zu watschen oder in die
Ukraine einzumarschieren: Ich schmeiße Bücher weg.
Die Büchersucht ist eine elitäre Angewohnheit, auch wenn es
auf den ersten Blick anders scheinen mag. So läuten etwa seit Jahren (oder
Jahrhunderten?) in regelmäßigen Abständen die entsprechenden Multiplikatoren
ihre Alarmglocken und behaupten, das Lesen seit eine untergehende
Kulturtechnik, das Buch sterbe aus usw. usf. – dabei wurden in der gesamten
Menschheitsgeschichte nie so viele Bücher ver- und gekauft wie heute. Zugleich
strotzen und platzen sämtliche Medien vor Kaufempfehlungen, die offenbar auch
befolgt werden, und in den Biergärten und Kneipen plärren sich die Leute
gegenseitig zu, welche aktuellen Schwarten man unbedingt kaufen kaufen kaufen
muß, um dranzubleiben, in zu sein und nicht den Zug zu verpassen.
Kein Zweifel also: Es gilt als ungeheuer erstrebenswert,
Bücher zu lesen. Keine Ahnung, wieso. Neunzig Prozent aller Bücher, in die ich
je hineingeschaut habe, waren scheiße, und es waren zehntausende, und neunundneunzig
Prozent aller Bücher, die heute im Handel sind und angeblich „sellen“, sind
ebenfalls scheiße. Wieso also soll es sinnvoll sein, sich irgend so einen
Thrillerdreck namens „Blutrünstig“, „Opfer“ oder „Zerstückelt“ zu kaufen, ein
paar Seiten zu lesen und den Scheiß dann jahrelang irgendwo herumliegen zu
haben, weil „man Bücher nicht wegschmeißt“?
Aber nein, Lesen ist toll, Buch ist supi, und deswegen
betreibt man in Deutschland sogar amtlich „Leseförderung“, freut sich wie ein
Leberknödel über jeden abverkauften Haufen Papier und betoniert die Kaufhäuser
nur so zu mit immer neuen Bestsellerlawinen, die immer dasselbe sind: Müll.
Daß derweil die Bücher, die es wert wären, gelesen zu
werden, seit Jahrzehnten vergriffen, nur in übelsten Ausgaben verfügbar, in
Kleinstverlagen oder gar nicht erschienen sind, ist die Kehrseite einer
verlogenen Kulturfurzerei, die uns klarmachen möchte, jeder noch so minder- bis
nullwertige Sprachschleim sei ein dringend zu wahrendes „Gut“ und nicht das,
was es ist: eine erbärmliche, wertlose, vollkommen überflüssige Ware, die sich
als etwas gaaanz anderes als ein Erfrischungsstäbchen aufführt, nur weil ein
Verlag daran verdient und weil Lesen (im Gegensatz zu Wichsen) eine kulturelle
Tätigkeit sei. Der Kapitalismus kennt keinen Unterschied zwischen Nabokov und
Fix und Foxi, abgesehen von dem kleinen Detail, daß Nabokov, weil „zu
literarisch“ und „anspruchsvoll“, heute keinen Verlag mehr fände, und
Deutschlands große Verlage kennen nicht nur keinen Unterschied, sondern
überhaupt nichts mehr. Außer Summen.
Ein Vergleich: Ebenso dringlich gefördert und gefordert wie
das Lesen wird seit Jahren das Wählen, und der Grund ist derselbe: Wenn ich in
eine Buchhandlung hineingehe und dort mit Lawinen von identisch blödsinnigem
Dreck zugeschüttet werde, gehe ich unverrichteter Dinge wieder hinaus, und wenn
ich in ein Wahllokal gehe und auf dem Stimmzettel keine Partei finde, die nicht
ausdrücklich für Wachstum, Wettbewerb und „Nachhaltigkeit“ „eintritt“, habe ich
eben keine Wahl und schenke mir den Scheiß. Auch hier reagieren die auf meine
Mitwirkung angewiesenen Profiteure wie gewohnt: Anstatt sich zu fragen, ob ich
mir den Scheiß deswegen schenke, weil es für mich nichts zu wählen gibt, wollen
sie mich animieren, verleiten, verführen und drängen. Es ist mir aber nun mal
ehrlich ehrlich ehrlich egal, ob die Exekuteure des Ausbeutungsterrors CDU, SPD
oder sonstwie heißen. Wenn ich etwas, was zum Kotzen ist, nicht ändern kann,
werde ich den Teufel tun und es auch noch durch meine Mitwirkung absegnen. Wer
das „schlimm“ findet und meint, es gerate „die Demokratie“ in Gefahr, sollte
sich fragen, ob er „Demokratie“ nicht mit einer Staubsaugermarke verwechselt.
Ähnlich ist es bei den Büchern, aber immerhin: Da habe ich
eine Wahl. Da kann ich ein vergriffenes Bändchen eines von den Feuilletons mit
Ignoranz gekillten Autors für zehn Cent beim Straßenhändler erwerben und einen
vergnüglichen bis wunderbaren Nachmittag damit verbringen, während ich an den
Megaklötzen der Rummelverlage mit einem herzlichen „Bah!“ vorbeiflanieren und
sie, wenn sie mir ungefragt ins Haus fluten, frohgemut ins Lagerfeuer schmeißen
darf.
Und ich kann sogar hin und wieder, wenn mich jemand auf die
angebliche Welt da draußen und ihren fürchterlichen Zustand hinweisen möchte,
freundlich sagen: Das gibt es auch als Buch, und da ist es ganz anders. Wer
könnte so etwas von Politik, Journalismus oder Heroin behaupten?
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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