Es ist halt so, daß man Zeit braucht. Zum Beispiel wenn man
wo hinkommt und feststellen (oder erspüren) möchte, wie es da ist und was es da
gibt und so weiter. Wenn einer in eine Stadt kommt, braucht er dafür unter
Umständen sehr lange, weil eine Stadt etwas recht Großes ist, mit so vielen
Ecken, Winkeln, Zipfeln, Ausläufern, Buchten, Stellen, Plätzen, Orten und
Winzigkeiten, daß ein Leben wahrscheinlich gar nicht ausreicht, um sie alle
zumindest einmal gesehen zu haben.
Wahrscheinlich macht das Städte so faszinierend und so
anregend. In einem kleinen Ort – vor allem wenn er architektonisch und in
seiner Gesamtanlage dem deutschen Ideal „Schönheit brauchen wir nicht! Dafür
haben wir ein Museum!“ folgt – stößt man schnell an die Grenzen von Interesse
und Neugier (solange man die Schlafzimmer und Keller der Nachbarn nicht mit
einbezieht), und wenn ein menschliches Gehirn an die Grenzen von Interesse und
Neugier stößt, stumpft es ab und wird, wenn es lange und gründlich abstumpft,
am Ende ein Nazi oder ein Harzer Käse ohne Kümmel.
Man kann allerdings auch in Städten abstumpfen; dazu muß man
sie nur oft genug wechseln und sich in der jeweils aktuellen Umgebung bloß die
paar Sachen anschauen, die angeblich „typisch“ oder „wichtig“ sind – für mehr
bleibt dem modernen Ausbeutungsmigranten im Normalfall sowieso keine Zeit.
Deshalb wimmelt es in den letzten Jahren nur so vor Stadtbeschreibungen, in
denen nichts drinsteht als ein paar Klischees, besonders gerne von sogenannten
Journalisten verfaßt, die bekanntermaßen besonders oft die Stadt wechseln und
ihre Buntgetränke am liebsten an den Stellen einnehmen, die angeblich gerade
„typisch“ oder „trendig“ oder „angesagt“ (von wem eigentlich?) oder „wichtig“ oder
pipapo sind.
Da ist München ein besonders beliebtes Opfer. (Nicht nur)
Journalisten, die es in diese wunderschöne Stadt verschlagen hat, wollen
generell so schnell wie möglich nach Berlin und sind, solange das noch nicht
geht, grundsätzlich sauer, weil es in München Sachen gibt, die anders sind als
in Berlin. Jeglichen Versuch, die Stadt kennenzulernen, erstickt der Dünkel,
man kenne sie ja längst und was man noch nicht kenne, sei „lebensunwert“,
dimpfelig und sowieso das Letzte.
Daß München (ebenso wie wahrscheinlich jede andere Stadt,
möglicherweise aber noch ein bisserl mehr) schwer bis kaum zu durchschauen und
zu verstehen ist, ist abgesehen von der erwähnten grundsätzlichen Aussichtslosigkeit
solcher Bemühungen ein alter Hut. Dazu braucht man bloß die einschlägigen alten
Serien von Helmut Dietl anzuschauen und zu verstehen versuchen, warum sie so
schön sind; dazu kann man notfalls auch den Roman „Erfolg“ von Lion
Feuchtwanger lesen und feststellen, daß nicht einmal dieser ansonsten wohl recht
begabte Autor und Journalist in den einundvierzig Jahren, die er in München
aufwuchs und wohnte, besonders viel von München verstanden hat (wenn er zum
Beispiel versucht, Karl Valentin zu beschreiben).
Für Münchner ist das großartig: Es sorgt nämlich dafür, daß
die Karrierekreisel so hurtig wie nur möglich vom Flughafen durch die Stadt
wieder zum Flughafen kreiseln und zwischendurch nicht groß stören; wenn sie aus
ihren Karrierezellen mal rauskommen, um eine „Freizeit“ zu haben und „die Stadt
zu erleben“, rumpeln sie sofort an die einschlägigen Erlebnisausgabestellen,
quetschen sich in Massenherden durch Erlebniszonen, rudeln abschließend vor
„Szenetreffs“ herum und kübeln norddeutsches Industriebier, um sich am nächsten
Tag nur noch daran zu erinnern, daß es irgendwie scheiße war, und den Umzug
nach Berlin voranzutreiben.
Schon deshalb freut es den Münchner, daß der solch Verhalten
fördernde Dumpfbullshit immer mal wieder von „Medien“ (i. e. Gespenstersehern)
zum Hype aufgeblasen wird. So listete etwa kürzlich ein schludrig
zusammengebappter Riemen in einer angeblich milliardenfach „gelesenen“
Onlinezeitung „15 häßliche Wahrheiten, die Ihnen ein Münchner nie über seine
Stadt erzählen wird“. Zum Beispiel diese: „Die Lebenshaltungskosten sind
mittlerweile so hoch, daß Unternehmen Probleme haben, neue Mitarbeiter zu
finden“ (was selbstverständlich das einzig Schlimme an den hohen Kosten ist:
Man findet nicht mehr genug Billiglohnsklaven).
Bemängelt wird zudem, daß es in Leipzig einen City-Tunnel
gibt und in Thüringen eine „hochmoderne ICE-Trasse“ gebaut werde, man in
München hingegen mit der S-Bahn fahren müsse, in deren Bahnhöfen die
Anzeigetafeln „ranzig“ und die Kacheln „versifft“ seien, daß Münchner meist
dort arbeiten, wo die Stadt am häßlichsten ist (während, ergänzen wir in
Gedanken, Konzerne wie BMW und Siemens anderswo in Jugendstilvillen mit
prächtigen Gärten und Orangerien residieren und die Menschen dort, wo es am
häßlichsten ist, lediglich wohnen müssen), daß München keine
„Streetfood-Kultur“ habe und „keine grüne Stadt“ sei, sondern „Deutschlands
Betonhauptstadt“, daß hier „keine Kunst mehr geschaffen, sondern nur noch
ausgestellt“ werde, daß die Ladenöffnungszeiten eine Zumutung seien, und zwar
für jeden Arbeitnehmer (vor allem für den, der nicht bis Mitternacht an einer
Ladenkasse stehen muß), weil es „keine Späti- oder Büdchenkultur“ gebe, daß das
Oktoberfest kein Volksfest mehr und München eine „Stadt der Alten“ sei – weil
„sämtliche relevanten Prominenten über 40 sind, die meisten sogar über 50“.
Dieser Quark wird dann noch drei-, viermal anders
ausgerührt, so daß schwuppdiwupp fünfzehn einander ergänzende, widersprechende
oder wiederholende „Wahrheiten“ draus werden. Und schon fliegt die Kuh, d. h.:
Schon plappert man in den Szenetreffs zwischen den Berlinumzugsgesprächen fünf
Minuten lang über den Schmarrn, sondert gar ein Mann von der sogenannten
Abendzeitung ein paar Zeilen ab. Nächste Woche kommt dann der nächste Hype,
wenn sich zum Beispiel herausstellt, daß der Englische Garten gar nicht so
schön ist, weil da so viele Leute hingehen.
Da muß man sich ein bisserl zusammenreißen, aber das tut man
gerne, weil: Es ist ja gut so. Kommet nur alle, ihr Nichtmünchner, kommet zu
Hauf, findet keinen Arbeitsplatz, sucht vergeblich nach Späti, Büdchen,
Streetfood, Jungpromis und City-Tunnel, schließt euch dem Massenaufmarsch
zwischen Reichenbach- und Wittelsbacherbrücke an, bejammert versiffte Kacheln
und besteigt den Zug nach Berlin, um die unfrohe Kunde weiter zu verbreiten!
Aber meidet die Ecken, Winkel, Buchten, Ausläufer, Zipfel und Winzigkeiten, die
Stadtteile, die (wie ebenfalls bejammert wird) „in einer Parallelwelt vor sich
hindämmern“, wo man „vom bunten Leben in der Innenstadt nur wenig mitkriegt“!
Dort nämlich lebt man, dort blühen Idyllen, Kunst und
Widersinn, die man nur begreifen kann, wenn man dort (und hier) lebt. Dort aber
atmet man auch auf, wenn wieder mal ein Trupp von euch nach Berlin
weitergezogen ist, ohne auf dem Weg noch schnell eine ganze Welt zu zerstören,
um sie zum „lebenswerten“ „Hotspot“ zu kastrieren. Um das zu begreifen, braucht
man Zeit, und die – ja mei – habt ihr nicht.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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