Tolle Frage: Da steht der 14jährige, sprachlos, weil er gar
nicht weiß, wo er anfangen soll. Aber das Problem ist bekannt: Wer als Bams zum
ersten Mal in einen Kaugummi beißt, hat für den plötzlich aufquellenden
Süßrausch aus Aromasensationen zum Vergleich nur Milch, Brei, vielleicht noch
Breze und schlimmstenfalls Gelbwurst. Da ringelt er sich vor Entzücken und
manscht in dem zähen Kautschukknödel herum, nicht achtend der Welt, die sich recht
übersichtlich gestaltet: hier Mama, da Papa, dort ein undurchsichtiges Wallen,
aus dem bisweilen ein Phänomen hervorspitzt, das man sich in den Mund schieben
und feststellen kann, daß es meistens nicht schmeckt (Regenwurm, Batterie,
Badeente, Gelbwurst).
Wer sich den tausendsten Kaugummi in den Mund schiebt, tut
das aus anderen Gründen. Weil er sich gerade einen Döner hineingepreßt hat und
in zehn Minuten im großen Meeting mit seiner World-Advance-Strategy überzeugen
oder andernfalls Hartz IV beantragen muß. Weil die angeheiratete
Immobilienbesitzerstochter die der zeitweise aufgehobenen Sinnlosigkeit des
Rödelns entsprungene Mittagsbierfahne nicht bemerken soll. Oder weil er seit
Jahren vergeblich nach etwas sucht, was ihn die überwältigende Daseinsfreude
empfinden läßt, an die er sich aus der Kindheit zu erinnern glaubt, die aber in
dem Strudel aus Lügen, Zwecken, Zielen, Umwegen und Aufschiebereien verstrudelt
ist und sich mit triggermäßig eingesetzten Gegenständen (von der Schneekugel
bis zur Matchbox-Sammlung) nicht mehr herstellen läßt.
Freilich ist inzwischen auch die Welt keine homogene
Dreigestalt von Mama, Papa und diffuser Idylle mehr, sondern ein Aberwitz aus
Ansprüchen, Krisen, Skandalen, Events und anderem Gepluster inszenierter
Erscheinungsformen, der sich nur ausblenden läßt, wenn man zufällig über etwas
verfügt, das sich weder mit Geld kaufen noch im Workshop oder der
Kaffeemaschine herstellen läßt: Beständigkeit.
Das ist wie beim Verlieben: Sobald das Arsenal an
Aufrißstrategien, Blendtheater und sexueller Spannung vor dem ersten Pimpern
aufgebraucht, der große rosa Kaugummi einmal durchgekaut ist und man den
Menschen da besser kennenlernt, sich ihm gar öffnen sollte, um ihn lieben zu
lernen (oder wahlweise ein paar Bamsen in die Welt zu setzen und sich fürderhin
nicht mehr zu sorgen, vor welchem Fernseher man den „Tatort“ verdämmert), kommt
schon der Impuls, den lätscherten Baz lieber auszuspucken und sich eine neue
Kugel reinzuschieben, um den kindischen Kick wiederzuerleben. Was ein paarmal
geht, auf lange Sicht aber nur zu einem führt: Beliebigkeit (oder wahlweise der
Gewißheit, die nächsten hundert „Tatorte“ vor dem eigenen Fernseher zu
verdämmern).
Gerne meint der moderne Mensch, Beständigkeit sei langweilig
und ein Gefängnis, Beliebigkeit hingegen spannend und die pure Freiheit. Das
Gegenteil ist der Fall. Wer einen Garten ein paar Jahre nicht gesehen hat, wird
ihn und seine Belegschaft nicht wiedererkennen. Wer einen alternden Playboy
jahrelang nicht gesehen hat, wird entsetzt sein über die Verzweiflung, mit der
er immer noch die gleiche Show abzieht, um den sein Wasserbett mit periodischer
Dienstleistungsgymnastik zu rechtfertigen, die ihm keine Freude macht, weil
Ficken ohne Liebe bloß Kapitalismus ist – die Generation Porno lernt das in der
Unterstufe und verlegt sich daher aufs Saufen, was das Elend immerhin für
einige Zeit ausradiert.
So scheitert der moderne Mensch an der eigenen
Wirrsinnigkeit und Feigheit, und merken tut er’s erst, wenn es zu spät ist – es
sei denn, jemand anderer ist beharrlich genug, an etwas einfach festzuhalten,
es wachsen zu lassen, hie und da auszulichten, weiterzuentwickeln, zu hegen und
pflegen und in stiller Freude treu dazu zu stehen, damit der moderne Mensch,
wenn ihm zwischendurch alles zu viel wird und er das haltlose Herummobilisieren
zwischen Wohnkisten, Nulljobs, Events und Fickangeboten nicht mehr erträgt,
sich an etwas, was immer noch da ist (und immer gleich, wenn auch ganz anders),
festhalten oder kurz darüber freuen kann, daß es immer noch da ist.
Jetzt wollen wir nicht pathetisch werden. Das moderne Leben kann
ganz schön sein, wahlloser Sex Spaß machen, Events manchmal lustig sein, Nulljobs
lassen sich vermeiden, und Wohnkisten sind im Sommer eh nur zum Schlafen da.
Aber schön ist diese Vorstellung schon: Als wir vor 30
Jahren, das trübe Ende des „Blatts“ betrauernd und die „Stadtzeitung“ als
Popperblättchen belächelnd, in einem Kopierladen hinter der Uni das erste „In
München“ in der Hand hielten, war die Welt eine komplett andere. Merkel, Handy,
Wiedervereinigung, CD, Laptop, iPad, Privatfernsehen, Independentpop … eine
beliebige Aufzählung von allem, was uns heute den Tag füllt, besteht nur aus
Dingen, die es nicht gab. Es gab ja ein paar Monate zuvor noch nicht mal eine
Grüne Partei. Statt dessen füllte man den Tag mit Dingen, die es nicht mehr
gibt (oder die – siehe Grüne – nur noch so ähnlich heißen).
Trotzdem ist die Welt irgendwie gleich geblieben, und das
liegt nicht nur an der „Krise“, die die gerade an die Macht gelangte neoliberale
Sekte damals in die Wege leitete und seither machtvoll ihrem Finale
entgegentreibt. Sondern auch an dem Heft, das Sie in den Händen halten. Das in
fast nichts dem Heft gleicht, das wir damals in den Händen hielt, und doch das
gleiche ist. Schönen Geburtstag, alte Wursthaut – was sind schon 30 Jahre!
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin In München; diese Folge stammt aus Heft 10/2013 vom 16. Mai.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin In München; diese Folge stammt aus Heft 10/2013 vom 16. Mai.
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