Freitag, 30. Januar 2015

Frisch gepreßt #326: Johnny Marr "Playland"


Es ist kein leichtes Los, „nur“ der Gitarrist einer Band zu sein, deren optisches und öffentliches Aushängeschild und Sprachrohr eine singende Galionsfigur ist. Fragen Sie mal Jimmy Page, Phil Manzanera oder Steve Jones. Oder fragen Sie John Squire, Bernard Butler, Mick Ronson – die kennen Sie alle nicht? Na eben. Fragen Sie zur Not Noel Gallagher, der kennt das schon auch.
Andererseits: hat die aus narzißtischer Sicht undankbare Rolle den kaum schätzbaren Vorteil, daß man tun kann, was, und spielen, mit wem man will. Das ist besonders dann angenehm, wenn man Gitarrist einer Band war, die sogenannte Experten für die wichtigste, größte und einflußreichste aller Zeiten halten. Johnny Marr war Gitarrist bei The Smiths; richtig: das war die Band von Morrissey. Dem Sänger, von dem tumbe Nostalgiker und Puristen immer mal wieder behaupten, er habe seinen Beitrag zur Popgeschichte eben mit The Smiths und seither kaum Wesentliches geleistet. Das ist grober Unfug, aber es zeigt, wie gut es der Gitarrist einer solchen Band haben kann.
Johnny Marr hat diese angenehme Rolle weidlich ausgenutzt; die Liste der Leute, die ihn bewundern bis vergöttern und mit denen er gespielt, gearbeitet, Platten produziert hat, könnte diese Seite füllen: Paul McCartney, Bryan Ferry, The Pretenders, Oasis, The Cribs, Talking Heads, Modest Mouse, Pet Shop Boys, The The, Billy Bragg, Kirsty MacColl, Wilco, Lisa Germano, Bert Jansch, Neil Finn, Jane Birkin …
Schwieriger wird es dann, wenn der Gitarrist die Arbeit für und mit eines Tages über hat und selbst die Position einnehmen möchte, die einst sein alles überragender Sänger innehatte. Kennen Sie die Solo- und Bandalben von Bernard Butler, John Squire, Mick Ronson? von Jimmy Page, Phil Manzanera oder sagen wir: Noel Gallagher? Johnny Marr, der in dieser Hinsicht 2003 (mit The Healers) und einem lauwarmen Album debütierte, macht da keine Ausnahme. Auch auf seinem zweiten „echten“ Soloalbum wünscht man sich noch in den stärksten Momenten (den Glamrockknallern „Dynamo“ und „Playland“, dem hypnotisch walzenden Hardrocker „Speak Out Reach Out“, dem mitreißend dahinratternden „Boys Get Straight“ und dem instrumental fast Smiths-mäßig melancholisch flirrenden „This Tension“) einen „richtigen“ Sänger herbei oder zumindest das penetrante Hallgerät weg, das Marrs Stimme in den weniger guten Momenten zu einer unfreiwilligen Parodie seines eigenen Idols Marc Bolan entstellt und die fehlende Bauchmuskelkraft, die zu dünn geratene Protzlust, die es verhüllen soll, eher hervorhebt.
Aber so ist das eben mit Gitarristenalben. Die Vorstellung, was aus dieser Platte geworden wäre, wenn Morrissey sie besungen hätte, ersparen wir uns lieber, schon weil der längst auf einem anderen Planeten lebt und sie wahrscheinlich eben nur besungen hätte (was er grundsätzlich nicht tut). Daß Johnny Marr kein Sänger ist, hat immerhin den Vorteil, daß er sich ansonsten nach Belieben austoben und den sechs bis zwölf Saiten seines Arsenals von Fender-Jaguar-, Rickenbacker, Les-Paul-, ES-355- und Telecaster-Modellen entkitzeln bis entwringen kann, wofür ihn der Teil der Menschheit, der sich für mehr als alles überragende Sänger interessiert, bewundert bis vergöttert. Die Dringlichkeit, jugendliche Knallenergie und uneitle Präzision, der frische Zorn und die Knappheit, in und mit denen er das tut, erwecken den Anschein, da sei einer am Werk, der ganz am Anfang steht, noch keine Zeit hatte, den Sturm von Ideen, der sein Hirn, sein Herz und seine Finger durchströmt, zu bändigen, und das erinnert dann doch wieder sehr an die Smiths.


Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Donnerstag, 29. Januar 2015

Frisch gepreßt #325: Stephan Zinner "Wuide Zeit"


Man könnte (oder: muß) dem Zinner Stephan eine gewisse Profilunschärfe attestieren, weil: Was ist der jetzt eigentlich – Schauspieler? Kabarettist? Liedermacher? Oder anders gefragt: Kann einer unter Achternbusch an den Münchner Kammerspielen agieren, beim Salvatoranstich den Söder geben, für Marcus Rosenmüller die Kinoleinwand zieren, mit einem Soloprogramm über die Kabarettbühnen ziehen, im „Tatort“ und bei den „Rosenheim-Cops“ herumhüpfen und sich dann noch als womöglich ernsthafter Singer/Songwriter hinstellen, ohne daß es ihn zerreißt?
Vielleicht, sagt der Experte von der Glaubwürdigkeitsprüfstelle, aber: Wenigstens letzteres werden ihm die zuständigen Gremien kaum je abnehmen, weil: Das, was der macht, macht dem doch ganz offenbar Spaß, regelrecht Freude, und das darf es doch nicht! Es kann doch nicht einer hergehen und sich einen Jux machen, Virtuosität mit Leidenschaft, Witz, einer durchaus großen Stimme, Weisheit, Euphorie, besoffenem Klamauk und einem gescherten Grinsen im Mundwinkel in eine Pfanne schmeißen und dann am Ende meinen, daß man ihm (zum einen, zweiten und noch einem Beispiel) den Johnny Cash, den Randy Newman und den Kinky Friedman auf einmal abnimmt! Um wahr zu sein, wäre solches doch viel zu, nun ja, groß!
Aber wenn man bereit ist, die Ohren und das Herz aufzumachen und einfach hinzuhören, dann ist das halt genau so. Dann kann der mit böser und zugleich liebevoller Ironie zu erdigem Soul-Blues von einer „ehrlichen Haut“ berichten (die man notfalls abziehen und einen Mantel draus machen kann), sich ein Pony für den Ritt in die imaginierte Freiheit herbeiwünschen, vom Welt- und Selbsthaß des Computerspielers in der ersten Person berichten, von toten dicken Indianern (die nicht im Fernsehen laufen), Kalendergirls, „Böse Leut“ und von Frauen über fünfzig mit Zöpfen (die irgendwann sterben müssen, trotz Ingwertee) in der dritten. Dann kann der auch ohne weiteres ein Doppelalbum mit vierundzwanzig Liedern auf den Tisch hauen, schimpfen, zürnen, lästern und sich sehnen, eineinhalb Stunden lang die Rollen, Attitüden und Geschichten wechseln, weise, blöd, gemein, saumäßig hinterfotzig und hinreißend charmant sein, mal verblüffend drastisch, mal von kaum widerstehlicher Witzigkeit, immer voller Lust und musikalisch dermaßen, ja mei: virtuos, daß man den Mund selten zukriegt.
Aber andererseits: ein Danny Dziuk (noch ein Beispiel) kann das doch auch, und bloß weil der Zinner im münchnerisch gezügelten oberbayerischen Dialekt singt, denkt und insgesamt ist und lebt, soll man ihm das nicht abnehmen? Bloß weil er sich seine Persönlichkeitsfacetten nicht kastrieren läßt, sondern sie alle einzeln und insgesamt auslebt und zelebriert, vom zerknirscht an der Welt zerbröselnden Tom Waits bis hin zum deppert-weisen Dampfplauderer, der in jeder Suppe ein Haar und an allem und freilich auch an sich selbst die Scharten entdeckt, die die Lächerlichkeit des menschlichen Daseins und Strebens reißt, und mit wehmütiger Bosheit den Finger drauf richtet?
So, möchte man meinen und hat’s damit erkannt und erfaßt: ist er halt. Ein gestandenes, rundum pfundiges Mannsbild, dabei aber changierend, verletzlich, sehnsüchtig und jederzeit bereit, die Distanz liedermacherischer Abgehobenheit als Knüllschmarrn in den Papierkorb zu pfeffern, in spätnächtlich-jazziger Vergeblichkeit ein „Goldenes Herz“ anzuschmachten, anrührend über einen menschlichen „Goldfisch“ zu balladieren, sich hernach an die Bar zu pflanzen und mit breiter Kameraderie ein Bier zu bestellen, weil: Es ist doch alles eins, im Grunde, das Leben und der Schmarrn, das Lachen und die Tiefe des Herzens, die Welt und das Wirtshaus, das Feine und das Grobe. Und man wird, während man sich amüsiert, bestärkt, angerührt, verzaubert, verarscht, auf und in den Arm genommen nicht nur meint, das Gefühl nicht los, daß ihm das in den zuständigen Gremien keiner je abnehmen wird, ein Mensch aber jederzeit. Und daß das genau richtig ist so.


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Dienstag, 27. Januar 2015

Frisch gepreßt #324: Interpol "El Pintor"


Es ist Herbst; wir tanzen mit gesenktem Blick. Schreiben ein Buch mit leeren Seiten. Gefühle sind Blech, schwer beladen, dunkel schimmernd im Widerhall der Zeiten, einer endlosen Parade von Abschieden. Alles verliert sich, grau die Luft, leer das Herz, und wir tanzen mit gesenktem Blick.
Und wir leben in unfaßbar weiten Räumen, ziehen Horizonte entlang, diesseits und jenseits nur Nebel. Was ist, verschwimmt; was war, kehrt zurück, bleibt ungreifbar, wie Wolken aus fremden Dimensionen.
T hat I verlassen; sie tanzt mit gesenktem Kopf, nippt zwischendurch an ihrem neonklaren Getränk, ein bitteres Lächeln, der Blick verausgabt sich stählern.
„Vor 1977 gab es dafür keine Musik“, sagt sie, zu wem?
„Und seitdem“, sage ich, „gibt es sie alle fünf bis zehn Jahre.“
„Gut so“, sagt sie. „Unbestimmter Schmerz sammelt sich wie Staub. Alle paar Jahre muß man ihn wegwischen und die Seele polieren.“
„Die Seele? Du meinst den Kern der Ironie?“
Wieder lächelt sie, wissend. Wir fallen ineinander und können uns nicht halten, nicht länger als einen ewigen Moment.
1977 ist wahrscheinlich nur ein Anhaltspunkt, und vielleicht ist es Zufall, vielleicht ist aber auch wirklich David Bowie schuld: „Low“, und dann „Heroes“, das Meisterwerk kühler Verzweiflung, heroischer Melancholie und kontemplativer Leere, dem jedoch das Debütalbum von Ultravox! schon im Februar vorausgegangen war. „I Want To Be A Machine“ und „The Lonely Hunter“; tobende, rasende, schimmernde und scheinende Dunkelheit, Vergeblichkeit, Gefühle wie Laserstrahlen unter der schwarzen Glasglocke einer nuklearen Apokalypse. Siouxsie & The Banshees, Magazine, Joy Division … mit The Cure wurde die Reaktion zum Stil, zum Genre, so weit und allgegenwärtig, daß Überdrüssige Gummipalmen aufstellten, Sonnenuntergänge malten und gefühlte Südseen durch die verspiegelten Räume fluten ließen, weil’s halt nicht mehr ging.
I lächelt noch immer. „Was ich fühle“, sagt sie, „ist eine Gitarre, ein greller, zugleich demütiger und unzähmbarer Schrei der Verletztheit, der durch die Schluchten einer toten Stadt hallt, Sehnsucht nach nichts und allem, nach Einsamkeit und Geborgenheit. Weshalb sind wir so zerrissen?“
„Is someone there?“ singt Paul Banks. „I’m dying to be cruising in my blue supreme.“
„Alle Bilder“, sagt I, „müssen zerfließen. Ich verzehre mich. Ich möchte fallen, ohne aufgefangen zu werden. Aber halt mich fest.“
„Everything is wrong“, singt Paul Banks. Seine Gitarre durchschneidet die Nacht, eine dunkelblau glänzende Spirale, die sich dreht und dreht und nie verändert. „Everything is wrong. All we have is time, but my heart is going wrong.“
Ich ahne, daß das vergehen wird, wie alles vergeht. Draußen lauert der Herbst, während der Spätsommer nun doch wieder zaghaft fröhlich und zaghaft verloren durch die Straßen tanzt wie zu früh gefallene Blätter, die ihren Baum suchen.
Wir tanzen mit gesenktem Blick und schreiben ein Buch mit leeren Seiten. Alles wird vergehen und wiederkehren. Ich halte I, und sie fällt. Und Paul Banks singt.
(Abspann/Fakten: „El Pintor“ ist Interpols fünftes Album, das mit Abstand schönste und beste seit ihrem Debüt 2002; Interpol sind eine US-amerikanische Band, die klingt, als wäre sie 1978 in Manchester geboren und in der Zeit eingefroren; eine eisige Melange aus New Wave, Goth-Romantik, Neon-Melancholie und glühender Kälte – aber halt, das sind ja schon wieder keine Fakten mehr … Epigramm: Man muß nicht verlassen werden, der Winter kommt von selbst, und mit diesem Album werden wir ihn überleben, bis zur Dämmerung der Ironie.)


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Sonntag, 25. Januar 2015

Belästigungen 25/14: Vom Schaden des Methanolabbaus (und anderen weihnachtlichen Leiden und Plagen)

Es ist ein großer Segen, daß der Mensch vernunftbegabt ist. Das erkennt man am besten am Einzelfall. Zum Beispiel lieferte sich vor einiger Zeit ein offensichtlich höchst vernünftiger Mann ins Hamburger Universitätsklinikum ein, weil er sich in einem Anflug praktischer Kritikfähigkeit eine zusammengerollte Ausgabe der „Bild am Sonntag“ in den Hintern geschoben hatte und sie nicht mehr selbsttätig herausbekam – was logisch ist: Schädlinge lassen sich ungern aus ihrem natürlichen Habitat entfernen.
Um so verwunderlicher, daß der Mensch als Kollektivwesen so wenig Mühe darauf verwendet, sich die Vorweihnachtszeit anal einzuverleiben, um sie ein für alle Mal aus den Weltläufen zu eliminieren. Statt dessen fügt man sich ins scheinbar Unvermeidliche, ruiniert sich Leber und Galle mit Zimtzuckerplörre, ramscht die Kaufhäuser leer, ohne sich die erworbenen Konsumgegenstände hinterher wenigstens in den Arsch zu stopfen, rotiert wie Brummkreisel durch ein entfesseltes Inferno von grellbuntem Alarmlicht und klingbingdingender Schallfolter, gegen das eine Helene-Fischer-Zurschaustellung geradezu humanitär wirkt, und am Ende sitzt man dann im trauten Familienkreis und erwägt insgeheim effektive Maßnahmen zur gegenseitigen Auslöschung, die oft nur daran scheitern, daß man sich Feuerzangenbowle und Massenvernichtungsplätzchen nun mal selbst verabreichen muß und damit in den meisten Fällen aufgrund vollständiger Lähmung und Kontrollverlust kurz vor Erreichen der tödlichen Dosis aufhört.
Wohlgemerkt: Gegen Familien als solche ist wenig einzuwenden; sie sind höchst sinnreiche und in vielen Lebenslagen erfreuliche Einrichtungen. Weshalb man aber ausgerechnet im tiefsten Winter riesige Entfernungen zurücklegt, um sich um einen Tisch zu versammeln, in einem suizidalen Rekordversuch letale Massen von Weißmehl, Industriezucker, Fett, Totfleisch und Farbstoffen zu verschlingen und dazu die schlimmsten Melodien aller Zeiten aufzusingen, nachdem das Gespräch über Putin, Arbeit, Fernsehprogramm und Tante Agathes rätselhafte Blumenkohlkrankheit versiegt ist, – das entzieht sich meiner Auffassungsgabe.
Und weil das alles nur durch die Zufuhr erheblicher Mengen unterschiedlichster Darreichungsformen von Ethanol zu ertragen ist, sorgt der weihnachtliche Familienmensch für die Zufuhr erheblicher Mengen Ethanol in abstrusester Abfolge – verzuckert, heiß, scharf, eisig, sprudelnd, herb, wieder verzuckert oder mehreres davon gleichzeitig. Und wundert sich hinterher, wenn er kurz vor Silvester wieder aufwacht und auf seinem Schädel und Unterleib ein dermaßen titanisches und grimmiges Exemplar der in gröblichster Verniedlichung als „Kater“ bezeichneten Spezies sitzt, daß er sich am liebsten selbst in den Hintern kriechen täte.
Daß er sich da wundert, hat indes noch einen anderen Grund: Tatsächlich hat bis heute niemand hieb- und stichfest nachweisen können, woher der Kater eigentlich kommt und wieso ihn der eine von der bescheidenen Feierabendmaß, der andere nicht mal nach einem Weihnachtsbesäufnis im Quadrat kriegt. Theorien hierzu gibt es viele, von der alten Wein/Bier-Mischmasch-Faustregel über diverse Methanol-, Acetaldehyd- und Fuselchemien, Entwässerungs- und Stick-Schnarch-Ideen, Nationalismen (in Schweden ist angeblich jeder zweite gegen den Katzenjammer immun, in Italien nur jeder zehnte, von den Franzosen leidet ein Drittel nach dem Suff an der landesspezifisch bezeichneten „Fresse aus Holz“) bis hin zur Beschwörung grundsätzlicher Individualität: So konnte sich etwa Winston Churchill bis an die Oberkante mit hochverfuseltem Cognac zuschütten, ohne je ein Surren zwischen den Brauen zu verspüren; der ansonsten (solange man keine russische Badewannenmarke mit Desinfektionsmittelzusatz bevorzugt) als außergewöhnlich verträglich taxierte Wodka hingegen schmiß ihn schon in homöopathischer Dosis aufs Leidensbett.
Die Erscheinungsformen des „Überhängers“ sind unterschiedlich und reichen vom leichten Schwindel über den berüchtigten Schlagbohrer, der knapp vor dem Ohr ein- und im oberen Bereich der Nase wieder austritt, bis hin zum unvermittelten Exitus, der den Dichter Dylan Thomas ereilte, nachdem er beschlossen hatte, das von einem Rekordversuch (18 Gläser Whisky) herrührende Unwohlsein mit therapeutischem Nachtrunk zu besänftigen, dabei aber vergaß, daß sein bevorzugtes Getränk absoluter Spitzenreiter der Fuselliga ist und mehr als das dreifache der empfohlenen Höchstdosis an lebervernichtenden „Begleitalkoholen“ enthält.
Ebenso uneinig ist sich die Welt, was gegen das fürchterliche Leid zu tun sei. In einer bekannten deutschen Wochenschrift für doofe Großbürger empfiehlt eine Autorin im Geiste von Mr. Thomas, „am Morgen danach kleine Ethanol-Dosen zu sich“ zu nehmen. Das bremse „den schädlichen Methanolabbau“ (wohingegen das Methanol selbst nach Ansicht der Dame offenbar völlig unschädlich ist), „und auch kann die Katerstimmung etwas mildern“ (sic). Die „Betonumg“ (sic) liege auf „klein“, was sie wohl selbst nicht beachtet, sondern sich vor der weiteren Auflistung von Standardschmarrn (Hering, Kaffee, Magnesium, frische Luft) einen kräftigen Humpen zugeführt hat. Nun ja, vielleicht wartete im Zimmer nebenan die Familie.
Ich weiß ja aber auch nicht weiter. Nur eine kleine persönliche Betrachtung und eine historische Überlegung: Bei mir selbst bleibt der Kater außerhalb der Weihnachtszeit zuverlässig aus. Der Mensch wiederum dröhnt sich seit etwa 10.000 Jahren systematisch mit Alkohol zu (von der Tierwelt zu schweigen, die damit wahrscheinlich schon bald nach dem Urknall anfing) und erfand dadurch neben der Vernunft auch eine Zivilisation, die es ihm heute ermöglicht, sich dreißig Jahre länger ins Grab zu saufen als zu Steinzeiten. Ein Weihnachtsfest samt Punsch, Baum, Geschenktornado und Schlägerei in der Guten Stube gab es jedoch nicht vor dem frühen 19. Jahrhundert. Manchmal sind die älteren Bräuche eben die besseren, zumindest für die Krankenhäuser, die sich ohne den Klimbim wichtigeren Dingen widmen könn(t)en, etwa dem Hintern versehentlicher „Bild am Sonntag“-Konsumenten.





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