Freitag, 22. September 2017

Frisch gepreßt #393: Can "The Singles"


Wußten Sie eigentlich, daß Punk eine Münchner Erfindung war?
Um die Antwort („nein“) auf diese etwas abwegige Frage näher zu erörtern, sollten wir zunächst klären, was wir unter dem Begriff (Punk, nicht Antwort, oder: doch) verstehen.
Punk also. Gemeinhin bekannt als das lustlos laute, einer jahrzehntealten, eisern industriell genormten Formel entsprechend erstellte Äquivalent zu Autotune-Gebrauchsgeräuschen für den Bereich „Rock“ (zwei bis vier Viertel, verzerrgitarrenähnlicher Harmonielärm in zwei bis fünf Tonlagen, emotionslose Emotionssurrogatstimmen der Kategorien „Aufbegehren“ bis „Trotz“). Historisches Mißverständnis Nummer eins: das, wogegen etwas gerichtet war, mit diesem Etwas verwechseln.
Punk nämlich: das historisch singuläre Aus-den-Angeln-Heben, weniger Konterkarieren als komplette Verwerfen und Umgehen hergebrachter Einstellungen zu und Produktions-/Verwendungsweisen von Musik. Das gänzlich Andere, das für einen weltgeschichtlichen Moment „Neue“ schlechthin. Mißverständnis Nummer zwei: „neu“ im Sinne von „aktuell“ ist der vollkommen falsche Begriff, weil „aktuell“ nichts anderes bedeutet als: seriell. Das „neue“ Album einer Punkrockband des Jahres 2017 (oder 1981, 1996, 2003) ist kein anderes als das alte (das letzte „neue“) in leicht veränderter Anordnung und Verpackung, so wie das „neue“ Produkt des Fertignahrungsherstellers das alte ist – Zusammensetzung, Gebrauchsweise, Intention und Wert unterscheiden sich nicht.
Hingegen Punk (1976 und jenseits der Jahreszahlsystematik) ist „neu“ ausschließlich im Sinne von anders und daher tatsächlich: neu, immer. In diesem Sinne Neues verschwindet spätestens mit dem Moment seiner materiellen Entstehung aus den Abläufen der seriellen Aktualität.
„Puh, wie akademisch!“
Aber klar. Bei dem Geräuscherzeugungskollektiv Can (vormals Inner Space) handelte es sich nicht um eine Firma zur Erstellung von Produkten, handelte es sich andererseits definitiv um Punk im erwähnten Begriffssinn und handelte es sich drittens um eine Verbindung von zwei Studenten der abseitigen Musik, die bei Karlheinz Stockhausen ihr Hirn öffnen gelernt hatten, (anfangs) einem Dozenten für elektronische Musik, einem von den Grenzen seines Genres frustrierten Free-Jazzer und einem generell Identitätssuchenden, von denen keiner mehr Verbindung zum Rock ’n’ Roll (egal in welchem Begriffssinn) hatte als ein nächtlicher Dschungel zu einer Packung Fertignahrung.
Can: 1968 bis (ca.) 1976 die aufregendste, am meisten andere und intensivst neue Musikgruppe vielleicht der Welt, jedenfalls in ihrer absoluten Unvergleichlichkeit und Unzuordenbarkeit typisch für eine damals verbreitete Geisteshaltung in der deutschen Musik. Oder eben: ein Konglomerat von Geisteshaltungen, experimentell, individuell, improvisativ, motorisch (der englische Begriff für ihre Musik lautete so: „Motorik“) und jenseits dieser und anderer Adjektive. Inspiration und mit einer Mischung aus Staunen und Ehrfurcht geschätzte Einflußquelle für John Lydon, Siouxsie & The Banshees, The Fall, Joy Division, David Bowie, Suicide, Primal Scream und praktisch jeden von Punk über New Wave, Post-Punk, Ambient, Elektronik bis hin zu den fernsten Ausläufern der Avantgarde an Musik Interessierten, die das war: neu im Sinne von anders, jenseits von allem.
Can aber auch: Teil der normalen, (fast) alltäglichen Kultur, zu hören in Filmen und Fernsehsendungen, als solche Dinge noch (oft) Kultur und nicht Fertignahrung waren. Verschwunden im Augenblick ihrer materiellen Entstehung und doch nicht wegzukriegen aus dem Unterbewußtsein der längst nur noch „populären“ Musik.
Wiederzuentdecken. Längst. Neu zu entdecken. Immer. Zum Beispiel mit dieser Sammlung von (o ja, das gab es!) Singles aus den Jahren 1968 bis 1990 (die ersten beiden fehlen), die Schrecken, Faszination, Gänsehaut, Befremdung und Aufbruch verbreiten, vor allem aber: das Hirn öffnen. Der Erkenntnis: Was wir kennen, was wir versuchen, ist nur ein Bruchteil dessen, was möglich ist und interessant sein könnte.
„Hm. Und was ist nun mit München?“
Ach so, ja. Da saßen Holger Czukay und Jaki Liebezeit im Frühling 1970 im Café Europa an der Leopoldstraße inmitten einer wüsten Horde von Gammlern und Hippies herum, als ein offensichtlich ziemlich irrer Japaner namens Damo Suzuki vorbeischlenderte und sie ihn fragten, ob er nicht mal „singen“ wolle. Nur eine Anekdote, aber so geht (Musik-)Geschichte auch.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Frisch gepreßt 392: Dan Auerbach "Waiting On A Song"


„Wir brauchen wasserdichte Kopfhörer!“
Der Ruf der euphorisierten Begleiterin bleibt (wg. Unterwasser) zunächst ungehört, wird wiederholt, als sie sich weigert, den Wasserfall aufzusuchen, wie sich das in diesen Zeiten gehört, weil sie lieber weiter lauschen, sich euphorisieren lassen möchte von den Klängen, die ihren Lauschmuscheln entdringen und insektenschwarmartig die schwüle Luft durchcircen.
„Gibt es nicht, vermutlich.“
Musik in Wasser zu tauchen ist selten eine gute Idee, auf die man deswegen auch nicht oft kommt. Schon gar nicht übrigens bei Dan Auerbach, weil die Musik, die der Mann mit seiner Urband The Black Keys (nicht mehr ganz) hauptberuflich macht, dermaßen geladen ist mit roher, nur durch stärkste Isolierung in ein „Format“ zu bändigendem Knallstrom, daß wahrscheinlich noch in Wolfratshausen und Ismaning die badenden Menschen und Fische einen ziemlich scharfen Zitterschlag abbekämen, wenn man es täte. Aber diesmal, bei seinem zweiten „richtigen“ Soloalbum, läßt uns diese Idee nicht los.
„I'm gonna stand by my girl, cause she'll kill me if I don't“, jubelt die Begleiterin, als genügte das bloße chorale Zitat, um die romantische Stichhaltigkeit des Arguments zu bekräftigen. Ich lausche dem poppigen Insektenschwarm und hänge weiter der Idee nach, Musik ins Wasser zu tauchen, aus unsicheren Gründen, hauptsächlich einer nostalgischen Regung mit der Ahnung, daran schon mal gedacht zu haben.
Vor Urzeiten nämlich, damals, als wir in einem ähnlich glasigen, schwülen, außer zeitlich vollkommen unendlichen und grenzenlosen Spätfrühling die Monkees aus frühesten Kindererinnerungen herausgruben und ewig nichts anderes mehr hören wollten als diese naiven, verspielten, dumpfgewaltfrei schwebenden und perlenden, manchmal unbeholfen und an der Grenze zur Selbstüberforderung geträllerten und gerappelten, im Geiste aber perfekten und durch und durch sympathischen Blütenmeere von Sönglein, die nicht und niemals so etwas wie die Welt ändern wollten, aber wahrscheinlich deshalb genau das taten, indem sie sie schön machten, die grau betonierte Wirklichkeit. Ja, auch bei „Pisces, Aquarius, Capricorn & Jones Ltd.“ und „Head“ (zum besten Beispiel) hatten wir den Spontanimpuls, diese Musik ins Wasser zu tauchen, um es unter anderem funkelbunt zu färben.
Der Begleitung davon zu erzählen, wäre sinnlos, weil sie sich daran höchstens subliminal-vorgeburtlich erinnern könnte. Sie weiß auch nichts vom Electric Light Orchestra und Jeff Lynne, mit dem ein ignoranter Kritiker Dan Auerbach verglich, weil sich der nämlich gar so mühe, die Rock-, nein, Popmusik in einem gewissermaßen „klassischen“ Zustand museal zu konservieren, perfekt produziert und meisterlich kunstvoll arrangiert zwar, aber halt auch kreuzbrav und fad und uninnovativ – ein Tupfer Buddy Holly hier, ein Schmierer (eben) Jeff Lynne dort, allerdings nicht ELO, sondern das käsige Schmierzeug, das selbiger in den 80ern u. a. mit Bob Dylan, Tom Petty, Roy Orbison und George Harrison als Traveling Wilburys und für einzelne davon als Produzent fabrizierte.
Aber mei, wen kümmert das in diesen Wochen? Nicht mal mein Gegenargument, es brauche gar kein so feines Ohr, um die elektronische Breitärschigkeit, mit der Lynne damals alles übergoß und ertränkte, zu unterscheiden von Auerbachs Feinfühligkeit und Fingerspitzengespür (auch wenn „Shine On Me“ tatsächlich sehr deutlich an Harrison/Lynnes Dödelhit „Got My Mind Set On You“ erinnern könnte, wäre der nicht eine Coverversion gewesen und wie der wundervolle Klassiker „If You Gotta Make A Fool Of Somebody“ ursprünglich 1962 von Rudy Clark für den bald darauf an einer Überdosis gestorbenen R&B-Renegaten James „Jimmy“ Ray geschrieben worden – was der Kritiker vermutlich nicht, Auerbach aber vermutlich sehr genau wußte).
Es spielt keine Rolle. „Wir brauchen wasserdichte Kopfhörer!“ Und weil wir die nicht haben, tauchen wir die Musik jetzt einfach hinein in die Isar und färben sie funkelbunt.

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Sonntag, 3. September 2017

Belästigungen 15/2017: Schmilz! (ein fragloses Winken aus dem Elfenbeinturm)

Daß man sich in München befindet, merkt man am Schmelzen, dem herausragenden und prägenden Vorgang des hiesigen Jahreslaufs. Nämlich ist kaum auf der silvesterlichen Feuerzangenbowle der Schnapszucker zur karamellenen Infusion und bald darauf das Zinnblech zum trunken deutbaren Omen zerschmolzen, schmilzt schon auch das Alibieis am Isarrand, schmelzen die letzten Kerzen mit den kürzer werdenden Nächten dahin.
Dann schmelzen die Herzen in der linden Frühjahrsluft der mittleren Märztage, ergeben sich die winterlich gehegten Hemmungen dem Ansturm der Hormone und Hoffnungen, schmilzt der Wollbestand im Kleiderschrank voreilig dahin, zu voreilig meist, aber es schmilzt ja auch der Aprilschnee schnell wieder weg, und wer sein saures Radler einer neuen Sitte gemäß mit Wasserquadern kühlt, dem schmelzen auch diese bald eilends im Glas.
Es schmilzt das Vanille- und andere Eis unter dem eindringlichen Blick der Maisonne, und kaum ist Kokosöl auf der übereilt isargebrannten Haut zerschmolzen, schmelzen im Regensturm der Schafskälte die romantischen Träume von einem endlosen Frühsommer hinein in einen mißtrauisch beäugten Dochfrühsommer, der vielerorts schon die anderweitig romantischen Emanationen des Frühfrühlings wieder zum Hinschmelzen bringt und einem beziehünglichen Alltag Bahn bricht, in dem schmelzende Karrierepläne mit schmelzender Körperbegierde und allseits schmelzenden Privatchimären kollidieren und verschmelzen zu einem reißenden Gletscher, der einem ungewissen Horizont der gewähnten Zukunft entgegenströmt. Oder -schmilzt?
Der Münchnermensch, kaum heimisch geworden im hinterher wieder und neu anbrechenden Hitzegetöse, sieht hilflos dem Hinschmelzen seiner wie alljährlich verschiebungsbedingt überhobenen Sommervorhaben zu, während im Juliherbst die Gewitterkrawalle toben und dem August ein Hochwasser bescheren, in dem die Ergüsse des Himmels mit der Bräune des irdischen Lehms zu einer grimmigen Dauerwalze zusammenschmelzen, die den Isarstrand unbegänglich macht und das Herz vermeintlich unschmelzbar härtet. Dann streicht man ruhelos den Flußlauf entlang, tapst in kaulquappenbewimmelte Trübpfützen und sehnt sich an schon wieder dräuend früher dunkelnden Nachmittagen zurück nach der kaum vergangenen Zeit, als alles so endlos und versprechungsschwanger schien.
Es ist das Leben ein stetes Vergehen, und alles, was man im Kommen, Wachsen und Werden wähnt, ist schon vorbei, ehe man es greifen konnte. Und …
… während man solch müßiges Sinnieren in die Tastatur schmelzen läßt, angeregt vom leisen Rascheln der Kirschbaumblätter, vom zaghaften Zwitsch des neugierigen Rotkehlchens und vom vorlauten Zirp des Heuhüpfers, tönt plötzlich eine körperlose Stimme in der Echokammer: Wolltest du nicht eine resumierende, apologielos wertfrei deutende Analyse der Geschehnisse verfassen, die sich unlängst in Hamburg zutrugen und deren stetig schwellende Nachlawine nun als monolithische Walze von diffuser Bedrohlichkeit in den Alltag hineinschmilzt?
Freilich, das könnte man. Aber man weiß ja viel zu wenig, weil viel zu viel geplärrt wird. Ist es wirklich erquicklich, all das, was bereits gesagt ist, noch mal zu sagen, wenn es im Sturm des Beschwörens, Warnens und Drohens sowieso niemand hört, der es nicht schon gehört hat? Hat ein neuerlicher Versuch der Definition dessen, was „links“ ist und was mit Sicherheit nicht, mehr Sinn und Zweck als die vermutlich nicht zu beantwortende Frage, ob unter den Hamburger Randalierern möglicherweise tatsächlich Linke waren und nicht nur überforderte Polizisten, gedungene Provokateure, Krawallhooligans, betrunkene Partykids, Wutbürger und rechtsextremistische Süppchenkocher? Nützt es, darauf hinzuweisen, daß Gewalt selten dort anfängt, wo ein Auto brennt, aber oft dort, wo ein Auto produziert wird? Muß oder soll man wirklich noch mal erwähnen, daß die sogenannten „G 20“ den gesamten Erdball mit Gewalt und Terror überziehen, daß die den Gesetzen von Logik und Hydraulik hier und da auftretende Gegengewalt aber so gut wie nie die dafür Verantwortlichen trifft und daß man solche Gegebenheiten feststellen kann, ohne sie zu rechtfertigen? daß es unhöflich, unangemessen, demütigend und unverschämt ist, ständig von Leuten zu verlangen, daß sie sich von Dingen „distanzieren“ und dafür entschuldigen, mit denen sie nicht das geringste zu tun haben? daß die faschistoide Kopfjägerbande, die jetzt per Schlagzeile zur gesamtdeutschen Hetzjagd auf vermeintliche Volksschädlinge aufruft, brav schweigt, wenn andere Unterkünfte und Menschen anzünden? und daß man nicht mal weiß, ob man das eine oder das andere noch schlimmer oder weniger schlimm findet?
Sind ja alles nur Fragen, und wer mag sich schon obendrauf und -drein noch Fragen stellen lassen, die man nicht beantworten kann beziehungsweise die sich von selbst beantworten?
Nein, da steigt man lieber hinauf in den Elfenbeinturm, der gar nicht aus Elfenbein, sondern höchstens aus Holz, im Zweifelsfall aber nur aus Luft, Liebe und ungefährem Sinnieren geschnitzt ist, und läßt sich angesichts des anderweitigen Flammens, Prallens, Brüllens und Fäusteschwenkens vom Anblick eines still gleißenden Eiswürfels zu einer kontemplativen Kette von schweifenden Gedanken verführen, deren Sinn am Ende sein könnte, dem ganzen vielen, allerorts beschworenen Sinn ein marmornes Becken hinzustellen, in das er schmelzen und in dem er als harmlose Pfütze ruhen möge.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.