Mittwoch, 19. April 2017

Frisch gepreßt #385: Chuck Prophet "Bobby Fuller Died For Your Sins"


Das Berufsbild des Propheten wird gerne mißverstanden. Nicht etwa maßt sich dieser an, vorauszusagen, wie das Wetter im März wird, wer irgendeine Wahl gewinnt oder wann der TSV 1860 mal wieder mehr als drei Punkte in fünf Spielen einfahren wird. Vielmehr ist der Prophet ein Weissager, also einer, der durch umfassende Kenntnis der Weltläufte qualifiziert ist, seinen Mitmenschen mitzuteilen, wie die Welt so läuft, im allgemeinen und im besonderen. Daher möglicherweise auch wie es weitergehen wird, weil ja das meiste immer so weitergeht, was als Zukunftsdeutung aber nur jenen erscheinen mag, die gar nicht recht wissen, was insgesamt los ist.
Dazu braucht es Geschichten, in denen sich solche Weisheit niederschlägt, ausdrückt und vermittelt. Die Bibel beispielsweise ist ein Kompendum solcher Geschichten, ebenso wie die gesammelten Werke von William Shakespeare; es gibt aber auch moderne Pendants, etwa das neue Album oder überhaupt alle Alben von Chuck Prophet, vor allem aber das neue und vierzehnte, auf dem er selbst als handelnde Person so gut wie nicht mehr auftritt, sondern tatsächlich zum Propheten geworden ist, der der Welt den Spiegel vorhält – so abgedroschen das klingen mag.
Freilich ist „abgedroschen“ ja auch so ein Wort, das man gerne mißversteht. Nämlich zeichnet es den guten Drescher aus, daß er sein Getreide so drischt, daß am Ende Spreu und Korn wirklich getrennt sind, und dazu braucht es Geschick und Zeit. Die Feststellung, daß man beim Hören dieser Songs mehr als nur das Gefühl hat, alle dreizehn schon mal (oder hundertmal) gehört zu haben, sagt noch nichts über deren Qualität, sondern nur über ihre Form: klassischer US-amerikanischer Folkrock 'n' Roll mit ein paar Ausreißern, die ebenso bewußt gewählt und umgesetzt sind – etwa „In The Mausoleum“, das nicht zufällig „Ghostrider“ von Suicide zitiert und imitiert, sondern weil es dessen (Mit-)Schöpfer, der im Juli 2016 verstorbenen US-Rock-'n'-Roll-Ikone Alan Vega, gewidmet ist, um von ihm zu erzählen, weil man von Menschen erzählen muß, die keiner kennt, aber jeder kennen sollte. Weil ihre Geschichten das Kompendium des Propheten füllen.
So wie die von Bobby Fuller, noch so einem streunenden Gespenst der US-Rockgeschichte, dessen „I Fought The Law“ selbst dem tumbsten Green-Day-Fan geläufig ist, von dem man aber bis heute nicht weiß, wie es kam, daß er mit 23 fast auf den Tag genau fünfzig Jahre vor Vega tot im Auto seiner Mutter saß – ermordet von Drogendealern, Bandkollegen, vom eifersüchtigen Stecher seiner angeblichen Flamme Melody (oder Melanie) angeheuerten Schlägern? Oder starb er von eigener Hand, desillusioniert wegen der Trennung seiner Band in der Nacht zuvor?
Wie auch immer – sein Name steht (oder sollte stehen) für die Kraft und Macht billiger Straßenmusik, an die auch Chuck Prophet sein Leben lang glaubt und die er hier (na klar: analog und ziemlich live mit vielen Saiten, Trommelfellen und Becken) mit seiner Band (Freundin Stephanie Finch an den Tasten, James DeFrato an der zweiten Gitarre, Bassist Kevin White und Schlagzeuger Vicente Rodriguez) so euphorisch und wehmütig umsetzt, wie sich das bei dieser Art Musik gehört, ohne schwachen Moment, überflüssigen Akkord, gewagte Synkope.
Man mag einwenden, daß nicht jede der Geschichten jedem etwas mitzuteilen hat, daß das Lamento „Bad Year For Rock And Roll“ arg berechenbar, die Hymne für den 2014 von der Polizei von San Francisco mit 59 Schüssen ermordeten Alex Nieto etwas plakativ, „Jesus Was A Social Drinker“ leicht albern, „Open Up Your Heart“ sehr austauschbar und „If I Was Connie Britton“ ein wenig peinlich ist. Aber die Musik ist durchgehend mindestens verläßlich, liebenswert, stellenweise mitreißend bzw. herzerwärmend. Zudem: ist halt nicht alles für jeden, und schließlich gilt das ja für das Leben und die Welt insgesamt (womit wir wieder am Anfang wären).

Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Belästigungen 05/2017: Hitler und die Luxusnutten (oder: Wer und wie und wo mit Fake News wahlkämpft)

Wenn sich einmal im Jahr die Kriegsplaner, Kriegstreiber, Kriegshetzer, Kriegsverbrecher und Kriegsprofiteure in ein Münchner Luxushotel einsperren, um die nächsten Kriege zu planen, voranzutreiben und propagandistisch einzubetten, erleben die so oft geschmähten kritischen Qualitätsmedien eine Sternstunde. „Siko!“ heißt es dann, als wäre diese üble Versammlung ein schnuckeliges Kuscheltier, „die Mächtigen in München!“, und die etwas weniger bunte Ernstpresse druckt Sonderbeilagen, in denen die Notwendigkeit der Kriegsplanung im offiziellen Vokabular gepredigt wird.
Der Normalmensch drängelt sich derweil auf dem Weg zu den Konsumartikelabgabehallen an den Meldekästen vorbei, nimmt nebenbei die Botschaft auf und baut sie in sein Weltbild ein wie einen Legostein: Die Mächtigen, die werden's schon richten, schließlich ist Wachsamkeit oberste Bürger- und Medienpflicht, weil der böse Russe inzwischen nicht mehr nur an unserer Grenze darauf lauert, uns das Fell über die Ohren zu ziehen. Nein, der greift inzwischen direkt hinein in die geordneten Abläufe im Heiligen Kapitalistischen Westen, indem er uns derart mit „Fake News“ zuschüttet, daß wir, ohne es zu wollen, die falschen Führer wählen.
Genau das bleuen uns die Qualitätsmedien seit Wochen ein: Daß die Amis einen debilen Idioten in ihr weißes Haus befördert haben, war nicht ihre eigene Idee, sondern lag ausschließlich daran, daß der schlimme Putin seine Geheimdienste so lange am Internet herumdröseln ließ, bis endlich der Trump Präsident war. Das gleiche habe er nun hierzulande vor, weshalb es dringend nötig sei, den armen, aber an sich braven deutschen Wähler durch Kontrolle, Überwachung, Verbot, Ausblendung und Löschung davor zu bewahren, daß er am Ende die falschen Kandidaten ankreuzelt.
Daß derzeit die sogenannte SPD wie ein pseudorevolutionärer Wirbelfurz die Wahlumfragen aufmischt, bloß weil ihr neuer Messiasdarsteller – bislang bekannt als strammer, eifriger und unverbrüchlicher Prediger von Freihandelsabkommen, Verelendungsprojekten wie Hartz IV und Zwangsumverteilung von unten nach oben – irgendwann mal das Wort „soziale Gerechtigkeit“ in den Mund genommen hat, fällt niemandem auf. Nein, daß die SPD diesen Bullshit im letzten halben Jahrhundert vor jeder einzelnen Wahl in die Welt posaunt hat, um unmittelbar danach das exakte Gegenteil per Gesetz in die Wege zu leiten, wird so vollkommen ausgeblendet, als wäre es nie geschehen.
Drum fragt auch niemand, wie es dazu kommen kann, daß selbst anscheinend vollkommen vernünftige Zeitgenossen sich für den Reklamerummel einspannen lassen und auf Facebook und am Kneipentresen herumrummeln, mit Schulz werde sich „etwas rühren“ und „bewegen“ und das seien großartige Perspektiven. Es wundert sich noch nicht mal jemand, wieso er selbst keinen einzigen Schulz-Fan kennt und von dem „Trend“ zur spontanen Zusammenrottung fanatischer Schulz-Jubelperser immer nur aus Zeitung und Fernsehen erfährt.
Immerhin, denkt man vielleicht, sorgt dieses Sperrfeuer von Propaganda (das erfahrungsgemäß kurz vor der Wahl ins Gegenteil umschlagen und sicherstellen wird, daß Angela Merkel weitere vier Jahre, diesmal mit Schulz als Begleitplapperer, den Pappkameraden des Kapitals geben darf) dafür, daß der Russe mit seinen „Cyber-Angriffen“ nicht wirksam in den Wahlkampf hineinpfuschen kann. Nicht mal der ärgste Schulz-Kritiker würde je öffentlich-medial äußern, der ganze Schulz-Hype beruhe ausschließlich auf Fake News (und Fake News über Fake News) – schließlich kommt's ja nicht vom Putin, und der Westen tut so was nicht, sondern hält sich an die eisernen demokratischen Grund- und Anstandsregeln!
Drum holen die besorgten Herrschenden nun auch die historisch bewährten und in Sachen Fake News rückhaltlos gewissensstählernen Kräfte von gesellschaftlich relevanten Organen wie der Illustrierten „Focus“ herbei, um zum Beispiel Facebook zu „beraten“, damit der Russe da bloß nicht sein düsteres Wesen treibt und die korrekte Wahl gefährdet. Und erarbeiten ein Gesetz, dem zufolge Medien juristisch auf die Finger geklopft wird, „wenn in ihnen offensichtlich unrichtige Nachrichten enthalten sind, deren Verbreitung geeignet ist, lebenswichtige Interessen des Staates zu gefährden“. Gut so, denn wir haben ein Recht darauf, nur zu erfahren, was richtig und den Zielen unserer wohlmeinenden und -tätigen Herrschenden förderlich ist!
Dürfen wir ein paar zaghafte Einwände wagen? Dürfen wir darauf hinweisen, daß dieses Gesetz keine neue Erfindung, sondern ein wörtliches Zitat aus der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes“ vom 4. Februar 1933 ist? Dürfen wir erwähnen, daß es dabei nicht darum ging, zu verhindern, daß der Russe behauptet, der frischgewählte Reichskanzler A. Hitler habe sich in einem Moskauer Luxushotel von Nutten vollbrunzen lassen und sei dabei gefilmt worden, damit ihn Stalin erpressen könne, die Sowjetunion nicht anzugreifen? Dürfen wir bescheiden hinzufügen, daß diese Verordnung keineswegs eine Erfindung von Hitler, Goebbels, Göring, Frick und/oder Hindenburg war, sondern bereits 1932 unter Kanzler Papen (der einer CDU-Vorgängerpartei angehört hatte und ansonsten vor allem dadurch hervortrat, daß er Autobahnen bauen und durch eine Kürzung der Sozialausgaben den Haushalt sanieren wollte), formuliert worden war?
Aber wir wollen nicht ungerecht sein. Zwar haben sich bislang noch sämtliche Berichte über effektive „Cyber-Eingriffe“ des Russen in westliche Wahlkämpfe als haarsträubendste Fake News erwiesen, aber es gibt ein historisches Beispiel dafür, daß so etwas durchaus funktionieren kann. Und zwar in Rußland: Da engagierte 1996 ein Präsident, für den wegen seiner katastrophal asozial-ruinösen neoliberalen Wirtschaftsreformen und eines desaströsen Krieges kurz vor der Wahl nur noch fünf Prozent der Russen stimmen wollten, nicht gänzlich freiwillig (und auch nicht ganz wissentlich) sechs US-amerikanische „Berater“, die umgehend eine hunderte Millionen teure, massive, aber radikal konspirative Kampagne anleierten, mit Asterix-mäßiger psychologischer Kriegführung, Diffamierungen und Schmutzpropaganda, randalierenden „Wahrheitsschwadronen“, internen Manipulationen, Lügenparolen, Instrumentalisierung von Presse/Fernsehen und einer Sturmflut von Fake News.
Als die Kampagne aufflog, war US-Wunschkandidat Boris Jelzin bereits gewählt. Und wir lernen daraus: fremde Wahlen zu entscheiden, das geht sehr wohl. Man muß es halt können.

Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.