Der Plan war: Eindringlich, poetisch und
unwiderlegbar darlegen, weshalb es, wenn der verschneite Frühling in einen
verregneten, verwehten, verstürmten, vergrauten und verwolkten überschmilzt, in
dem Schwester Sonne nur bei Kurzauftritten trotzig-traurig bläut, weshalb es da
für pathologische Romantiker mit gebrochenem Sinn gar nicht genug Lotte-Kestner-Alben
geben kann, um das Seelenblut zu stillen und den brachen Geist in weiche Tücher
zu hüllen, damit er schlafen möge und träumen von anderen Welten und Zeiten.
Weshalb es deswegen so schön ist, daß einen Monat nach dem letzten heute schon
wieder ein neues Lotte-Kestner-Album erscheint ...
Aber es geht nicht, weil ein solcher Krach
die Wohnung füllt. Wo kommt der plötzlich her?
Manche Dinge werden von der Geschichte verschluckt;
Gerechtigkeit gibt es dabei nicht. Beispiele von Bands, die im historischen
Gulli verschwunden sind, während erbärmlichere Rivalen die Stadien füllen, gibt
es zuhauf, aber kaum eines ist so frappant wie das von Dr. Feelgood, die für
kurze Zeit sogar eine Art heilige Dreifaltigkeit mit den Sex Pistols und The
Clash bildeten (oder sagen wir: Vierfaltigkeit, um The Damned nicht zu
vergessen).
1975: das Jahr, in dem Prog- und Art-Rock den Gipfel des
Mount Schwulst erreichten und faulig zu riechen begannen; dem Glamrock ging es
kaum besser, der ertrank in Ozeanen von Balladen, und Punk gab es nur als
Gerücht. Da kamen Dr. Feelgood gerade recht. Sie trugen alte Anzüge, ließen
sich nur schwarzweiß photographieren und sagten über die Popmusik ihrer Zeit:
„Das klingt wie einem Computer aus dem Arsch gekrochen. Ich möchte richtige
Instrumente hören, richtige Stimmen, keinen beschissenen Halleluja-Chor!“
Sänger Lee Brilleaux bewahrte seine Mundharmonikas in vollen Bierbechern auf,
damit sie nicht verrosteten; Gitarrist Wilko Johnson wirbelte wie ein
irregewordener Roboter über die Bühne und schoß mit seiner Telecaster
Rasierklingen ab, und zwar gezupfte, wodurch es ihm gelang, die schärfste
Rhythmusgitarre der Welt und gleichzeitig (!) Solos zu spielen. Daß Saiten aus
Metalldraht bestehen, weiß man erst durch ihn, und was Paul Weller (wie
tausende andere) als kleiner Bub mit The Jam wollte, versteht man erst durch
ihn.
Die Band hatte drei Jahre Ochsentour hinter sich, als im
August 1974 ihr erstes Album „Down By The Jetty“ erschien, natürlich mono in
einem Durchgang aufgenommen und ein Kinnhaken für die verzärtelte Konkurrenz in
sämtlichen Lagern. „Malpractice“ (Oktober 1975) war kaum weniger wild und
brutal, und jetzt war die Zeit reif: Die Platte löste einen regelrechten
Pubrock-Boom aus. Das Livealbum „Stupidity“ schoß aus dem Stand an die Spitze
der britischen Charts, was seit den Beatles nicht mehr passiert war. Anderswo
liefen Dr. Feelgood unter „Punk“ – verzeihlich, denn so viel Energie, Dampf und
Wut wie die vier Männer aus Canvey Island hatte kaum jemand sonst zu bieten.
Näher kam die knochige Faust erdiger Biermusik der Ewigkeit nur noch einmal:
bei AC/DC, die heute (dem Status nach) sind, was Dr. Feelgood sein müßten.
Die wurden leider was anderes, nämlich
nichts: Nach einem weiteren Top-ten-Album flog Johnson raus, außer dem müden
„Milk & Alcohol“, das bis heute die Stehausschänke beschallt, war’s das
auch mit den Hits, trotz dutzenden Platten und obwohl irgendwelche Leute heute
noch als Dr. Feelgood durch die Gegend touren. Klar: Musik wie die auf ihren
ersten vier Alben (die hier auf drei CDs vollständig versammelt sind, samt 23 Bonustracks
und einer Live-DVD von 1975) wird heute nicht mehr gemacht, und ihre damalige
Bedeutung wird sie nie mehr haben. Stoßen wir an auf den armen, großen Lee
Brilleaux, der am 7. April 1994 an Kehlkopfkrebs starb, auf den armen, großen
Wilko Johnson, der momentan an Krebs stirbt (und gerade auf „Abschiedstour“
war, weil er behauptet, erst durch den baldigen Tod seine Depression überwunden
zu haben und wieder lebendig geworden zu sein). Stoßen wir an auf die
unvergeßlichen Zeiten, als Rock 'n' Roll noch Rock 'n' Roll war – laut,
schnell, böse, gemein und geil.
(Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.)
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