Am ersten Ferientag nach der dritten Grundschulklasse lagen
wir im Schyrenbad und kannten weder Zeit noch Raum; es duftete nach warmen
Chlorwasser, das am Beckenrand in Pfützen verdampfte, in die man sich manchmal
legte, wenn man zu lange im Wasser gewesen war und nun mit himmelhellblauen
Lippen sofortige Erwärmung suchte; es duftete nach feuchtem Gras, nach
Schaumwaffeln, Pommes frites, Waldmeistereis und Americana-Comic-Kaugummi.
Alles war himmelhellblau und waldmeistergrün, und neben meinem
waldmeistergrünen Handtuch lag ein Buch, das ich mir aus der Stadtbücherei in
der Deisenhofener Straße ausgeliehen hatte: „Gepäckschein 666“; ich war aber zu
faul zum Lesen, schaute lieber in den himmelhellblauen Himmel und dachte an:
nichts.
Seltsam, daß es damals im normalen Leben keine Musik gab. Um
die zu hören, mußte man sich zu Hause vor den Plattenspieler setzen, und wer
setzte sich schon im Sommer zu Hause irgendwo hin? Also gab es keine Musik,
oder doch: im Kopf. Leider weiß ich nicht mehr, was für Musik das war und ob es
sie im wirklichen Leben auch gab. Später habe ich oft an „Gepäckschein 666“
gedacht und mich gefragt, ob es das Buch wirklich gab und ob ich es je gelesen
habe.
Heute morgen, am 1. August, bin ich unter dem
himmelhellblauen Himmel die Leopoldstraße entlanggeradelt und sah auf einer
Bank ein paar Bücher liegen, die jemand da hingelegt hatte, damit sie jemand
anderer mitnimmt. Es waren lauter Bücher mit kyrillischen Schriftzeichen und
blassen Schwarzweißbildern, gedruckt irgendwann in den sechziger Jahren des
zwanzigsten Jahrhunderts in der Sowjetunion. Nur eines war deutsch:
„Gepäckschein 666“. Da dachte ich, das ist vielleicht ein Zeichen. Aber wofür?
Zu Hause spielte mein Computer zufällige Musik, wie er das
manchmal tut, um mich vielleicht neugierig zu machen. Einige Zeit plätscherte
das so vor sich hin, aber plötzlich wurde ich hellwach: Da lief „Party Hats“
von Bear Hands, und das ging mir nach vier Sekunden schon so sehr nicht mehr
aus dem Kopf, als bestünde mein ganzes Gehirn, mein ganzer Körper daraus.
Erstaunt stellte ich fest, daß ich das Lied und das ganze Album im Februar
schon mal gehört hatte, ohne es zu bemerken. Wie geht das? Noch erstaunter
stellte ich fest, daß die Platte nächste Woche noch mal erscheint, wie das
Platten früher manchmal taten, wenn sie für die deutsche Plattenindustrie erst
einmal zu neu, zu fremdartig, zu gut waren. In diesem anachronistischen Fall:
ein Glück, weil der August die ideale Zeit ist für diese Mischung aus
himmelhellblauem Synthesizerpop, klirrenden Gitarren, kantigen
New-Wave-Grooves, waldmeistergrünen Stimmen in windig-kühlen Hallräumen,
wütendem Punk, nüchternem Achtziger-Tanz-Chrom/Plastik/Glas, Postpunk-Indietronik,
hochsommerlich schwebender Glücksmelancholie, mediterranem Shabby-Chic-Glanz
und Melodien, die im Gedächtnis kleben wie Americana-Comic-Kaugummi. Und weil
„Thought Wrong“ die seltsamste, traurigste, schwereloseste Ballade ist, die ich
seit langem gehört habe, und mich durch mehr als einen einsamen Herbst
begleiten wird wie ein tröstender Geist.
Es interessiert mich nicht, was Kritiker daran beanstanden
(„zu repetitiv“, „zu radiofreundlich“), was für Referenzen sie bemühen: The
Police, MGMT (mit denen Sänger Dillon Rau zur Schule gegangen ist), The Clash,
Hall & Oates, Foster The People, Vampire Weekend, INXS, The Dismemberment
Plan, The Fixx, Mansions, Phoenix … das ist alles Quatsch und stimmt
wahrscheinlich trotzdem, aber es hilft gegen die Magie glücklicherweise so gut
wie Aspirin gegen eingewachsene Zehennägel.
Drum ist’s egal. Ich fahre jetzt zum Baden, wickle
„Gepäckschein 666“ in mein waldmeistergrünes Handtuch, und diesmal habe ich
Musik dabei – vielleicht ist es sogar diese Musik, die damals in meinem Kopf
lief. Schöne Ferien.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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