Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders
wenn er so angeschlichen kommt wie dieser, jeden Tag und jeden Tag aufs neue
verkleidet als späte Halbschwester des seit Juli spurlos vermißten Sommers,
frivol zum Fenster hereinblinzelt, so daß man sich jeden Tag und jeden Tag aufs
neue draußen findet, Fuß in der müden Isar, Kopf im taufeuchten Gras, der Blick
im milchigen Sonnenhimmel versunken. Wie soll da etwas vorwärtsgehen, wenn die
zwei Drittel des Lebens, die man aus guten Gründen vergessen hat, wie
Schusterpilze, Fichtenreizker und Pfifferlinge herausploppen aus der Wiese der
Vergangenheit und säuselnd-verlockend flüstern von Dingen, die eventuell nie
waren, jedenfalls nicht so, bis das gesamte Bewußtsein und Gemüt mit einem
nostalgischen Pfannkuchen überzogen ist?
Bis dann endlich doch eines Tages das Wolkenplumeau sich
nicht lichten will, blutorangenfarbene Blätter wie eine Horde verspäteter
Zaunkönige und Rotkehlchen um die leere Luft tanzen und gar ein paar Tropfen
als mahnend-monotone Wasseruhr allgemeines Schwinden darstellen: Dann ist mit
einemmal der Himmel nicht mehr der Hut, die Erde nicht mehr der Schuh, sondern
die eigene Wohnung eine sanfte Höhle, von der man erstaunt feststellt, daß man
ihre Entwicklung seit Monaten nicht mehr verfolgt hat.
Auf dem Schreibtisch findet sich ein alter Zeitungsausriß
mit einer interessanten Information: „In über einem Drittel der Haushalte in Deutschland“,
heißt es da, „kreuchen und fleuchen 28 Millionen Haustiere.“ Schon spürt man
ein eigentümliches Kribbeln und Zippeln, ein Huschen und Sirren, Flirren und
Krabbeln, und wenn man müßig in den Ring von Blätterchen pustet, den das
Granatapfelbäumchen auf dem Fensterbrett kokett um sich gelegt hat, und
erstaunt zuschaut, wie eine Großfamilie von Zitterspinnen panisch-unbeholfen in
alle Richtungen davonhumpelt, erscheint einem diese Mitteilung sehr plausibel.
Dann, o ja, ist es Zeit zum Aufräumen. Diese
hochzivilisatorische Tätigkeit, die jeden Herbst so zuverlässig wiederkehrt wie
bald darauf das Weihnachtsspektakel (und bei der durchschnittlich etwa dreißig
längst verloren geglaubte oder überhaupt vergessene Gegenstände wieder
auftauchen und ebensoviele für mindestens ein bis fünf Jahre verschwinden),
bedarf höchster Akribie und Sorgfalt. Wie schrecklich die Menschen, die einmal
die Woche mit dem Staubsauger durch die Bude röhren und kein Auge haben für all
die Kleinigkeiten, das Strandgut häuslichen Lebens, das dabei für immer aus der
Welt gerät!
Also wird zunächst der Schreibtisch „aufgeräumt“. Eine
vergilbte Telephonnummer ohne Namen, eine spätnächtlich unleserlich
hingekritzelte Notiz für eine Kurzgeschichte, eine goldgelb verfärbte Vorab-CD
aus den Neunzigern (ohne Beschriftung), ein Flyer für eine nicht besuchte
Premiere, drei verstaubte bunte Steinchen vom Strand bei Grosseto, eine
finanzamtliche Mahnung, von der man nicht mehr weiß, ob man ihr Folge geleistet
hat, ein jungfräulicher ZDF-Notizblock, von dem man ahnt, daß man ihn auch die
nächsten fünfzig Jahre nicht benutzen wird, eine norwegische Briefmarke, auf
deren Rückseite der Titel eines Films steht, den man nie gesehen hat, ein
erfreuliches Blutbild von 2012, eine Aschenbecherscherbe aus dem Westbury-Hotel
in Dublin, ein Kindergartenportrait einer verflossenen Bekannten, ein praktischer
Riemen für Kabel, der Stempel einer unbekannten Firma mit vierstelliger Postleitzahl,
eine Einladung zum Erstsemesterfest (1998), ein undefinierbares Holzfigürchen
mit vier Beinen und angeleimtem Wackelkopf, ein leeres Feuerzeug mit der
Aufschrift „Drogen nur vom Fachmann“, der Hinweis auf einen Literaturwettbewerb
(Einsendeschluß 31. 3. 2011), ein alter Backstagepaß, ein USB-Kabel für ein
kaputtes Telephon, drei Knöpfe von einer kaputten Jacke, ein Stück Plastik, das
im Dunkeln leuchtet, ein Lederbändchen, zwei Matchbox-Superfast-Räder mit Achse
… – darf man derartige Dinge einfach so hinfortschmeißen, auf die Gefahr hin,
daß irgendwann, in Jahrzehnten vielleicht, der Moment kommt, wo man sie doch
mal brauchen kann oder wo sie einen wunderlichen Lichtfinger der Erinnerung in
ein dementes Hirn hineinfallen lassen?
Selbstverständlich nicht. Also läßt man das meiste, wie es
ist, wendet sich dem überquellenden Kleiderschrank zu, bringt es aber nicht
übers Herz, auch nur ein einziges der steinzeitalten T-Shirts, eine einzige der
zerfetzten Jeans aus Schulzeiten zur Kleidersammlung zu tragen (wer sollte so
was anziehen?), und hebt sogar durchlöcherte Socken auf, weil man schon seit
Jahren plant, aus ihnen und einem zerschlissenen Handtuch eine hübsche Rolle zu
basteln, die man im Winter ans Fenster legen kann, um zu viel Zugluft zu
verhindern.
Vom Bücherregal wollen wir gar nicht reden. Da hat die
italienisch kommentierte Ausgabe von Ovids „Fasti“ (Florenz 1822) ebensowenig
zu befürchten wie Christian Gotthilf Salzmanns „Joseph Schwarzmantel oder Was
Gott thut, das ist wohlgethan“ (wohlfeile Ausgabe für Schüler, Schnepfenthal
1834), Autoren wie Urzidil, Utermann, Utzinger und Uzarski, die wahrscheinlich
kein Mensch mehr kennt und nie mehr kennen wird, die in Teilen zerfledderten
Gesamtwerke von Irren wie Seeliger und Scherr, die „Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung“ von Walter Ulbricht, „Ereignisse und Gestalten“ von Wilhelm
II., Helmut von Hummels „Aus meinem Leben“ und die Gesprächsprotokolle der
Kommune 2.
Sowieso ist dies keine leichte Zeit: der Herbst, besonders
wenn er so lange dauert, daß man ganze Tage in und zwischen Regalen verbringt
und hineindämmert in obskure Lesezeichen, An- und Bemerkungen, bis man
vollkommen vergessen hat, was man irgendwann „ursprünglich“ mal wollte
(„aufräumen“?). Aber dann scheint eh schon wieder die Sonne, haben 28 Millionen
Zitterspinnen neue Netze erbaut, und zum Staubsaugen bleibt nächsten Herbst
auch noch Zeit.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Die Folgen 1-400 sind in vier Bänden als Buch erhältlich.
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