Neulich war ich zu einem Poetry-Slam geladen. Früher durfte
man dort so ziemlich alles, was oft recht spannend war. Seit Julia Engelmann
(googeln: auf eigene Gefahr) gilt Regel Nummer eins: Du bist jung. Und du mußt
davon schwärmen, wie geil es ist, jung zu sein.
Wer jung ist, hat Chancen, Optionen, Möglichkeiten,
Aussichten, eine Zukunft! Aber keine Gegenwart. Die besteht aus Lernen,
Aufsagen, Terminen, Jobs, Vorstellungsgesprächen, Praktika, sich endlos den
Kopf zermartern, was für Chancen, Optionen, Möglichkeiten man nutzen soll und
wie das geht.
Das ist mein Glück: Da, wo ich aufgewachsen bin, hat es
keine Chancen und keine Zukunft gegeben. Da hieß es: jetzt Schule, später
Arbeit, Rente, dann aus. Aber es gab eine Gegenwart: Fußballspielen, Musik,
rumhängen, Leute ärgern, Sachen kaputtmachen, Sex haben, zum Baden fahren,
Bücher lesen, spazieren gehen, in der Sonne liegen, nachdenken. Ich habe nie
verstanden, wozu ich eine Zukunft brauche, wenn ich eine solche Gegenwart habe.
Ich wollte, daß das immer so weitergeht, ohne Zukunft.
Jetzt bin ich alt und habe keine Zukunft mehr. Und ihr habt
immer noch eine. Ihr lernt auswendig, habt Termine, Praktika, Chancen. Und furchtbar
Angst davor, alt zu werden, weil das dann aufhört. Keine Sorge, das hört auf. Und
dann dauert es noch mal 15 Jahre, bis ihr kapiert, daß es eine Zukunft gar
nicht gibt, weil sie immer in der Zukunft liegt und nie hier ist. Wahrscheinlich
jammert ihr dann, daß ihr nicht alles anders gemacht, andere Chancen, Optionen,
Möglichkeiten genutzt habt.
Ich will nichts anders machen, nicht mal die schlimmsten
Dinge, und ich will nichts noch mal erleben, auch nicht die schönsten Momente,
weil die schönen Momente, die ich erlebt habe, niemals verschwinden. Und weil
ich das weiß, im Gegensatz zu euch, die ihr in eurer ohnmächtigen
Trauerduseligkeit angeblich verpaßten Chancen hinterherheult und eine armselige
„Zukunft“ beschwört, die in eurer rudimentären Phantasie sowieso nicht mehr ist
als ein Remake des Vorstellungsgesprächs von letzte Woche mit leicht
verändertem Dialog und etwas teureren Möbeln.
Wozu sollte ich jung sein wollen? Wozu sollte ich in einem
Zustand sein wollen, in dem all die wunderbaren Dinge, an die ich mich erinnern
kann und die deswegen immer da sind, noch gar nicht passiert sind? Wozu sollte
ich all die schrecklichen Dinge, bei denen ich froh bin, daß ich sie hinter mir
habe, erst noch erleben wollen? Den ersten Vollrausch, die erste Kotzerei, die
erste Scheißliebe, die einen wegen irgendeinem Arsch mit Ohren sitzen läßt? Wozu
sollte ich all die Bücher erst noch finden müssen wollen, die mich klug und
glücklich gemacht haben?
Auf meinem Computer sind 702 Tage Musik. Es hat Jahrzehnte
gedauert, die schönste, tollste, krasseste Musik der Welt zu entdecken und lieben
zu lernen. Jetzt kann ich darüber verfügen, wie ich will, mein Leben damit
füllen, schmücken, zu einem Traum machen. Wenn ich diese Musik höre, erwachen
Erinnerungen, Augenblicke, Empfindungen, die intensiver sind als irgendeine eingebildete
Zukunft. Wenn ihr diese Musik hört, empfindet ihr nichts, weil ihr noch nichts
erlebt habt und nicht wißt, wie man etwas empfindet.
Wofür sollte ich mit einem Quarkpudding vollidiotischer
politischer Meinungen im Kopf durch die Gegend laufen wollen, wenn es mich
Jahre gekostet hat, diesen dreimal verdauten Mainstreampropagandamüll nicht nur
nicht mehr nachzuplappern, sondern mir nicht einmal mehr anzuhören und damit
kostbare Lebenszeit zu verschwenden?
Oder reden wir über Sex. Darüber redet ihr nicht mehr gern,
weil das unhygienisch ist und man dazu nackt sein muß und weil der andere dann
merkt, daß man Problemzonen hat. Wozu soll ich über Problemzonen nachdenken?
Wozu soll ich mir das armselige Gestocher, Gequietsche und Gereibe, diesen
Firlefanz aus Verklemmtheit, Verklemmung, ungewaschenen Geschlechtsteilen,
halbgelernten Kußtechniken und vollgeschleimten Tempotaschentüchern
zurückwünschen? Fragt eure Freundinnen, wieso sie lieber mit Alten ins Bett
wollen. Und wenn sie das nicht wollen, dann sucht euch neue Freundinnen, damit
wenigstens ihr was davon habt.
Ja, ich bin alt, und euer Argument, ich hätte nicht mehr
viel Zeit, ist Quatsch: Im Gegensatz zu euch habe ich Zeit, weil ich sie nicht
mehr mit Dummheit, blöden Ersterfahrungen, Arbeit, Streberei, Irrtümern,
Scheißlieben und Drecksbeziehungen, vergeblichen Hoffnungen, Konsum, Plapperei,
Ohnmacht, schlechten Büchern, beschissener Musik, üblen Parties,
vollgeschleimten Tempotaschentüchern und diesem ganzen überflüssigen Zeug
verschwenden muß, sondern damit anfangen kann, was ich will.
Ja, ich bin alt. Und ich werde sterben. Wir werden alle
sterben, ihr auch. Aber bei mir ist sicher, daß es mir gelungen ist und gelingt,
so zu leben, wie ich will. Bei euch warten wir das lieber mal ab. Zwischen 20
und 30 sterben mehr Menschen als zwischen 50 und 60: auf Autobahnen, an Überdosen,
beim Extremsport, an Krankheiten, von denen ich weiß, daß ich sie nie gekriegt
habe, und von denen ihr nicht wißt, ob ihr sie nicht nächste Woche kriegt.
Alt zu sein hat mich verdammt viel Zeit und Mühe gekostet. Und
ich will noch viel älter werden und sein, und das ist das Fieseste an der
ganzen Geschichte, was euch wahrscheinlich so wütend macht, daß ihr euch mit
Gewalt einbilden müßt, es sei etwas Tolles, jung zu sein: Ihr werdet mich
niemals einholen. Ätsch.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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