Manchmal möchte man meinen, es sei alles gesagt.
Schlußsteine und Abspänne haben die schöne Eigenschaft, daß nach ihrem
Auftreten und Erscheinen der Meinungsführer die Feder spitzen und Gesamtbilanz
ziehen kann: Was war’s denn nun, in weltgeschichtlichem Kontextzusammenhang?
Und was war’s wert?
Bei Morrissey wünscht sich das so mancher lange schon, weil
der Nachruf zu Lebenszeiten in der Schublade liegt und nur noch etwas
aufgehübscht, mit ein paar aktuellen Nachwörtchen berüscht und der aktuell
gültigen Rechtschreibung angepaßt werden muß. My dear, ist das etwa kein
Lebenswerk: eine der wichtigsten Bands aller Zeiten, neun Soloalben, von denen
(vielleicht mit Ausnahme von Nummer zwei und drei) ein jedes besser war/ist als
das vorhergehende, eine doppeldaumendicke Autobiographie, die bei Penguin
Classics erschienen ist – und aber verdächtig doppelt und doppelt verdächtig
endet: Mit den Worten „and it was dark, and I looked the other way“ schließt
der Text; den knappen Danksagungen indes ist das Motto beigefügt: „Whatever is
sung is the case.“
Und so wird weitergesungen, und Steven Patrick Morrissey,
kürzlich 55 geworden, wäre ja auch ein Depp, wenn er seine weltgeschichtlich
einzigartige Stimme fortan müßigem Teestundengeplauder vorbehielte. Damit die
Bilanzeure auch gleich wissen, daß dies und auch dies kein Schlußstein und kein
Abspann ist, hat er seinem zehnten Soloalbum (das ebenso ein Gang-Album ist wie
die letzten sechs) ein Cover aufgesetzt, das als finales, alles bereits Gesagte
noch mal kurz aufscheinen lassendes Statement so gut geeignet ist wie ein
gestreckter Mittelfinger mit herausgestreckter Zunge als Grabrede.
Daß sein Hang zur bitteren, oft alle Grenzen auch der
Selbstachtung überschreitenden Ironie, zum maßlosen, sich selbst (und allem
anderen aber erst recht) ins Gesicht spuckenden Zynismus, zur
rasierklingenscharf schneidenden Klugbosheit, zum triumphalen Trotz mit den
Jahren eher immer stärker wird, neue Kanäle in noch wilderen, noch poetischeren
Textzeilen sucht und findet – das versteht sich irgendwie auch von selbst: „Das
Gute und das Böse müssen dokumentiert werden. Das Leben ist eine ernste
Angelegenheit, wozu sollte man also so tun, als wär’s das nicht?“ rief er
kürzlich den planetaren Horden der ohnmächtigen Spaßgesellschaft entgegen, die
über nicht mehr zu singen wissen als über mißverstandene, in Plastikfolie
verpackte Plastikdinge, die sie für Sex halten, den „fetten 19jährigen“, die
unter Stil nicht mehr verstehen als „Klamotten zu kaufen, die zum Sofa passen“.
Musikalisch ist die Sache punktuell vertraut: schwere,
leichtfüßige, schwebende, wie Lava walzende Harmoniefolgen, hymnisch
arrangiert, in große Refrains mündend, die das Schicksal der Welt („Earth is
the loneliest planet of all“) auf den spürbaren Punkt bringen. Aber die Überraschungen
und schönen Schritte nach vorne und zur Seite purzeln nur so aus dem Schrank;
man höre etwa „Smiler With Knife“ und versuche einen Vergleich für diese
seltsam entspannte, dräuende Horrorballade zu finden – es darf schon mal
erwähnt werden, daß es durchaus etwas Ungewöhnliches ist, wenn ein
Liederdichter Mitte fünfzig nicht krampfhaft versucht, seine späte Jugend als
Farce heraufzubeschwören oder noch verkrampfter sich in irgendeine Ruhmeshalle
von Konsensvorbildern hineinzumeißeln, sondern einfach reift, indem er Neues
versucht, auf was man mit 30 nie kommen könnte, und Altes weiter formt,
beschleift, perfektioniert (ohne es je perfektionieren zu können, ehe nicht
wirklich der Schlußstein gesetzt und der Abspann verklungen ist).
Das sind nicht nur Gags, Trompetenintros, spanische
Gitarren, versetzt-progressive Akustikriffs, eigenartig verschrobene Breaks,
ein jazziges Oboensolo; es ist das Ergebnis der Ausschöpfung aller
musikalischen Möglichkeiten, die eine Entwicklung über etwas mehr als 30 Jahre
eröffnet. Und damit war von den Texten noch gar nicht die Rede, die in
poetischster Form und ohne Rücksicht auch auf sich selbst tun, was Poesie im
allerbesten Falle tut: das Unfaßbare, die Dinge, das Leben und die Welt
(selbstverständlich auch die tagesaktuelle) in be-greifbare Bilder und Zeichen
gießen, die den unschätzbaren Vorteil haben, auch noch von blendender Schönheit
zu sein.
Mag das nächste Album noch einmal fünf Jahre auf sich warten
lassen – was sind schon Jahre? Wir haben bis dahin genug zu tun.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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