Wohin er auch sich entwickelt, der Mensch, stets und stetig
bleibt er der Vergangenheit verhaftet, verklebt und verwoben, weshalb sein
tiefsitzender Drang nach Neuem, nach Weiterbildung, Ausformung und Ablegerablegung
wohl nur ein Ausgleichsbemühen ist, weil tief in ihm die Sehnsucht nach ersten
Malen und Augenblicken brennt.
Wir rollen die esoterische Tischdecke wieder ein, weil
darunter das alte Holz seine Maserung darbietet, die Scharten und Schnitte und
Kratzer und die Mitgenommenheit der Jahre seit … Hach! brüllt Doktor
Weißichschon: die Blonde vom Autoscooter, ja ja! Ich weiß noch!
Nur weiß es außer ihm keiner, weil in jedem Kopf ein eigener
Autoscooter seine Spirographmuster dreht (weshalb dem Autor dieser Zeilen das
Wort „Spirograph“ aus derartiger Entfernung und Tiefe plötzlich wieder in den
Sprechschreibapparat gerutscht ist, weiß hingegen kein Mensch außer Frau Warschonimmerda-Binsnoch,
deren Lächeln als zuverlässiger Wegweiser durch die tiefsten Dunkelheiten wirkt).
Da leuchten Farben, dräuen Gewitter, winken Erstverliebtheiten, schaumduften
Marshmallows, prangen Brüste, strahlen südkalifornische Täler, brüllen rasende
Kellerclubs, lächeln Augenwinkel, duften zarte Berührungen, brausen und pludern
Klassenparties, kreiseln Rauchfähnchen, dämmern güldene Sommerabende, deren
Güldenheit zu 99 Prozent daher rührt, daß sie die jeweils ersten und zugleich
letzten waren und niemals wiederkehren. Außer in jenem Bereich knapp unter dem
Kopf, wo das Gemüt und die Sehnsucht wohnen.
Dorthin und dort stechen und stochern Frau Wolfe und Frau
Laessig – nennen wir sie Jess und Holly, um weitere Quellen verwehter, nie zu
stillender Sehnsüchte zu öffnen –, deren Einzigheit und Fähigkeit darauf
beruht, daß ihre Seelen weiße Blätter sind, flatternd im Sturm der tobenden
Reminiszenzen, die ihre weichen Hände immer dann kokett zurückziehen ins
Nirgendwo, wenn man meint, sie greifen zu können. Lucius heißt ihre Band, über
die (Schrecken aller Musikjournalisten, die stets vergleichen, deuten und
herleiten müssen) nichts zu sagen ist als: Berklee School of Music besucht,
kennengelernt, ab und zu als Lucius aufgetreten, nach Brooklyn gezogen, dort
die anderen drei getroffen. Na gut, wirft Herr Kannschonsein ein, das kann
schon sein, ist ja auch erst eineinhalb Jahre her, nicht wahr.
Da lächelt Frau Warschonimmerda-Binsnoch mit der ganzen
Weisheit ihrer unergründlich ewigen Jugend: Alles wohnt in allem, weiß sie; und
daß das Debütalbum von Lucius den einen an die Sechziger, den nächsten an die
Siebziger, den dritten an die Achtziger und tausend andere an tausend
Klassenparties, Gewitter, Erstverliebtheiten, Täler, Kellerclubs,
Rauchfähnchen, Augenwinkel, Marshmallows, Brüste, zarte Berührungen und güldene
Sommerabende erinnert, liegt einfach, schlicht und nur daran, daß Lucius nichts
von alldem wissen, alles neu erfunden haben, wie es tausende und abertausende
Generationen vor ihnen getan haben. Stets in dem unverwüstlichen gewissen
Wissen: Niemand vor uns hat das je erlebt!
So entwickelt er sich, der Mensch: stets zurück, stets nach
vorne, stets im Kreis und immer weiter. Was gestern gut war, ist heute besser. Was
morgen schön ist, wird an gestern erinnern, und was gestern schön war, erblüht
im Morgen.
Liebe Leute, sagt Frau Liebeleutehörtaufmich, hört auf mich:
Wenn ihr euch nächste Woche verliebt (es ist die Woche, die statistisch
betrachtet am besten dafür geeignet ist), legt dazu „Wildewoman“ auf. Und wenn
ihr schon verliebt seid, seit letzter Woche, dann tut das erst recht. Ihr
werdet es ein Leben lang nicht bereuen, sondern euch danken.
Und dort, ganz hinten in der Ecke, wo sich die Welt öffnet
und die Luft rosaviolett und weit wird, dort lächelt Frau Kommdoch und sieht
aus, als sagte sie: Komm doch. Aber das sieht man nicht genau, weil es so
strahlt, das rosaviolette Licht. So entwickelt er sich, der Mensch, so bleibt
er verhaftet, verklebt und verwoben und kann doch nur so: schweben, fliegen,
ewig und immer, getragen von weichen Händen und Stimmen und einem Stück Sonne.
Ein erstes Mal.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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