Als der Gott des Bluesrock einen
Felsen suchte, auf dem er seine Kirche errichten konnte, fand er Claude „Leon“
Russell Bridges und suchte nicht mehr weiter. Die Kirche steht bis heute an der
3rd Street in Tulsa, Oklahoma, trägt den Namen Church Recording Studios, und dass
die konfessionelle Zuordnung zur Sekte der Heiligen, Apostel und Jünger des
Bluesrock Leon Russells irdisches Schaffen bei weitem nicht vollständig er-
oder gar umfasst, zeigt die Liste der Musiker, die dort mit Russell ihre
eigenen und immer wieder dessen Songs aufnahmen, mit ihm tourten und ihn von
anderswo herbeiriefen, auf dass er sie segne, heile oder rette.
Mit einer vollständigen Aufzählung
ließe sich das vorliegende Heft füllen, drum greifen wir halbzufällig hinein in
die Masse, nennen mehrere Ex-Beatles, die Rolling Stones, Bob Dylan, Willie
Nelson, Joe Cocker, die Carpenters, J. J. Cale, Doris Day, Gram Parsons, Ray
Charles, Eric Clapton, Jan & Dean, Byrds, Beach Boys, Jerry Lee Lewis, Phil
Spector, Frank Sinatra, B. B. King. Fügen wir hinzu, dass all dies Jahrzehnte
her ist, es Leon Russell jedoch gelang, noch 2010 gemeinsam mit der ewigen
Ulknudel Elton „Es kann nie genug schlechte Songs geben, drum schreibe ich
jedes Jahr zehn neue“ John eines der zertifiziert besten Alben des Jahres
aufzunehmen.
Fragen wir uns, wie all das sein kann,
wie es geschehen konnte, dass manche von Russells Song in bis zu vierzig
Versionen die Hitlisten der USA und anderer Länder bevölkerten, dass viele
weltberühmte Superstars ihn als Heiligen oder gar gleich selbst als Gott
verehren, und nennen wir ihn zur Antwort schlicht den Urquell der längst
multikulturell internationalisierten amerikanischen Musik.
Fügen wir hinzu, dass viele auch in
dem Menschen Leon Russell eine Ikone, ein Ideal und Idol sehen, den klassischen
freewheelin’ Hobo, libertären Freigeist, prototypischen Hippie, das einzig
unverbrüchliche Leitbild einer längst verwehten Gegenkultur, und stellen wir
all das nicht in Frage, weil zwar nichts je ist, was es scheint, aber Leon
Russell vielleicht noch am ehesten. Wer behauptet, nie einen Song von ihm
gehört zu haben, lügt. Wer nicht zumindest seine frühen Platten kennt, schätzt,
liebt, versteht wenig von Musik. Wer meint, die USA wären ohne ihn heute nicht
ein (noch) viel schlimmerer Ort, verkennt die Historie.
Wozu nimmt ein solcher Mann in nicht
unbedingt mehr popmusikkompatibelstem Alter 2014 ein neues Album auf? Diese
Frage ist leicht zu beantworten: weil er es kann und muss. Weil es in ihm immer
noch glüht, raucht und brennt, weil seine unfassbar anrührende, packende,
wundervolle Schmirgelstimme mit jedem Jahr ein Stück reifer und besser wird,
weil die Songs einfach drin sind in seiner Seele, seine Seele sind, diese
unsterblichen Lieder von Paul Anka, Hoagy Carmichael, Eddie Cooley, Duke
Ellington, Robert Johnson und vielen anderen, die ihn auf der Reise seines
Lebens bis heute geleitet und begleitet haben.
Deshalb setzte er sich mit dem
ebenfalls reichlich legendären Produzenten Tommy LiPuma zusammen und spielte
sie ihm vor, und der empfahl ihm ein paar weitere, ließ die Bänder laufen,
holte den Bassisten von Count Basie, ein paar Bluesrock-, Dixieland- und
Jazz-Urfelsen sowie eine ganze Big Band dazu, die den bescheidenen Mann erzittern
ließen und die Flamme in ihm derart schürten, dass man streckenweise fassungslos
lauscht und sich bei Balladen wie „Think Of Me“ und „I’m Afraid The Masquerade
Is Over“ in Gänsehäuten geradezu wälzt. Durch diese Aufnahmen fließen Milch und
Honig, in ihnen schlägt ein altes, weises Herz, das dennoch, wenn es lauter
wird, noch immer überströmt vor Sehnsucht, Leidenschaft, Sex.
„Ich nähere mich dem endgültigen Ziel
meiner Reise“, schreibt Leon Russell in seinen Anmerkungen zu diesem Album, mit
dem er trotzdem unverdrossen auf Tour gehen möchte, und zwar in Riesenbesetzung
samt Orchester. Vor zwei Wochen hatte er Geburtstag. Wir sollten ihm noch mal
72 gesunde Jahre voller Musik wünschen, wenn das nicht gar so vermessen wäre.
Aber vielleicht hat der Gott des Bluesrock ja ausnahmsweise ein Einsehen.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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