„Ist dir schon mal aufgefallen“, fragt N mit dem
inquistorisch-kritischen Blick, der zu ihrer morgendlichen Zeitungslektüre
dazugehört wie Kaffee und zwei Zigaretten, „daß der abscheuliche falsche
nachgestellte Genitiv in kriegerischen Zeiten besonders stark grassiert?“
„Äh, nein“, sage ich. Seit Wochen schweigen Radio und
Fernseh, weil mir von der blökenden Kriegspropaganda übel wird und das zwischendurch
versendete Geplauder, das den Anschein erwecken soll, dies sei alles ganz
normal, Kopfweh und Gänsehaut macht. Inzwischen lese ich auch keine gedruckten
Instruktionen zum Denken und Meinen mehr.
„Es heißt dann nicht mehr ‚Rußlands Regierung‘, sondern ‚die
Regierung Rußlands‘. Das soll angemessen wichtig wirken und die kolossale
Bedeutung der Zeitenwende unterstreichen, die wir durchleben. Total verboten
ist das harmlos-friedlich-entspannte ‚die Regierung von Rußland‘.“
„Hm“, sage ich.
Beim Spaziergang durch den strahlend sonnigen Apriltag
fasziniert uns, wie brüchig die scheinbare Gelassenheit der Menschen ist. Am
Biergartennebentisch kommt das müßige Gespräch über Hunde und Automotoren
naturgemäß zum Erliegen, ohne mit einem der üblichen Folgethemen (etwa der
erstaunlichen Qualität von Discounterfleischwaren) wieder aufzuleben. Statt
dessen wird die These vertreten, am derzeitigen Zustand der Welt sei der Hitler
schuld, weil er sich in seiner Blödheit am Juden aufgearbeitet habe, anstatt
den Russen ein für allemal im Pazifik zu ersäufen. Gegenredend wird geäußert,
der Russe sei „teilweise“ auch nur Opfer der jüdisch-amerikanischen Finanzverschwörung,
was in wildes und wirres Thesengeklopfe mündet. Der Deutsche, so weit ist man
sich immerhin einig, dürfe diesmal nicht mehr beiseite stehen und den Schwanz
einziehen. Ich fühle Gänsehaut und Kopfschmerz nahen, und wir fliehen.
„Es gibt Nahost und Fernost“, sagt N versonnen. „Nahwest und
Fernwest gibt es nicht. Dabei ist uns China viel näher als Amerika und Sibirien
näher als Spanien.“
„Okay“, sage ich.
„Woher kommt die pathologische Furcht der Deutschen vor dem
Osten?“ fragt N, rhetorisch.
„Ich weiß nicht“, antworte ich unvorsichtigerweise. „Hunnensturm?
Völkerwanderung? Dschinghis Khan?“
„Damals“, sagt N, „war der Osten aber immer zugleich das
Ziel aller Hoffnungen und Sehnsüchte. Auch Amerika wurde nur entdeckt, weil man
schneller in den Osten wollte.“
„Aber nicht von den Deutschen.“
„Schuld“, sagt N mit leicht belehrendem Tonfall, „ist die
Atlantikbrücke. Eine ultraradikale Sekte, gegründet von Leuten, deren Vorfahren
aus Angst vor dem Osten nach Westen geflohen sind und jetzt danach streben, den
Osten zu unterwerfen und ihn dazu notfalls zu vernichten.“
„Oho“, sage ich.
„Zu diesem Zweck haben sie sogenannte Meinungsführer
verpflichtet, in sogenannten Leitmedien unablässig die Segnungen des
Kapitalismus und der sogenannten westlichen Werte zu preisen und für deren
Ausweitung auf die ganze Welt zu trommeln.“
„Und wozu?“
„Stell dich nicht dumm. Kapitalismus bedeutet die immer
weitergehende Anhäufung von Reichtum durch die Verwertung von Arbeitskraft und
Ressourcen. Dafür braucht man Wachstum, und das heißt: immer neue Märkte, die
man ausbeuten kann. Und weil das manchmal nur mit Bedrohung und militärischer Gewalt
geht, braucht der sogenannte westliche Kapitalismus eine NATO, die zum Beispiel
Rußland und China deutlich macht, daß es sich zu fügen hat.“
„Aber Rußland“, wage ich einzuwenden, „ist doch längst
selbst kapitalistisch. Der Kalte Krieg ist vorbei.“
„Blödsinn. Das ganze Gerede von Kapitalismus gegen
Kommunismus war nur blöde Propaganda. Kommunismus hat es außerhalb von gewissen
christlichen Klöstern nie gegeben. Der ideologische Quatsch war immer ein
Hirngespinst, das nur dazu diente, die dumme Masse aufzuwiegeln, was übrigens
besonders idiotische Idioten zum Beispiel beim ‚Focus‘ heute noch versuchen,
indem sie von einem ‚Bolschewismus ohne Sozialismus‘ quasseln. In Wirklichkeit
geht und ging es immer darum, welche Oligarchen die Profite einschieben.“
„Jetzt fängst du also auch mit der internationalen
Finanzkapitalverschwörung an“, sage ich.
„Ach“, seufzt N, „die Mühsal des Differenzierens.“
„Ich weiß“, sage ich. „Laß uns was essen gehen. Bei dir um
die Ecke gibt es jetzt ein ukrainisches Lokal.“
„‚Ukraine‘ bedeutet übrigens ‚militärisches Grenzgebiet‘.
Gorbatschow hätte im Sprachunterricht besser aufmerken sollen.“
„Gorbatschow?“
„Dem“ (N doziert nun ungeniert) „hat die NATO, nachdem er
ihr die DDR geschenkt hat, hoch und heilig garantiert, sich keinen einzigen
Meter mehr nach Osten auszudehnen. Danach kamen zu den sechzehn
Mitgliedsstaaten zwölf neue hinzu: Polen, Tschechien, Ungarn, Bulgarien,
Estland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Albanien und Kroatien. Die
Ukraine ist der letzte Puffer, dann ist Rußland umzingelt.“
„Na gut“, sage ich, „wenn die Leute in diesen Ländern das
wollen?“
„Um etwas zu wollen, muß man wissen, was es bedeutet. Weißt
du, was es bedeutet, daß Deutschland in der NATO ist?“
„Äh, nein. Ich bin aber auch nie gefragt worden, ob ich das
will.“
Während wir durch den Münchner Norden radeln und hin und
wieder Rast machen, um Schlagzeilendiskussionen mitzuhören, schwirren Begriffe
durch den imaginären Raum: Autokrat, Despot, Oligarch, Demokratisierung,
Diktator, Terrorist, Freiheitskämpfer, Separatist. Und tausend falsche
nachgestellte Genitive.
„1914“, sagt N. „Kein Zufall: Es ist niemand mehr übrig, der
sich erinnern könnte.“
Endlich frage ich verzweifelt: „Was bedeutet das alles?“
„Nichts“, sagt N, und ihr Akzent verschiebt sich merklich,
als sie einen großen Liederdichter zitiert: „Du gibst mir Liebe, ich geb dir
Österreich.“ Und hinzufügt: „Wir waren nie in der NATO und haben das auch nicht
vor. Und daran ist diesmal doch der Hitler schuld.“
Sie lächelt wie der blaue Himmel über der Wirrnis, dann
gehen wir Fahrkarten kaufen.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen