Ich solle, sagte mir ein aufmerksamer Leser, nicht mit
Marginalien meine Zeit verschwenden, sondern mich den Dingen widmen, die wirklich
zählen. Gemeint war nicht der zählende Papagei aus einer meiner liebsten
Donald-Duck-Geschichten (die ist wahrscheinlich eine Marginalie), sondern das, was
von „Bildzeitung“ und taz gerne zu „Helden“ ausgerufene Menschen
hauptberufungsmäßig tun: die Welt retten!
Oho. Da stellen sich ein paar Fragen. Wenn 99% der
Menschheit hauptberuflich damit beschäftigt sind, die Welt so schnell wie
möglich zu zerstören, ist es dann vernünftig, von der Menschheit zu erwarten,
daß sie die Welt rettet? Auf mich wirkt das so, wie wenn jemand in eine
Hühnerbraterei hineinstürmt, sich ein Hendl einpacken läßt, mit dem Taxi in die
Tierklinik fährt und dort einen idealistischen Veterinär sucht, der das Tier
heilt. Zweitens: Wenn die Menschheit alles daran setzt, die Welt zu zerstören, wer
wäre dann für jemanden, der die Welt retten möchte, der logische Hauptgegner?
Drittens: Wie fängt man damit an? Das zumindest weiß ich aus
Erfahrung: Man gründet eine Initiativgruppe, die Parolen, Empörungsfloskeln und
Binsenweisheiten austauscht, dabei viel Bier und Wein verzehrt (was dazu führt,
daß es am Ende nicht mehr um die Welt, sondern um Beziehungskram,
WG-Streitereien usw. geht), sich mehrere Male in kleinere, radikalere oder
gemäßigtere Gruppen aufspaltet, die Parolen regelmäßig leicht umformuliert, sie
schließlich auf ein Plakat kritzelt (wobei darauf zu achten ist, daß man nicht
selber was tut, sondern andere dazu auffordert: „Stoppt das sinnlose Töten!“
oder so) und sich damit vor ein Gebäude stellt.
Klar, so was kann eventuell Spaß machen und dem Aktiven
distinktive Argumente für Diskussionen mit unwürdigen Epigonen liefern: „Wir
haben damals wenigstens noch was getan!“ Es endet aber meist in übler
Streiterei, noch üblerem Geplapper, pseudopolitischen Schwanzvergleichen,
psychischer Zerrüttung und der Einsicht, vor lauter Streiten, Plappern,
Schwanzvergleichen und Zerrütten übersehen zu haben, daß man die Ursache des
ganzen Wahnsinns (die Ausbeutung zum Zwecke des Wachstums zum Zwecke des
Vergessens der Tatsache, daß das Leben endet) gar nicht verstanden hat. Dann
hört man im nostalgischen Vollrausch alte Progressive-Rock-Schandtaten („Don’t
Kill The Whale“) und ärgert sich über die vergeudeten Lebensstunden und -jahre.
Ehrlich gesagt: Dieses Elend möchte ich mir ersparen und die
Zeit, die mir bleibt, bis mir die Ausdünstungen der Aluminiumindustrie Hirn und
Körper zerfressen, lieber damit verbringen, mit lieben Menschen schöne Dinge zu
tun. Zumal inzwischen die Zerstörer selbst dazu übergehen, die Welt zu retten:
Die FDP beseitigt Ausbeutung, Armut und Umverteilung der gesellschaftlichen
Reichtümer von unten nach oben, indem sie sie einfach aus dem „Armutsbericht“
der Regierung herauslügen läßt. Die Bundesministerin für Ernährung und
Verbraucherschutz schützt die Verbraucher vor der Vernichtung durch die
Fettmüllindustrie, indem sie einen „Bioapfel“ in die Kamera hält und die
Fettmüllindustrie an die Schulen schickt, damit diese dort reumütig-zerknirscht
den zugefettmüllten Kinderlein „Ernährungsunterricht“ gibt. Der
Computerhersteller Foxconn, dem noch vor kurzem die „Mitarbeiter“ reihenweise
aus den Fenstern „in den Tod“ (d. h.: auf den Parkplatz der Bosse) gesprungen
sind, läßt unter den Fenstern Fangnetze anbringen und in die Arbeitsverträge
hineinschreiben, daß Selbstmord untersagt ist. Und die Waffenindustrie
produziert ihr Zeug sowieso nur noch für Freiheits-, Widerstands- und andere
Kämpfer gegen diverse korrupte, diktatorische und sonstige Regimes bzw. für die
von den Kämpfern errichteten neuen Regimes und ihre Bekämpfer usw.
Und über all das (und zwar am besten: das alles!) soll ich
mir den Kopf zerbrechen und diskutieren und irgendwas unterschreiben und ein
Plakat tragen und mich schreiend vor ein Gebäude oder eine Kamera stellen?
Anstatt mit lieben Menschen schöne Dinge zu tun?
Nein, das mag ich nicht. Wenn, dann stellvertretend, indem
ich den einzigen Menschen erwähne, dem es je gelungen ist, die Welt zu retten: Stanislaw
Jewgrafowitsch Petrow. Und zwar so: Am 26. September 1983, als die NATO mal
wieder besonders emsig bemüht war, die UdSSR abzuschrecken, und die UdSSR ganz
besonders Angst vor einem Atomangriff hatte, saß Herr Petrow nachts in der
Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung, als der Computer
plötzlich den Anflug einer US-Interkontinentalrakete aus Montana meldete. Kurz
darauf: eine zweite, dritte, vierte und fünfte Rakete. Was das hieß, war klar:
Petrow als leitender Offizier mußte den „Roten Knopf“ drücken, um den „massiven
Gegenschlag“ und die mutmaßlich totale Vernichtung des Planeten einzuleiten.
Und was tat Herr Petrow? Er sagte sich: Das ist sicher ein
Computerfehler. Und noch einer, und ein dritter, vierter. Hoppla, noch ein
fünfter. Er leitete nichts ein, informierte niemanden, gründete keine
Initiativgruppe, bemalte nicht kein Plakat, sondern blieb einfach sitzen und
dachte: Wenn ich unrecht habe, ist’s auch egal. Mit anderen Worten: Er tat
nichts. Die „Raketen“ erwiesen sich als Wolkenspiegelungen, die sowjetische
„Satellitenüberwachung“ als untaugliches Gelumpe. Und Herr Petrow quittierte
den Dienst, aus, wie man das so sagt, „familiären Gründen“.
Nicht das schlechteste Vorbild, finde ich.
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