Es gab eine Zeit, da wagte sich die Popmusik ganz weit vor
und ganz weit hinaus. Was im Großen nach mehr klingt, als es bedeutet: Freilich
war auch das eine Zeit, da sich die Popmusik gar nichts traute und nirgendwohin
wollte. Eine Menschheit wogte um den Planeten, verrichtete ihre Verrichtungen
und hörte dazu Bruce Springsteen, Van Halen, die Bee Gees, Abba und Disco und
massenweise Autoradioballaden für Herzamputierte. Rod Stewart heiratete ein
Blondchen, und in den sommers brachliegenden Stadien verrichteten
Altrock-Institutionen ein freudloses Rumpfwerk, von Black Sabbath (ohne Ozzy
Osbourne) bis The Who (ohne Keith Moon).
Aber das war eben nicht alles; in dem großen, weiten und
strahlend weißen Schatten, den der Punkrock nach seiner Implosion im Sommer 1977
hinterlassen hatte, erblühte nicht nur das entzückend infantile
Kinderbeatles-Theater von The Knack, sondern da öffneten sich Türen und Tore,
wo vordem Mauern gewesen waren, und
manche, ja, die wagten sich ganz weit vor und ganz weit hinaus.
Die Voraussetzung dafür lieferten einige grandios glückliche
Irrtümer. Zum Beispiel hatte das institutionelle Großplattenlabel EMI, eine Art
Royal Family der britischen Musikindustrie, in der Wirrnis der Zeit in und nach
New Wave, als innerhalb weniger Wochen plötzlich alles neu und anders zu werden
schien und man um jeden Preis irgendwie dabeisein mußte, die Gruppe Wire unter
Vertrag genommen, ohne richtig zu wissen, was das eigentlich war. Und die
Gruppe Wire, zunächst eine störrische, aber im Vergleich etwa zu den Sex
Pistols recht umgängliche Veranstaltung, lieferte nun, im Sommer 1979, ihr
drittes Album ab, „154“ genannt, und stellte die EMI-Angestellten, die schon
vieles erlebt hatten, vor das größte Rätsel der Firmengeschichte. Die Platte
ließ sich nicht vermarkten (kein Titel, Bandname, Foto, erkennbares Bild auf
dem Cover); es waren praktisch keine „Songs“ drauf, sondern eine fragmentierte
Klanglandschaft von eigentümlich unzugänglichem Reiz (mit Titeln wie „Two
People In A Room“, „Indirect Enquiries“ und „Map Ref. 41°N 93°W“); man verstand
die Texte nicht, bekam die Musiker nicht zu sehen, die sich zudem weigerten,
auf der Bühne etwas zu tun, was mit der Platte zu tun gehabt hätte (oder gar
ihrem Absatz förderlich gewesen wäre).
Nein, Wire traten 1979 und 1980 zwar auf, aber wie: von
einem seltsam dadaistischen Konzepttheater vernebelt und ohne erkennbare
musikalische Struktur. Es entstanden wilde, industrialtheoretische
Improvisationen jenseits bekannter Forme(l)n, die Fachzeugen als „unanhörbar“
bezeichneten; der überforderte Postpunk warf seine Bierflasche in die Richtung,
wo er die Bühne vermutete. Das Livealbum „Document & Eyewitness“ verewigte
den Moment, da die Popmusik aufbrach, zerfloß, sich selbst überwand, für kurze
Zeit entgrenzt zum absoluten, zeitlos schwebenden Nichts wurde.
Danach war Wire (erst einmal) vorbei, Pop auch, dann begann alles
von neuem, schrieb man wieder Songs, machte wieder Promo und Balladen fürs
Autoradio, als wäre nichts gewesen. Der kurze Moment der befreienden Explosion
wurde aus den Geschichtsbüchern getilgt, die Tür ins Nichts verschlossen, der
Schlüssel vergraben.
Unbemerkt indes blieb ein Virus, das fast alles infizierte,
was in den 80ern an „moderner“ Popmusik entstand. Wire selbst kehrten zurück,
seltsam domestiziert nun und unwohl inkorporiert als Führungskollektiv einer
massenhaften Synth-Pop-Bewegung, der sie sich verzweifelt und vergeblich
entzogen und daher wieder verschwanden, atomisiert in viele Projekte, die so
weit draußen waren, daß sie niemand mehr verstand.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen