Am heißesten Tag des Jahres, dem 19. Juni 2013, sitze ich in
der Abenddämmerung bei 34 Grad mit lieben Menschen am nördlichen Rand der
Münchner Stadt um eine Feuerstelle, die niemand entzünden will, weil es dafür
viel zu heiß ist. Am Horizont schmilzt die Sonne wie eine Kugel Vanilleeis in
grell orangeroter Rhabarber-Pfirsichsauce.
Unser Gespräch dreht sich im wesentlichen um Pläne für den
Sommer: noch mehr lustige, spannende, schöne, hin-, mit- und umreißende Sachen
erleben, Bier trinken, Sex haben, Drogen nehmen, geile Musik hören, in
kristallperlenden Seen und Flüssen schwimmen, den blauen Himmel überstrahlen
und in Gewitterschauern nackt auf der Straße tanzen.
„Ab morgen“, sagt J, dreht ihre Flasche um und läßt den Rest
Bier bedeutungsvoll in einem Ameisenloch versickern, „ab morgen werden die Tage
wieder kürzer."
„Stimmt“, sagt A, „egal.“
„Sie hat Durchfall“, meldet K, die per Facebook mit O in
Venezuela kommuniziert. „Irgendwas mit Wasser. Und sie hat sich von V getrennt.“
„War V auch in Venezuela?“ fragt A.
„Nein, sie hat das per Netz gehändelt“, sagt K. „Er hat das
nicht verpackt gekriegt, die Sache. Schwierig.“
„Schade, die beiden sahen gut aus zusammen“, flüstert I und
läßt die Hand von M los, der die Gelegenheit nutzt, um eine Zigarette zu
drehen.
„Ab morgen werden die Tage kürzer“, sagt J. „Komisch, daß
alles vorbei ist, bevor es angefangen hat.“
„Das hab ich so noch nie betrachtet“, sagt M. Er hält seine
Zigarette in der Hand, als wäre sie ein Finger von I, bei der man nicht genau
sieht, ob sie weint.
Ich denke an die bei weitem schönste Frau der gesamten
Lerchenau, die ich deswegen mit dieser blöden Bezeichnung benenne, weil ich
ihren Namen nicht kenne und nicht möchte, daß alle wissen, wie verknallt ich
bin.
„Ich glaube, das wird nichts“, sage ich. „Einmal strahlt sie
mich an, als hätte sie seit Tagen auf mich gewartet, das nächste Mal kennt sie
mich nicht mehr.“
Alle wissen, wie verknallt ich bin und daß das, weil Sommer
ist, nichts bedeutet. Alle wissen, daß ich schon letzten Sommer in die bei
weitem schönste Frau der gesamten Lerchenau verknallt war. Und vorletzten,
vermutlich.
„Hast du’s ihr gesagt?“ fragt J, die eifersüchtig ist, weil
sie in mich verknallt ist, woraus aber nichts „werden“ kann, weil ich
siebenundzwanzig Jahre älter bin und sie im Herbst zum Studieren nach
Kalifornien geht.
„Nein“, sage ich, „das geht doch nicht.“
Es wird langsam dunkel; vom See ziehen Schwaden brütend
feuchter Luft mit Grillgeruch herüber. Die Frösche schnattern, als ginge es um
ihr Leben.
„Ich hätte damals bei V bleiben sollen“, sagt I, die nicht
mehr weint. M schnippt seine Zigarette weg, macht „ha“ oder „ah“ und
verschwindet im Gebüsch. „Scheißmücken“, ruft er.
„B kommt nicht mehr“, sagt K, die immer noch auf ihrem Handy
herumdrückt. „Sie muß noch bla.“
„Die muß immer was“, sagt M. „Alle müssen immer was, alle
anderen.“
„Jeder sucht sich aus, weshalb er sein Leben verpaßt“, sagt
A, „und keiner merkt es.“
„Seltsam“, sagt J, „es fängt an, und die Tage werden kürzer.
Alles, was ist, geht von Anfang an zu Ende.“
„Ich kann ihr nichts sagen“, sage ich. „Wenn man’s
ausspricht, ist die Hoffnung weg. Außerdem könnte sie ja auch was sagen.“
„Was soll sie denn sagen?“ sagt M. „Hat noch jemand was zu
rauchen?“
„Manchmal“, sagt I, die wieder zu weinen angefangen hat, „manchmal
versteht man alles, und wenn man’s sagen will, versteht man nichts.“
„Palma Violets sind Wahnsinn“, sagt W und nimmt die Stöpsel
aus den Ohren. „Was ist jetzt mit morgen?“
„Morgen werden die Tage kürzer“, sagt J und schüttet noch
einen Achtelliter Bier in das Ameisenloch.
„Liebst du mich?“ fragt I. Niemand antwortet, bis M „ah“
oder „ha“ sagt. „Ich will Sex“, sagt sie und kichert wie ein Käfer.
„Alles, was ich ihr sagen könnte, ist schon mal gesagt und
deswegen banal“, sage ich. „Ich will nichts sagen, was banal ist.“
„Nächsten Sommer, nächstes Jahr“, sagt J und spricht nicht
weiter. In der Ferne bellt ein Hund. Vom See klingt Gelächter herüber, das die
Frösche übertönen, indem sie noch lauter schnattern.
„Glühwürmchen!“ ruft I. Alle springen auf, schwärmen aus ins
hohe Gras und begleiten den Aufstieg jedes der kaltblau leuchtenden Insekten
mit begeisterten Rufen.
„Heute nacht legen sie Eier, morgen sterben sie“, sagt J.
„Die Frage der Seele von Insekten ist noch nicht geklärt“,
sagt K. „Gut möglich, daß sie ein kollektives Bewußtsein haben und nur
körperlich sterben.“
„Wahnsinn“, sagt M, „du stirbst und bist sofort wieder da,
in tausend Körpern. Deshalb brauchen die auch keine Sprache.“
„Sprache ist der Tod“, sagt J und lacht, als würde sie
gekitzelt. „Wer spricht, verrät die Idee.“
„Ich bin traurig“, sagt I und hält mit dem Zeigefinger ein
Glühwürmchen in die Luft. „Ich möchte ein Insekt sein und sterben. Aber vorher
Sex.“
„Diese Exzesse“, sagt M und lacht bellend, „bringen mich um.
Irgendwann.“
Die Dunkelheit hängt inzwischen wie eine schwarze Decke über
den Bäumen. Sterne funkeln, Flugzeuge ziehen blitzende Bahnen in
unvorstellbarer Höhe.
„Wenn O zurückkommt, ist der Sommer wirklich aus“, sagt K. „November.
V tut mir leid. Drei Jahre verschwendet.“
„Zwanzig“, sage ich, „fünfundzwanzig. Das ist alles egal,
wenn sie ein Wort sagt.“
„Welches Wort?“ fragt J.
„Such dir eins aus“, sage ich.
„Haben wir noch Coke? Fährt noch wer in die Stadt?“ ruft M
und tänzelt um die Feuerstelle.
„Arschloch. Geliebtes Arschloch“, flüstert I und öffnet mit
dem Feuerzeug eine Bierflasche.
Es ist heiß, und die Zeit zerfließt wie Schlamm, gerinnt und
bleibt als graubraune Schuppen zurück, auf denen wir barfuß balancieren.
„Ab morgen werden die Tage kürzer“, sagt J.
Ich nehme ihre Hand und sage: „Komm schlafen. Ab heute
werden die Nächte länger.“
Das Bild der bei weitem schönsten Frau der gesamten
Lerchenau scheint kurz auf, dann ist da wieder nur der Mond.
„Morgen sage ich was“, sage ich. Morgen werde ich nichts
sagen, kein Wort. J legt ihre Socken über die Stuhllehne und verschwindet in
der Hängematte. „Du riechst nach Heu, du Hase“, sagt sie.
„Hurra!“ brüllt M, und hinter geschlossenen Lidern sehen wir
das Feuer flackern, höher als die Bäume, höher als der Himmel. Jemand singt ein
altes Lied von Argent: „Every branch we’ll tie somebody’s worry to it, we will
burn it and dance in the smoke.“
„1970!“ kreischt I. „Da war ich minus achtzehn!“
Alles dreht sich, es ist Sommer, die Tage werden bald
kürzer, aber wir sind da, wir sind hier, und J schmeckt nach frischem Brot.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin In München, diese Folge am 26. Juni 2013.
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