Daß der Hitler nicht der Hellste war, zeigen unter anderem
seine Begründungen für die deutschen Überfälle auf andere Länder: Hätte er
beispielsweise darauf hingewiesen, daß Polen 1939 von einem homophoben Despoten
regiert wurde, der separatistische Rebellen in einem Nachbarland (der
Tschechei) unterstützte und einen Teil davon sogar völkerrechtswidrig annektiert
hatte, während er selbst fürsorglich bemüht war, dieses Nachbarland enger an
den Westen zu binden, und es in der Führung seiner Partei und anderer
Organisationen von Schwulen nur so wimmelte, – wer weiß, wer weiß. Statt dessen
faselte der deutsche Führer wirres Zeug von „Arrondierung“ und „Ernährung“ und
ließ SS-Leute in Maskerade einen deutschen Radiosender überfallen, um in
holprigem Polnisch angebliche Kriegserklärungen zu brabbeln.
So geht das, wenn man nicht medienkompetent ist. Allerdings
standen dem Hitler mit seinen paar notdürftig gleichgeschalteten Plärrpostillen
ja gar nicht die Kompetenzmedien zur Verfügung, die man heute kennt, schon gar
nicht in dieser Breite und inhaltlichen Tiefe: Die pseudo-neocon-verdoofte „Welt“
(„Harte Haltung gegen Putin“) will notfalls „den Bündnisfall ausrufen“, der
Boulevard schäumt („Putin: Schlimmer Wehrmacht-Vergleich“, „Putin: Sein
Teufels-Plan“, „Wer hält Putin auf?“), die früher mal angeblich liberale
„Süddeutsche“ („Jetzt oder nie“) greint: „Putins Ton wird immer schärfer“, der
„Spiegel“ („Ende der Feigheit“) brüllt: „Stoppt Putin jetzt!“ (wohl in der
Hoffnung auf einen ähnlichen Effekt, wie ihn einst die „National-Zeitung“ mit
der wortgleichen Hetze gegen Rudi Dutschke erreichte), die „Zeit“ („Härte
zeigen! Militärische Präsenz in Osteuropa deutlich erhöhen!“) salbadert in
typischer Diktion: „Wie weit lassen wir Putin zu weit gehen?“, der
„Tagesspiegel“ rät zum Kampf („Genug gesprochen!“), die FAZ will „Stärke
zeigen“, und im grün-mittelständischen Witzblatt „taz“ schwelgen die Kommentatoren
seit Wochen in Kriegs- und Schlachtenmasturbationen, ganz zu schweigen vom
Fernsehen, wo zum Beispiel das ZDF seine Anti-Putin-Propaganda unverdrossen mit
falschen Bildern untermauert, um einen russischen Einmarsch in der Ukraine zu
beweisen.
Zwar flog dieser Schwindel noch schneller auf als dem Hitler
sein Sender-Gleiwitz-Schabernack, aber kümmert das im nachhinein, wenn die
Botschaft erst mal in den Köpfen ist, noch jemanden? Fragt heute noch jemand
nach dem „Tonkin-Zwischenfall“, jenem gleichwertigen (wenn auch nicht ganz so
dilettantischen) Schwindel, mit dem die USA einst ihren Krieg gegen Nordvietnam
begründeten? Fragt noch jemand nach dem von den deutschen Ministern Scharping
und Fischer zum Anlaß für den völkerrechtswidrigen NATO-Krieg gegen Jugoslawien
zusammengelogenen „Hufeisenplan“? Interessiert sich noch wer dafür, daß es die „Massenvernichtungswaffen“
nie gab, die als Vorwand für den bereits vor dem 11. September 2001 geplanten,
ebenso völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak herhalten mußten? Fragt irgend
jemand noch mal nach, in wessen Auftrag am 20. Februar 2014 in Kiew
Scharfschützen aus einem von der „Opposition“ besetzten Hotel auf Demonstranten
und Polizisten auf dem Majdan schossen? Gibt es irgendwelche unabhängigen
Informationen oder Erkenntnisse darüber, wer am 17. Juli über der Ostukraine
ein malaysisches Flugzeug abgeschossen hat und warum? Wird danach in ein paar
Wochen noch jemand fragen?
Ich habe nur eine ungefähre Ahnung, was sich da abspielt.
Und ich mag nicht konsequent zu Ende denken, weshalb diverse Oligarchen in der
Ukraine, in Polen und im Baltikum in einem vielstimmigen Panikchor von einer
„massiven Invasion“ bis zu „begrenzten Nuklearschlägen“ alle möglichen Teufel
an die Wand schmieren, die angeblich der russische Problembär auf sie
losgehetzt hat oder in baldigster Bälde loszuhetzen plant. Es will mir aber so
scheinen, als wären in dem ganzen Tohuwabohu hysterischer Hochköchelei nur
extrem wenige Beteiligte bemüht, einen zumindest halbkühlen Kopf zu bewahren, und
die sitzen derzeit nicht unbedingt in Washington oder Berlin – und schon gar
nicht in Kiew, wo ein gewählter Stadtrat mit einer „Sozial-nationalen
Versammlung“ für „die Befreiung der weißen Rasse“ kämpft, die „harte Bestrafung
sexueller Perversionen und aller Kontakte zwischen Rassen, die zur Auslöschung
des weißen Mannes führen“ fordert und eine der beiden Regierungsparteien das
Land „von der jüdischen Mafia aus Moskau“ befreien möchte.
Ich habe bei Gelegenheit schon mal darauf hingewiesen, daß
der Kapitalismus kein System ist, sondern ein Prozeß, der zwangsläufig
irgendwann auf ein Gerangel um das hinausläuft, was bei James Bond so schön
grimmig-verstiegen „Weltherrschaft“ hieß und heutzutage mit dem seriöseren
Begriff „Weltmacht“ ebenso trefflich bezeichnet wird. Wer eins und eins
zusammenrechnen kann, weiß, daß dagegen weder „Sanktionen“ noch Verhandlungen
noch Militärberater noch Waffenlieferungen noch das machtrauschige Gefasel
präsidialer Pastoren noch Mahnwachen, Demos und geteilte Facebookseiten etwas
ausrichten können.
Vielleicht fragen wir uns statt dessen mal, wieso
ausgerechnet das schöne Land Bayern (dem Größenwahn des Großen Vorsitzenden
Strauß sel. zum Trotz) noch nie ernsthaft auf die Idee verfallen ist, sich zur
„Weltmacht“ aufzuschwingen. Könnte es sein, daß eine andere Art von Rausch, aus
der man sich elfeinhalb Monate lang mühselig wieder herauskatern muß, zu dieser
Zurückhaltung zumindest beigetragen hat? Wäre es vielleicht eine Idee,
sämtliche derzeitigen Konfliktparteien und ihre diversen Peripherien,
Einsatzzentralen und Trabanten nicht mit Waffen, sondern mit Fässern, Zelten
und Blaskapellen zu beliefern?
Das Grundproblem läßt sich so nicht lösen, freilich. Aber in
wie weite Ferne dieses Grundproblem rutschen kann, wenn die Birne dröhnt, der
Magen surrt und die Glieder knarren, weiß jeder, der schon mal einen seriösen
Wiesnbesuch hinter sich gebracht hat, und manchmal ist das Unmittelbare eben
näherliegend als hehre Philosophie (und ob die Welt überhaupt zu retten ist,
diskutieren wir dann ein andermal).
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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