Eines der wichtigsten Wörter, habe ich neulich erfahren, ist
„Hä“ – und zwar nicht das „Hä“, das ertönt, wenn man auf einem
ostniederbayerischen Gemeindefasching dem Vorsitzenden der örtlichen Traktorfriseurinnung
(vulgo: „Bulldogfräser“) aus Versehen die Zigarette in den Hemdkragen fallen
läßt. Dieses „Hä“ ist nur ein Warnsignal, daß keine Zeit mehr bleibt, sich ein
Taxi zu bestellen.
Das wichtigere „Hä“ zieht ein Fragezeichen nach sich – und
zwar nicht das übliche, grazil geschwungene Fragezeichen, das gerne mit Worten
wie „Wie bitte“ flirtet, sondern eines von der Anmut der ostniederbayerischen
Bulldogfräsertochter: Wenn die das brabbelnde Geplärr überhaupt nicht mehr stoppen
kann, schmeißt man ein solches „Hä?“ dazwischen und bringt den Schwall zum Kollabieren.
Drum übrigens ist das „Hä?“ eine der ersten kommunikativen
Handlungen, derer ein Kleinkind fähig ist: Weil Mama oft allein ist, plappert
sie gerne wirres Zeug vor sich hin, imaginiert dabei Babylein als
Ansprechpartner, und wenn dem das Tutsi-tutsi-bitsi-batsi-Theater zu viel wird,
platzt ihm das „Hä?“ von selber aus dem Mund, freundlich noch, aber schon in
der Gewißheit, daß den meisten Erwachsenen statt einem Hirn eine Rassel unter
der Schädeldecke gewachsen ist. Hunden geht es übrigens ähnlich, daher die
Erfindung des Bellens, das nichts anderes als ein artikulatorisch angemessenes
„Hä?“ darstellt.
Bisweilen genügt dafür ein scheinbar lautloser
Ansprechpartner. Zum Beispiel tapste ich kürzlich auf dem Weg zu einem
Rendezvous mit meiner Kaffeekanne an einer aufgeschlagenen Ausgabe der
sogenannten „Abendzeitung“ vorbei, die irgend jemand aus unerklärlichen Gründen
auf dem Küchentisch liegengelassen hatte und die mir mit wuchtigen Lettern
entgegenschrie: „Horrorcrash: Deutsche tot“.
Freilich: Daß der Crash eines Tages kommt, weiß ich, seit
ich als Teenager in „Grenzen des Wachstums“ geblättert habe – wenn’s so
weitergeht, geht es irgendwann nicht mehr weiter, sondern wumms. Aber so
plötzlich? und mit einer solchen regionalen Trennschärfe?
Spontan wollte ich eine Rundmail nach Afrika schicken: Die
Deutschen sind weg, Kumpels, ihr könnt kommen! Andererseits ist Armutsmigration
– das wissen wir aus den Zeiten der Völkerwanderung, als große Teile der ostniederbayerischen
CSU und anderer Vertriebenenverbände hierher geschwappt sind – eine aufwendige
Sache; zudem wird aufgrund einer rätselhaften Erd- und „Bild“-Strahlung jeder
zweite, der sich auf deutschen Boden begibt, über kurz oder lang zum Nazi. Und
dann ist es ja so, daß ohne deutsche Entwicklungshilfe in Form von Pipelines,
Tötungsgerät und gefrorenem Hühnerklein Afrika in absehbarer Zeit bewohnbarer
sein könnte als unsere vergifteten Betonwüsten.
Und wer glaubt schon der „Abendzeitung“? Tatsächlich stellte
ich bei einem Rundgang durch Schwabing fest, daß die Deutschen alles andere als
weg waren, sondern nach wie vor emsig damit beschäftigt, den Crash, der
offenbar doch noch nicht eingetreten war, herbeizuführen. Und zwar im gleichen
Habitus wie gewohnt: graugesichtig, mißmutig, eingepanzert in ihre
Blechrüstungen und stets mit einem bösen Wort auf den Lippen für den, der
seinen Geist und Körper dem gesamtkollektiven Prozeß der Wachstumserzeugung
entzieht.
Nämlich konnte ich mich einer gewissen Erleichterung nicht
erwehren, bestellte in einem Straßencafé ein Bier, trank und rauchte fröhlich
lächelnd – und wurde überschwemmt mit bösen Blicken, weil ich ostentativ nicht
tat, was man zum Zwecke der Wachstumserzeugung in erster Linie tun muß: sich um
jeden Preis gesund, fit und tauglich erhalten, bis man eines Tages (idealerweise
mit Erreichung des Rentenalters) umkippt und entsorgt wird – in den Worten des
großen Liederdichters C. Theussl: „gesund gestorben, perfekt verreckt“.
Nein, ich werde mich nicht schon wieder über das Rauchverbot
aufregen oder darauf hinweisen, daß es die sinnloseste Dummheit der Welt ist,
ein langweiliges Leben so lang wie möglich auszudehnen – erst fünfzig Jahre zu
warten, daß es besser wird, und dann fünfzig Jahre langsam zu vergessen, daß es
nicht besser wird. Aber eines frage ich mich halt schon: Am gesündesten (und am
längsten gesund) sind die Menschen nachweislich dann, wenn sie glücklich sind.
Und am glücklichsten sind die Menschen nachweislich dann, wenn die „sozialen
Unterschiede“ so gering wie möglich sind – das heißt: wenn möglichst alle
gleich viel Geld haben, Punkt. Warum rackert sich dann seit vierzig Jahren eine
rot-grün-schwarz-und-vor-allem-gelbe Regierung nach der anderen ab, um mit Gewalt
dafür zu sorgen, daß die sozialen Unterschiede immer größer und die Menschen
somit immer unglücklicher werden?
Steckt dahinter die Fitneßindustrie, die ihren Krempel
verkaufen will? oder einer der vielen grundsätzlichen Denkfehler, die man den
Menschen leider immer wieder bescheinigen muß? „Gut geht es mir nur, wenn es
mir schlecht geht! und schlecht geht es mir nur, wenn es den anderen noch viel
schlechter geht!“? So geht es dann allen schlecht: den Armen, weil sie arm
sind, und den Reichen, weil es ihnen Hirn und Magen zersetzt vor Angst und
Gier. Bis zum Crash.
Da sollten sie lieber rauchen. Denn der Raucher hat, weil
ihm jahrzehntelanges dementes Siechtum in vielen Fällen erspart bleibt, eine
größere Chance, gesund zu sterben – früher zwar (obwohl unter den ältesten
Menschen aller Zeiten erstaunlich viele Qualmer waren und sind); aber was ist
schon Zeit? Geld, eben. Leider gilt die Gleichung umgekehrt nicht: Geld läßt
sich nicht gegen neue Zeit eintauschen. Was weg ist, ist weg. Und das letzte
„Hä?“ (beim Eintreten dieser Erkenntnis) hört niemand mehr.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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