Lügen sind widerlich. Das merkt man, wenn man sich mal ein
paar Monate der Berichterstattung über die sogenannte „Politik“ entzieht und
dann wieder kurz hineinschaut: ein Blick in so eine Phrasenvisage kann einem
einen halben Frühling versalzen, und wenn man sich Gedanken macht über das, was
da an vorgefertigtem Sprechmüll herausverklappt wird, wundert es einen nicht
mehr, daß neunzig Prozent aller auf diesem Planeten verschickten
Mailnachrichten den Erwerb von Viagra betreffen.
Es kann auch passieren, daß man an Menschen gerät, die den
ganzen Tag und mit jedem einzelnen Satz lügen. Das ist enervierend: ihnen dabei
zuzuschauen und zu -hören, wie sie sich mit jedem weiteren Satz in neue Lügen
verstricken, zurückweichen, rechtfertigen, Ausflüchte und Erklärungen
zusammenschrauben, bis sie von einem Gestrüpp von Bullshit von derartiger
moralischer Häßlichkeit umgeben sind, daß der einzige Fluchtweg in ein
Landschaftsgemälde von Caspar David Friedrich hineinführt. Oder notfalls in tagelanges
Schweigen.
Große Lügen können einem das Hirn zerfoltern und den Magen
zerfressen. Da hilft es wenig, zu wissen, daß sie dem Lügner selbst das Hirn
längst zerfoltert, die Haut gegilbt und das Leben zur Laufbahn einer
Flipperkugel gemacht haben, die wähnt, sie entscheide selbst, welchen Bumper
sie als nächstes küßt. Kleine Lügen immerhin kann man mit einem Zähneknirschen
löschen, ohne in Gefahr zu geraten, sich auf das Spiel einzulassen und aus
Notwehr oder gerechtfertigter Bosheit zurückzulügen.
Zum (abseitigen) Beispiel begegnen mir in meinem Nebenberuf
als gastronomischer Praktikant immer mal wieder Figuren, die sich zum Zweck des
Austauschs von Lügen in eine Schankwirtschaft begeben, ein Spezigetränk
konsumieren und einem zur Bezahlung des fälligen Verzehrentgelts (3,10 Euro)
einen Fünferschein auf den Tresen legen und erwartungsvoll glotzen. Fragt man
sie, ob sie zufällig ein Zehnerl dabeihaben, entgegnen sie ohne mit der Wimper
zu zucken: Nein, das hätten sie nicht, und dabei hört man ihren Geldbeutel
rasseln wie eine Kettenhemdfabrik beim Erdbeben. Also legt man ihnen einen
Zwickel hin, knirscht remedierend mit den Zähnen und sagt, der Rest sei
Trinkgeld. Was übrigens nicht gelogen ist, schließlich wurde das Zehnerl
zweifellos vertrunken.
Die ansonsten der Verbreitung nützlicher Informationen
gänzlich unverdächtige „Apotheken-Umschau“, ein Relikt aus der Steinzeit der
Bundesrepublik Deutschland, als man morgens nach dem Frühsport den Gartenzwerg
polierte, hat in dieser Hinsicht unlängst eine bahnbrechende Erkenntnis
verkündet: Nämlich habe die (zum Beleg der unverbrüchlichen Wahrheit noch der
abstrusesten These gerne herbeizitierte) Harvard-Universität in einer „Studie“
herausgefunden, daß der Normalmensch morgens grundehrlich erwacht, sich
aufrichtig aufrichtet und mit dem Lügen erst im Laufe des Tages beginnt, bis es
endlich nach Einbruch der Dunkelheit beim Feierabendbier zu einem Delirium der
Schwindelei eskaliert, das gerne mit einer Notlüge (auf Fragen der Kategorie
„Wo kommst du jetzt her?“) endet.
Als Grund für dieses tägliche Absinken in den Sumpf
moralischer Wurmartigkeit postulieren die verantwortlichen Forscher: Um Lügen
zu vermeiden, brauche es Selbstkontrolle, und die ist höchst anstrengend. Weil
der Mensch nun mal eine faule Sau ist, hat er irgendwann keine Lust mehr, den
natürlicherweise aus ihm heraus erumpierenden Lavastrom von verlogenen Salm und
Seim zu unterbinden.
Man möchte meinen, so sei zu erklären, daß in den
Redaktionen einstmals als aufrichtig zumindest geltender Zeitungen heutzutage
bis in die späte Nacht hinein in die Tastaturen gedroschen wird: Vormittags
könnte das, was in einem üblichen „Wirtschafts“-Teil drinsteht, niemand absondern,
ohne den dringenden Wunsch zu verspüren, den Nachmittag in einem Beichtstuhl zu
verbringen.
Ebenfalls erklärbar wird auf diese Weise, was sich in dem
Bereich abspielt, den man heutzutage für „zwischenmenschlich“ hält: Was abends
damit beginnt, daß man sich mit treuherzigen Blicken gegenseitig in den Augen
herumstochert und sich einen Backenmuskelkater zusammengrinst bei dem Versuch,
eine Packung „Streicheleinheiten“ zu erwerben, endet gerne morgens mit der
herausdiskutierten Erkenntnis, eine weitere „Arbeit“ an der „Beziehung“ sei
nicht mehr zielführend und profitabel, der Austausch zweckstrategischer
Körperberührungen daher umgehend einzustellen und auf ein neues Objekt zu
richten, das man unter zukunftsökonomischen Ertragsgesichtspunkten aus dem verfügbaren
Angebot wählt und nach eingehender Prüfung in den Warenkorb legt.
Vielleicht liegt hier eine tiefere Erkenntnis vergraben:
Möglicherweise ist das, was der heutige Mensch zwischen Schlafstatt,
Karrierefabrik und Freizeitpark, zwischen Konsumartikelabgabestelle, Wahlkabine
und virtuellem Gebimse, zwischen Autobahn, Sexualmarkt und Talkshow und den
Kultstätten diverser Religionen von „Marktwirtschaft“ bis Kundalini so
zusammenlebt, insgesamt und sonders so falsch, daß aus seinem Hirn nichts
anderes mehr herauskommen kann als Lügen – so wie aus einem Blumentopf, in den
man einen Distelsamen legt, niemals ein Pfirsichbaum herauswachsen wird?
Aber ach: Da sehe ich den Herrn Adorno winken, und ehe er
mir mit seinem Zaunpfahl wegen Disteldiskrimierung und des Exports von Eulen
nach Athen zu Leibe rückt, werde ich nun lieber in ein
Caspar-David-Friedrich-Gemälde entfliehen.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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