Der Mensch ist so versessen auf Sensation und Neuklimbim,
daß ihm bisweilen aus dem Hirn rutscht, wie wunderbar wundersam und
glückbringend die und ausschließlich die Dinge sind, die immer (fast) gleich
wiederkehren (und die einem im täglichen Geplümpel der
Gesellschaftsdampfmaschine deswegen ebenfalls aus dem Hirn flutschen).
Oder so: Wenn der Kirschbaum blüht und man mit dem
Lieblingsmenschen unter dem leuchtend weiß beschäumten und beflockten, vom
Vogelvolk mit Tirili umwobenen Geäst im Gras liegt, tut, was Liebende seit
Jahrmillionen tun, und den Tag in seiner unendlich farbigen Tiefe müßig wabern
läßt, – dann ist es relativ … sagen wir mal: staubkörnig (von der Bedeutung her
bemessen), wenn zum Beispiel ein unzufriedener Leser aus der Betriebsmaschine
heraus schreit, es möge sich dieser weltfremde Wolkenkolumnenkritzler doch
endlich mal von seinem elfenbeinernen Hochplateau herunter in den
Wurstsuppenkessel der Krisen, Reformen und Skandale begeben, um zu berichten,
was „wirklich“ los sei, und es möglichst prangernd zu kommentieren, damit „es“
besser oder irgendwas werde.
Ja nun, freilich: Es ist haarsträubend schrecklich,
grauenvoll und zum Heulen, daß zum Beispiel tausende Menschen im Mittelmeer
ersaufen müssen, weil sie verzweifelt versuchen, dem Elend, das der „Westen“
dort über Jahrzehnte gezielt herbeigeführt hat, um seine Oberstschicht von
Fettmaden weiter mästen zu können, ohne die eigene Neunzigprozentunterschicht
so sehr „reformieren“ zu müssen, daß der irgendwann doch mal der Kragen platzt
und sie die angeblich allmächtige Clique von wahnsinnigen Mutanten samt ihren
Haßpredigern und parlamentösen Zwecksklaven in selbiges Mittelmeer
hineinschmeißt.
Aber die Frage, was dagegen zu tun sei, ist nur scheinbar
zynisch. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die fürchterlichen Dinge, die
sich da drunten zwischen Afrika und Europa „abspielen“, keine Naturkatastrophe
sind, mit deren Bewältigung die zuständigen Exekutoren überfordert wären.
Sondern dieses Massensterben (das man wahrscheinlich juristisch korrekt nicht
unbedingt als Mord deklarieren kann, obwohl die „niederen Motive“ so deutlich
zutageliegen wie die Absichten eines Fußballleistungsträgers, der zum Elfmeter
antritt) ist von der (wir erinnern uns: mit einem sogenannten
Friedensnobelpreis bekränzten) „Europäischen Union“ bewußt, systematisch und
planvoll herbeigeführt. Es dient einem Zweck, und die Alternativlosigkeit des
Gesamtvorgangs ist so zwingend, daß es vollkommen egal ist, welche sogenannte
Regierung momentan mit der Verwaltung der Todesmaschine betraut ist – bislang
sind noch in jeder noch so hoffnungsvollen Partei, sobald sie auch nur in die
entfernteste Nähe einer „Regierungsverantwortung“ kam, sämtliche halbwegs
vernünftigen Menschen umgehend durch die üblichen Pappkameraden der
„transatlantischen“, „wirtschaftsnahen“ und sonstwie euphemistisch verbrämten
Mafiabanden ersetzt worden.
Das heißt nichts anderes als: Durch Wählen, Protestieren,
Gegenreden, Argumentieren ist daran nichts zu ändern, aus dem einfachen Grund,
daß man einem Kriminellen, der weiß, daß er kriminell handelt, nicht zu
erklären braucht, daß er kriminell handelt. Der weiß das, und wenn er sich auf
Debatten einläßt, dann nur zu dem Zweck, daß die Sauereien, während sie
beplappert werden, ungestört weiterlaufen können.
Die Frage der Sinnhaftigkeit eines gewalttätigen Vorgehens
ist ebenfalls längst geklärt, seit die Projektgruppe Stadtguerilla in den
sechziger und siebziger Jahren ansatzweise versuchte, solcherart Besserung
herbeizuzwingen. Oder kann sich irgendwer erinnern, daß beispielsweise die
Bundesanwaltschaft oder der Bundesverband der deutschen Arbeitgeber durch die
Beseitigung ihrer damaligen Führungsgestalten in irgendeiner Weise auf lange
Sicht menschenfreundlicher geworden wäre?
Freilich gelang es damals deutschen Gewerkschaften, den
angesichts des dräuenden RAF-Terrors ausnahmsweise im eigenen Angstschweiß
schlotternden Bonzen einigermaßen nennenswerte (und historisch einmalige)
Lohnerhöhungen abzuschwätzen. Aber sind ein paar (um im Kontext zu bleiben)
Mark mehr zum Verkonsumieren es wert, in den sowieso alles überschwemmenden
Tsunami von Haß und Aggression noch eine zusätzliche Prise Waffengewalt
hineinzuraspeln? (rhetorische Frage!)
Oder wäre es nicht vernünftiger – nein: einzig vernünftig,
dem grausligen Lebensmodell, das aus derartigen Vorgängen ebenso
hervorschimmert wie aus ihrem komplementären Antigerödel, etwas
entgegenzusetzen, was eben nicht entgegen, sondern ganz (wo)anders und damit
vollkommen frei von der verderblichen Logik ist, die zu all dem geführt hat und
dafür sorgt, daß es ewig weitergeht und im Normalfall schlimmer wird?
Der Vorschlag mag, wie die Frage, zynisch erscheinen. Aber
er ist der einzige, der in Jahrtausenden menschlicher Qual- und
Leidensgeschichte noch nie einem praktischen Umsetzungsversuch unterzogen
worden ist, und er ist der einzige, bei dem man weder Mehrheiten noch
Verwaltungen, weder Propaganda noch Argumente noch Organisationen noch Parteien,
weder Glauben noch Skepsis noch Überzeugungen, weder Gerede noch Gebrüll noch
Lügen noch Erläuterungen, weder Geld noch Arbeit noch Massen noch überhaupt
irgendwas braucht.
Fügen wir uns ins immer Wiederkehrende, legen wir uns mit
dem Lieblingsmenschen unter dem Kirschbaum ins Gras und tun wir, was Liebende
seit Jahrmillionen tun. Weiß jemand was besseres?
Und ja: „Wenn das alle machen?“ Ja, was dann?
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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